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Svein Jarvoll: Eine Australienreise (Auszug)

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Svein Jarvoll
Eine Australienreise
Aus dem Norwegischen von Matthias Friedrich


(Auszug)



Woher kommt dieser klare
Flötenton
so laut
er mischt sich mit dem Frühlingswind
der gegenwärtig nachts die Stadt Lo erfüllt?

Ich sage, man muss sich veredeln und durch die Veredelungen die Persönlichkeit auslöschen, und dann trage ich an schweren Brocken einer ungreifbaren Vergangenheit. Der Schnee, der über Ia auf der nördlichen Spitze der Insel Santorini fiel, verschwand in der dunklen Caldera und in einer Handvoll Sonne. „Schau auf den Schnee und die Klippen“, sagtest du, während der Wind dein Haar kämmte (denn du gingst in die eine, der Wind in die andere Richtung). In diesem Moment erzähltest du mir von der großen Jakaranda außerhalb des Hauses, in dem du wohntest: Eines Morgens kamst du nach einer windigen Nacht nach draußen und sahst um den Stamm herum, wo normalerweise der Schatten lag, und normalerweise später am Tag dort lag, die Kronblätter in einer violetten Aufschüttung liegen, aber da konntest du ihn wegen der violetten Farbe der Kronblätter nicht erkennen. Ich glaubte dir, ich sah es, es hatte die klare Linie des Mythos und der Lüge. Und auch danach, als wir zusammen unter der Wolldecke im Bett des Xenodochiums lagen (du hattest dich auf die Seite, ich mich auf die gleiche Seite gedreht), und du aus irgendeinem Grunde damit anfingst, über Badewasser zu reden, misstraute ich dir nicht. Du sagtest, dass das Badewasser auf der südlichen Halbkugel nach links (dein Wort war das nicht) den Abfluss hinunterlief, und dass das Badewasser auf der nördlichen Halbkugel nach rechts lief. Wir fanden sogar eine Erklärung dafür. Lege zwei Billardkugeln Seit an Seit und stoße einen Queue dazwischen: Dann wird die eine Kugel sich schnell in Richtung der Uhrenzeiger drehen, die andere dagegen. Der Queue hatte die gleiche Wirkung auf die Billardkugeln wie die Erdrotation auf das Badewasser. Ungefähr so lautete die Erklärung. Und was stellte das dar, wenn keinen Versuch, Übereinstimmungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos zu finden, und wurden die Kirchenväter nicht Küchenschreiber, um in der Mausefalle und dem Trichter die Paradoxien der fleischlichen Bürde zu enthüllen? Sie konnten wie wir in jener Nacht in der kleinen Lache fließenden klaren Talgs an der Wurzel des Dochts auf der Spitze des weinenden und etwas windschiefen Talglichts auf dem Nachttisch die Konvektionsströme kleine Teilchen von der Mitte bis zum sägegezackten und drohenden Boden aus Wachs und sachte zurück in einen ständigen Kreislauf führen sehen, so wie, laut Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebung, die Kontinente aufeinander zu und voneinander weg geführt werden. Oder habe ich hier ein Kleidungsstück von Rahel entliehen, um Lea zu verschönern? Bin ich vielleicht nicht hierhergekommen, um Schönheit zu schaffen, und nicht, um Schönheit zu finden? Und Schönheit kann niemals im Einfachen liegen, sondern nur im Zusammengefügten. Deshalb sind beispielsweise kein Kreis und keine andere simple Figur schön. Jede andere Ästhetik ist Vegetarismus. Lasst mich aus diesem und aus anderen Gründen ein schlichtes Daumennagelporträt (ich weiß, das ist eine Kalkierung) des erbärmlichen und vollkommen unbedeutenden Ortes abgeben, an dem meine Wohnstatt (der Campingwagen) inzwischen gestrandet ist, und diese vage und unerbittliche Anwesenheit näher betrachten, die wir Gegenwart nennen; dann werde ich zur ersten Lea in Florenz zurückkehren. Aber zunächst das: An einem der Fenster des Campingwagens hängt, in jeder der vier Ecken mit einem Streifen Klebebands befestigt, das bekannteste Gedicht: Li Pos Gedicht über Schnee, Mondschein und Heimweh; die chinesischen Schriftzeichen, in vier parallelen Straßen angeordnet, haben eine störrische Architektur, die vom ziemlich Einfachen ins Unübersichtliche wechselt: Einige ähneln Gestrüpp und Bambusvasen, Flechtwerk, andere wiederum bestehen aus Figuren aus Figuren aus Figuren, und wieder andere besitzen die geschwungene Linie des Daches einer Pagode oder sind auf einige mal schmale, mal dicke Striche beschränkt. In der Abenddämmerung, wenn der letzte Speerschaft der Sonne durch das Gras fliegt und auf dem ockerroten Fleck, der am heftigsten glüht, kurz bevor sie erlischt, auf einer grobporigen Pinienwade zum Stillstand gelangt, ist das Papier matt und undurchsichtig, und die Konturen der Kalligraphie genauso eindeutig ausgetreten wie Schneehuhnspuren im Schnee, wenn der Schatten sie auffüllt. In diesem Moment erst schaut morgens flüchtig die Sonne herein, dann wird das Pappmaschee zum Leben erweckt, dann kann man in der groben Textur die palimpsestische Anwesenheit loser Buchstaben und ganzer Überschriften und sogar auf den Kopf gedrehter Porträts lokaler und internationaler Koryphäen erkennen. Denn das Papier ist aus Leim, Wasser und Zeitungen gemacht; darauf zu schreiben, ist, wie auf Fäuste zu schreiben: Die Tinte wird aufgesogen und wuchert aus in osmotische Haarbüschel, die Striche torkeln, die Spitze des Stiftes bricht, die Schrift verknotet und verknorrt sich. Es war auch dieses Papier, auf das ich folgendes Gedicht schrieb:

