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Mazdak Shafieian: Thanatos' habitus

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay

Wir stellten zu Beginn 2017 einen Auszug von Svein Jarvolls "Eine Australienreise" vor. Die Mütze #16 brachte aus Teil 1 dann das erste Kapitel, es wurde von Jonis Hartmann für fixpoetry besprochen. Um die Bedeutung des von Matthias Friedrich übersetzten Romans hervorzuheben, hier ein Essay zu Jarvoll (Foto li.) und der "Australienreise" von Mazdak Shafieian (Foto re.).

Mazdak Shafieian, geboren 1980 im Iran, lebt in Oslo. Er hat an der Akademie für Schreibkunst in Hordaland und an der Universität in Bergen Literaturwissenschaft studiert. 2006 debütierte er mit dem Gedichtband "Dyregravsmørke". Er war zusätzlich Mitherausgeber der Schriftenserie "Au petit garage" und für die Zeitschrift "Teologi". Er ist Redaktionsmitglied bei "Vagant". Letzte Veröffentlichung: "Det urgamle materialet", Essays (2015).

Mazdak Shafieian: Thanatos' habitus. En mindre fotnote til Svein Jarvolls En Australiareise. In: Svein Jarvoll: En Australiareise. Oslo: Gyldendal 2008, S. 5-14. Übersetzt von Matthias Friedrich.


THANATOS‘ HABITUS

Eine kleinere Fußnote zu Svein Jarvolls
Eine Australienreise

von Mazdak Shafieian


(übersetzt von Matthias Friedrich)



Eingesargte Gedanken um mich herum, in Mumientruhen,
einbalsamiert in Wortspezerei.

– James Joyce, Ulysses, Kapitel 9.

Der Stoff jeden Dinges ist Fäulnis: Wasser, Staub, Knochen, Schmutz. Die Marmorbrüche sind Verhärtungen der Erde, Gold, Silber ihr Bodenschatz, unsere Kleider – Tierhaare, Purpur, Blut und alles übrige ist von der Art. Selbst der Lebensgeist ist von solcher Art, denn auch er ist steter Umwandlung unterworfen.
– Markus Aurelius, Selbstbetrachtungen, neuntes Buch


Durch Svein Jarvolls ganzes Werk läuft ein roter Faden – oder „eine weniger abstrakte Wissenschaft“, die alles überschattet, die sich aber nicht überschatten lässt: die Thanatologie. Eine unmittelbare Definition des Begriffs könnte „Todeslehre“ oder Lehre über den Tod lauten – in Thanatos‘ Namen getauft, dem griechischen Gott des Todes, dem Sohn der Nyx, der flüchtigen Göttin der Nacht. Und obwohl das Ganze bei Jarvoll schon mit dem Debütband Thanatos (1984) beginnt, einem „polyphonen Gedicht über den Tod“, so gibt es im ganzen Werk wohl kaum einen Text, der die Thanatologie so dicht, kompakt und polyphon behandelt wie Eine Australienreise (1988) – ein ungewöhnliches Romanwerk, das jegliche kategorische Definition des Romans als Gattung in Frage stellt: „‘Die Thanatologie‘, sagte ich, ‚muss als eine der weniger exakten Wissenschaften bezeichnet werden können, die besser durch das abweichende Verhalten ihrer Mitwirkenden beschrieben wird als durch die Zuverlässigkeit ihrer Kompendien.“
¹ Und hier muss gesagt werden: Wenn es ein längeres Lehrgedicht im Geist der Thanatologie gibt, mit dem dieses Romanwerk einen Dialog unterhält, so ist das Dantes – in Jarvolls Wortwahl – Heilige Komödie: ein längerer Aufenthalt im und eine Reise durch das Totenreich – dessen große Untiefen und dunklere Landschaften. Aber wo sich der Tod bei dem Florentiner in Gestalt öder Kreise und dunkler Eisflächen zeigt, überschattet er bei Jarvoll nahezu alles – eine Art Kolorierung: „Das Leben ist eine unbefestigte Stadt. Spiel den Film im Schnelldurchlauf ab, dann siehst du’s. Ganze U-Bahnwagenreihen gerappelt voll mit Sterbenden und Toten.“²  

*


In Svein Jarvolls dichtgewebtem Romanwerk Eine Australienreise geht es um Mark Stollers Reisen durch Europa und Australien – doch scheint das Ganze zuallererst auf dunklen Spekulationen über das zu gründen, was, einfach formuliert, als das Denken und dessen längere Geschichte charakterisiert werden kann. Die Reise beginnt in einem leeren Haus irgendwo in der Nähe der Provinz València – voller Echos und dunklen Schatten, die von Raum zu Raum wandern. Hier erhält er Besuch von dem belgischen Alchemisten Samuel Grambaro Flimpegg, der zu dieser Zeit zusammen mit Mark Stoller Stammgast in einem Etablissement im Dorf Alfaz del Pi ist, ein Ort, an dem die beiden sitzen und sich an der Deutung von Dialogen „à la sfumato“ erfreuen – es ist schwierig, an dieser Stelle alle Elemente aufzuführen, die darin eingehen. Aber eines ist doch klar: Eine Position zu diesen Gesprächen einnehmen zu wollen, erfordert ein gewisses Maß an Bildung. Denn die stoffliche Vielfalt, die in der Syntax aufgerufen wird, ist, einfach formuliert, schwindelerregend und nicht zu überblicken: rhetorische Figuren und Inversionen, Worte – Anagramme, und das, was Stoller als „rein verbale Prozesse“ bezeichnet, alles dies erweist sich als sprachliches Muster – ein Bauwerk, „das für Uneingeweihte undurchdringlich sein konnte“
³.  Für Svein Jarvolls Gedankengänge ist es allzu typisch, beständig nach innen und nach außen zu führen, aber die Außenstehenden nicht teilhaben zu lassen: „Ich denke eher an das, was in der Architektur ‚Enfilade‘, in der Logik ‚serielle Paradoxa‘ genannt wird, und was in seiner einfachsten visuellen Gestalt übrigens auf Cornflakes-Packungen betrachtet werden kann.“ Eine Enfilade, wie das architektonische Wörterbuch sie definiert: mehrere aufeinanderfolgende Räume in der gleichen Achse, sodass sich auf der ganzen Länge das Hauses Perspektiven eröffnen und das Bauwerk unendlich erscheint.

*


Mise-en-abyme? Svein Jarvolls Faszination für den Barock ist keinesfalls zu leugnen: monumentale Sprache – wenn das kein Ausdruck des Prunks der Syntax, der musica des Barocks ist, und nicht zuletzt der Melancholie, die anwesend ist im eigenen Zeichen des Todes – all das gibt dem Roman einen sprachlichen Überschwang, eine überschwängliche Sprache, die uns, was den ästhetischen Paradigmenwechsel und das künstlerische Denken anbelangt, sofort in das siebzehnte Jahrhundert führt. Und interessant ist es, die verwickelte Struktur in der Australienreise mit dem Gedanken an das Mittelalter zu lesen, dessen Kind der Barock war, und seinem Verständnis der Labyrinth-Struktur – etwas, über das Svein Jarvoll selbst wiederholt geschrieben hat, auch in einem Essay über den barocken Robert Burton: „Vielleicht könnte man The Anatomy of Melancholy mit einem Labyrinth vergleichen, und zwar so, wie das Mittelalter das Paradigma des Labyrinths verstand, nämlich als geplantes Chaos in monumentaler Form, dessen Aufgabe darin bestand, Gegensatzpaare vom Typ Ordnung/Chaos, Gefangenschaft/Befreiung, Linearität/ Zirkularität, Klarheit/Komplexität, Stabilität/Instabilität miteinander zu versöhnen.“

    Dass diese Doppelheit von Ordnung und Chaos – das polare Verhältnis zwischen Leben und Tod ein Resultat des polaren, mittelalterlichen Denkens ist, ist wohl eine nähere Überlegung wert, aber bei einer Lektüre der Australienreise an den Barock zu denken, erscheint sofort wenig plausibel: der Gebrauch von Fremdwörtern – lateinischen wie griechischen, und der starke Einschlag rhetorischer Ornamente, Symmetrien und Palindrome; all dies umgibt das Romanwerk mit einer Art Habitus, s. kirchenhistorisches Lateinlexikon: Ordenstracht, deren Form und Farbe sich je nach Oden unterscheidet. Und nicht zuletzt: Es gibt nicht wenige Passagen in der Australienreise, die polare Ausdrücke und das Wesen der Gegensätze, sprachbezogene oder existenzielle Dichotomien behandeln. In einem komplexen, nahezu verdrehten Gespräch über Aristoteles, die Sprache und die Metaphysik diskutierten Mark Stoller und der Alchemist Flimpegg über den spanisch-arabischen Dichterphilosophen Ibn Hazm und seine Gedanken über Gegensätze und Dichotomien: „Wenn zwei Dinge die Außengrenzen der Gegensätze erreichen und sich so weit voneinander wie möglich befinden, beginnen sie wieder, einander zu ähneln. Kontradiktorische Gegensätze existieren nicht.“

    Gelehrt? Ja, aber nicht ohne Humor. Und bei Jarvoll ist Humor oft körperlicher Humor – bevorzugt mit Sexualität, Erotik und Details verbunden, s. hier:

Kannst du, Sabinius, dich an deine Jugend erinnern,
als dein Schwanz fast beständig stand. Wenn du lagst,
stand er. Wenn du saßest, stand er. Wenn du standst, stand er,
und immer in einem bestimmten Winkel, den selbst dein Lydius
jetzt nicht mehr mit Mund oder Fingern herzaubern kann.
Jetzt, Sabinius, ähnelt er einem bleichen Wurm:
Lehnst du dich nach links,
fällt er nach rechts.
Lehnst du dich dagegen nach rechts,
fällt er nach rechts.
So lange hat dein Nabel kein Purpur gesehen.


*


Die Reise selbst als Allegorie der Erfahrung und der Bewegung und alles dessen, was sich der Unbeweglichkeit und dem Stillsein entgegensetzt, kennt man schön aus der Bibel und dem ersten Buch Mose, aber auch aus der Antike und den homerischen Legenden: Odysseus‘ endlose Reise aus Troja und seine unerwartete Rückkehr zu Penelope. Doch obwohl Jarvolls Besessenheit von der Antike und dem altertümlichen Griechenland unbestreitbar ist, so ist es bei einer Lektüre der Australienreise naheliegender, an biblische Fabeln zu denken. Denn Mark Stollers Reise ist keine Heimreise. Er reist nicht zu, sondern fort – fort aus dem Jetzt, dem Da, dem Hier: „Und der HERR sprach zu Abraham: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will.“

    Die Reisen in der Australienreise scheinen somit hebräischer Art zu sein: Die Allegorie wird buchstäblich genommen: „reisen“, aufbrechen, losziehen. Und hier ist die Reise nicht nur als physische Bewegung gemeint, sondern auch als innerer Transport – Fortzug. Unsere Situation, so formulierten es üblicherweise die Kirchenväter, ähnelt derjenigen des Volkes Israel in der Wüste Sinai, wir wohnen nicht im Haus, sondern im Zelt, denn im Geiste sind wir immer unterwegs. Oder mit Jarvoll: „der Marschgeist, das Niemals-Stehenbleiben, Immer-Weitermarschieren.“


Europa besteht nicht nur aus Landschaft, sondern auch aus Denken, Geschichte, Büchern und Bibliotheken – ein Kontinent mit nomadischen Fixpunkten, von Zitat zu Zitat, verführt von der laxen Leidenschaft der Texte für die Tradition. „Ich war außerstande, persönliche oder persönlichere Botschaften in die Seiten des Kruges zu kratzen, ich gab mich zufrieden mit Zitaten (ich war gefüllt mit Zitaten)“, sagt der Mann im Krug, irgendwo in „Der Krug“, aus Die unvollständige Erzählung über Henry Glass und andere Geschichten (1990). Und typisch ist für Jarvolls Bücher, von einer trockenen Gelehrsamkeit und von Zitaten überwältigt zu sein (etwas, das der Australienreise eine nahezu enzyklopädische Ausprägung verleiht), doch auch von Kommentaren und Aufzeichnungen – oft „in anekdotischer Form und mit einer gewissen Selbstironie“. Denn in Jarvolls Welt ist die Literatur kein Archivmaterial, gleichwohl jedoch eine Enklave in der geheimnisvollen Provinz der Geschichte. „Ich bin belesen und müde“, sagt Mark Stoller irgendwo zu Buonamico Buffalmacco, dem Maler des Trionfo della Morte, gleich nachdem er eine Passage aus der Heiligen Komödie kommentiert hat.
    Neben ihrer Verortung in der äußeren Landschaft haben der Transport der Gedanken und die weitumspannenden Reisen noch einen inneren Charakter, d. h. eine doppelte Anwesenheit, wie Jarvoll in den Melbourne-Vorlesungen (1995) schreibt, einer ungewöhnlichen Sammlung disformaler Essays: „beziehungsweise in seinem äußeren und inneren Raum, von stillem Schneefall und der viel zu vielsagenden Korrespondenz aus irgendeinem Krähwinkel in einer weit abgelegenen Ödnis förderten in ihm diesen seelischen Zwischenzustand, der der Ursprung mancher Reise ist, auch solcher Reisen, die für Außenstehende etwas Frivoles haben.“
¹⁰

*


Dennoch ist die äußere Landschaft, die sichtbare Fassade der Welt, ebenfalls von großer Bedeutung: Farben, Geräusche, Düfte und Ornamente, „Berührungen, die uns in Kontakt mit der Umwelt bringen“.
¹¹ Seine Begeisterung für Details, sowohl in der Natur als auch in Alphabeten – Zeichen und Leseordnungen, all das verleiht dem Werk eine Lebendigkeit – ein Glück, das dem ganzen Romanwerk eine farbenreiche Kulisse beigibt: „Er war glücklich, bekam viel zu sehen, war unabhängig, fuhr Sonne und Sternen nach. Düfte, Geräusche, Bilder, Wärme, Kälte.“¹²
    Zu augenscheinlich sind in Svein Jarvolls Syntax das Sinnliche, das Dingliche – überall, aber auch in der Australienreise: Das äußere Auftreten der Welt – plastische Gestalten, die sich im Raum zeigen und uns in Kontakt mit der Umwelt bringen. Die jarvollschen Figuren denken in Büchern, aber hören mit den Ohren und schauen mit großen Augen. Selbst die Träume in diesem Romanwerk werden farbenreich und visuell dargestellt, wenn sie auch geprägt sind vom Tod, der sich in der Vergänglichkeit: d. h. der Zeit des Dinglichen zeigt. Die Vielfalt der Welt ist nicht zu übersehen, aber das Bewusstsein über den Tod ist immer zur Stelle: „Das Leben beginnt und endet mit einem Schrei. Dunkel löst Dunkel ab.“
¹³ Im antiken Ägypten gab es die Tradition, ein Skelett durch große Feste und Zeremonien zu führen, um ständig an den Tod und den dunkleren Abgrund des Lebens zu erinnern.

*


Bei einer Lektüre der Australienreise ist es auch interessant, an den modernen Vorläufer des Romans zu denken, nämlich an Ulysses – Joyces meisterhafte Erzählung über den längeren Donnerstag in Dublin. Nicht nur, was die Syntax, das Sprachmaterial angeht, oder den antiken Hallraum, die Verweise auf ältere Legenden, sondern auch, was die Thanatologie betrifft, „durch Tod, durch Abwesenheit, durch Sittenwandel in die Unfassbarkeit entschwunden“.
¹⁴ Der ganze lange Donnerstag – der 16. Juni 1904 – wird von einer mysteriösen Gestalt geprägt, die ständig an den verschiedensten Orten auftaucht, ohne sich erkenntlich zu zeigen: dem Mann im braunen Macintosh. Mehrfach taucht er auf und zeigt sich Leopold Bloom – aber niemals ist seine Anwesenheit so unbehaglich und rätselhaft wie bei der Beerdigung von Paddy Dignam: „Aber wer ist denn bloß der lange Lulatsch in dem Macintosh da drüben?“¹⁵ Das weiß niemand. Aber er ist da: „Mr. Bloom stand weit hinten, den Hut in der Hand, und zählte die baren Häupter. Zwölf. Ich bin die dreizehn. Nein. Der Kerl da im Macintosh ist’s.“¹⁶ Dreizehn. Die Todeszahl. Und der Mann im braunen Regenmantel: Thanatos? Er, der im Zug auftaucht, in dem Abteil, wo Mark Stoller und dessen Geliebte Lone sitzen, auf dem Weg nach Italien, und über Die goldene Ödnis spricht? „Ich erwachte halb und hörte eine Stimme sagen: Die goldene Ödnis, aber bevor ich etwas auf dem Knie spürte und die Augen öffnete, wusste ich nicht, ob das ein schlummerndes Zeichen in der inneren Reise war, und ich sah den Mann gleich über mir sich nach vorne beugen und hörte ihn sagen: Die goldene Ödnis.“¹⁷
    Die Personifizierung des Todes? Nicht ganz, aber eines ist sofort klar: Es gibt tote, wenn auch keine unsterblichen, Gestalten in Svein Jarvolls horizontalem Romanwerk, im träumenden oder im wachen Zustand: „Ihre Zeit wird bald kommen, also weshalb sie nicht den Schlaf der Unschuldigen schlafen lassen?“
¹⁸  
    Die Dialoge, die in dieser Passage ausgetauscht werden, gehören unzweifelhaft zu dem Maßlosesten, was man in diesem Romanwerk finden kann, aber auffällig ist, in wie großem Ausmaß diese Sätze das sechste Kapitel des Ulysses streifen, den „Hades“ – die Gespräche über die unterschiedlichen Fassaden des Todes in der knarzenden Kutsche auf dem Weg zu Dignams Begräbnis: „Sein Vater starb; seine Schwester starb; seine Mutter starb; er war alleine. In den nächsten zehn Jahren schlief er; dann reiste er nach Italien, wo nichts geschah; danach reiste er nach Ägypten, wo nichts geschah. Er starb; und niemand bemerkte es, außer ein paar Totengräbern.“
¹⁹  

*


Mit besonderem Gewicht auf der zirkulären Orthographie des norwegischen Wortes død (Tod) scheint selbst die Komposition des Romans auf der Thanatologie zu basieren: Das Buch besteht aus zwei Teilen – es ist in beide Richtungen lesbar, und dennoch lässt sich die gleiche Bedeutung herstellen: „Das norwegische Wort død ist eines der wenigen natürlichen Palindrome in allen Sprachen.“
²⁰ Der Tod ist kein Ausgang, auch kein Eingang, sondern ein Übergang von einem Dasein ins andere – eine Schwelle zwischen einem Ein- und Ausgang, oder umgekehrt, wenn auch etwas dunkel und zweideutig, zum Teil etwas verworren: ein horizontales Muster, das eine Art der Flachheit bezeichnet, und zwar im Gegensatz zu Dantes vertikaler Hierarchie – der Reise vom Sündenfall bis zu Christi Himmelfahrt – paradiso. Ich war immer erstaunt, schreibt Jarvoll selbst irgendwo in Wankelmut Wankelmut (2004), über die (mindestens) doppelte Bedeutung des norwegischen Wortes ‚dør‘: „dass es als Verb den Übergang zwischen unseren beiden Hauptzuständen, Leben und Tod, bezeichnet, und dass es als Substantiv den Gegenstand im Übergang von einem Raum in einen anderen bezeichnet.“²¹  
    Im zweiten Teil des Romans, der 64 Seiten umfasst und von hinten gelesen wird, ist Mark Stoller abwesend: Der Roman erzählt von einer neuen Legende – einer neuen Landschaft und neuen Charakteren. Die Reise durch moderne Städte wird von einer Bergwanderung abgelöst, und der metaphorische Einschlag ist von einer ganz anderen Art: Hier haben wir, was die Reduktion der sprachlichen Schwierigkeit und intellektuelle Konnotationen betrifft, eine andere Form der Rhetorik und syntaktischen Schwere. Die Erzählung über Emmi und ihren kürzeren Besuch beim Vater mitten in den Bergen rund um den Karoomba erweist sich als eine weitere abgeschlossene Erzählung und bildet zusammen mit dem ersten Teil des Romans einen Leerraum, der sich beständig füllen und wieder entleeren lässt: „Erzähl mir mehr, Emmi, mehr. Viel. Es gibt so viel, was ich nicht verstehe. Viele. Ich nicht verstand, nicht verstehen. Dort. Hier.“
²²

*


Es gibt einen Text – ein kleineres Gedicht des griechischen Dichters und Kriegers Archilochos, Sohn des Telesikles von Paros, das in Jarvolls Werk immer wiederkehrt: einmal als freie Übersetzung in Thanatos, einmal in der Australienreise, als direktes Zitat, und ein drittes Mal in Fragmente – Nachdichtungen des griechischen Kriegers (1993):


ich knete den Brotteig
mit dem Speer
ich trenne den Weinsack auf
mit dem Speer
ich trinke
an den Speer gelehnt
²³


Diese Speerverse des Archilochos (und von ihnen gibt es mehrere) sind nicht nur ein Zeugnis von Jarvolls Faszination für das antike Griechenland, sondern sie sagen auch etwas über seine warmblütige Bejahung der Lebensvielfalt aus: In der Australienreise gibt es eine ungewöhnliche Freude am Begehren, obwohl auch diese, mit dem Gedanken an ein Dante-Zitat, das das ganze Werk einleitet, ein Ergebnis der Thanatologie zu sein scheint – das Bewusstsein über den Tod und den Untergang des Lebens: SÍ CHE TEMA SI VOLVE IN DISIO (sodass sich die Furcht in Begehren wandelt (Inferno III, 126)).
    All das – die Kombination von Furcht und Begehren, das Zusammenspiel zwischen Leben und Tod, sowie die ständige Spekulation über die Geschichte des Denkens, noch dazu der rhetorische Einschlag im Text – geben diesem Romanwerk den Status eines modernen Klassikers – ein Buch mit thixotropem Wesen: In der Mischung wird es flüssiger, und wenn das Mischen aufhört, wird es wieder zäher.
²⁴

____________


¹ Svein Jarvoll: En Australiareise. Gyldendal, Oslo 1988, S. 107.
²
En Australiareise, S. 97.
³  
En Australiareise, S. 25.
En Australiareise, S. 57.
Svein Jarvoll: Et hvilket som helst glass vann. Gyldendal, Oslo 2001, S. 99.

En Australiareise, S. 6. In seiner aufmerksamen, detaillierten Doktorarbeit über Jan Kjærstads Rand und Svein Jarvolls Eine Australienreise mit dem Titel Die Optik des Romans kommentiert Bjarne Markussen, dieses Zitat sei „eine nahezu wortgetreue Übersetzung aus Ibn Hazms The Ring of the Dove, abgesehen davon, dass der Satz über die kontradiktorischen Gegensätze hinzugefügt ist“. Vgl. Bjarne Markussen: Romanens optikkEn studie i Jan Kjærstads Rand og Svein Jarvolls En Australiareise. Vorlegt zur Erlangung des Dr. art. in Nordischer Literaturwissenschaft, Universität von Bergen 2001.
En Australiareise, S. 128. Mark Stoller kommentiert: „Von diesem Gedicht kann man einen gewissen Eindruck des Alters bekommen.“

Bibel, 1 Mos 12, 1.
En Australiareise, S. 47.
¹⁰
Svein Jarvoll: Melbourne-forelesningene, Gyldenda, Oslo 1995, S. 8.
¹¹  
Et hvilket som helst glass vann, S. 63.
¹²
En Australiareise, S. 43-44.
¹³  
En Australiareise, S. 196.

¹⁴ James Joyce: Ulysses, aus dem Englischen von Hans Wollschläger, Suhrkamp, Berlin 2015, Kapitel 9.

¹⁵  Ulysses, Kap. 6.
¹⁶
Ulysses, Kap. 6.
¹⁷
En Australiareise, S. 82.
¹⁸
En Australiareise, S. 82.
¹⁹
En Australiareise, S. 94.
²⁰  
En Australiareise, S. 109-110.

²¹ Svein Jarvoll, Ustadighet Ustadighet, H Press, Oslo 2004, S. 37. In der Australiareise gibt es auf S. 131 auch eine fast identische Formulierung: „Hingehen: ein Verb, ein Substantiv mit verbaler Kraft.“

²²   En Australiareise, S. 64 (Teil 2).

²³   In der Nachdichtung von Archilochos‘ Fragmenten steht nicht „ich knete“, sondern „ich mische“.
²⁴
„Damals, als die Archilochos-Nachdichtung mich beschäftigte, erlebte ich mehrmals, dass zwischen den Fragmenten flüchtige Verbindungen entstanden, und ich bezeichnete diese Verbindungen als thixotrop (Thixotropie ist die Eigenschaft einer Flüssigkeit, dass sie sich bei einer Mischung verdünnt und wieder zäher wird, wenn das Mischen endet.“ S. das Vorwort zu Archilochos‘ Fragmenten, S. 13.

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