THE MONTAIN
(after Hsieh Ling-Yün)

Frosted breath hang in the air above the cattle.
The rock midstream breaks the flow of water.
In the wood I hear people, but can’t see them,
on the first I see people, but can’t hear them.
The clouds are sometimes under, sometimes over
me.
The sad cry of the buzzard at the peak:
it can hear the difference between valley and valley.
The snow on the mountain facing me is yellow,
the shining river in the valley doesn’t move,
but I can hear it rushing through the night.
When I leave the snow at dawn, the grass is dazzling.
In the lake the mountain points toward me:
Why do you live so stupidly alone?       

(denn hier, wo ich lebe, gibt es keine Berge, keine einzige Warze, nur einen Haufen Bücher, und wie ich wünschte, ohne Personalpronomen und bestimmte Artikel zurechtzukommen, wie es auch die Chinesen tun). Auf dem gleichen Stück Papier leitete ich auch einen ziemlich frenetischen Briefwechsel mit einem Freund von mir ein, der so weit entfernt wohnte, dass man die Fahrt dorthin in einer halben Stunde mit dem Fahrrad schaffte. Um nicht vom Auto zu sprechen. Daraus kann man eine Menge über den Ort schließen. Die Temperatur in den Briefen näherte sich der meteorologischen Temperatur an (hier ist es im Sommer so warm, dass das Blei im Bleistift schmilzt), aber der Austausch endete abrupt, als Stephen mir eine Epistel in gutem klassischem Griechisch in Form eines Kuckuckseis auf Klopapier schickte (gezackte Enden und so), in der er verschlug, dass das Einzige, was uns nun noch übrig bliebe, darin bestand, das Schreiben von Testamenten der Lebenden an die Toten und von Briefen der Lebenden an die Toten auf Büttenpapier zu erlernen. Danach beulte sich das Seil nicht aus, es flappte. Stattdessen trafen wir uns dann und wann, und der Gesprächsverlauf konnte so aussehen:
„Du Fuchs.“
„Du Igel.“
„Unter dem glatten Pelz eines Fuchses sind ein paar kräftige Kiefer.“
„Warum sträubt sich der Igel?“
„Er ist verletzlich.“
„Sein Bauch ist weich.“
„Das ist die einzige große Sache, von der er weiß.“
„Alles macht die Haut härter.“
„Leiden führt zu Apathie.“
„Füchse und Füchse.“
„Kannst du nicht sehen, wie sich die Stacheln des buschigen Schwanzes sträuben?“
„Foxhog, Fuchsschwein.“
„So etwas verschweigen Aesop und La Fontaine.“
„Ein Igel braucht Metaphern.“
„Und der Fuchs?“
„Der Fuchs ist geschwind, er prescht davon.“
„Jeder Stachel des Igels hallt wider von Gekläffe.“
„Das ist die einzige Stimme, die der Igel hat.“
„Moral?“
„Streichen wir die Moral.“
Alles selbstverständlich nach den Fragmenten des Archilochos. Keiner von uns versteht Australien, deshalb sind wir auf derartig sprungweises Umgehen und strategische Rückzüge hingewiesen. Kurz nachdem ich hierhergekommen war, hauten mich vorranging die Dichotomien um, also dass mangels einer Ordnung Schicht für Schicht aufeinanderliegen, was ich mittlerweile auch gelernt habe, von bestimmten Gesichtern abzulesen. Stephens Gesicht zum Beispiel sollte mit Hilfe von Semikola beschrieben werden, hätte das nicht einen gewissen Formalismus zur Folge gehabt, der ihm sonst nicht unbekannt gewesen und der allerdings in genau dieser Beziehung fehlplatziert gewesen wäre. Eine große Nase sitzt über einem kleinen Mund, ein kleiner Mund über einem großen Kinn usw. Und es gibt andere Disharmonien mit schwach hellenistischer Note. Das erste Mal, als ich ihn sah, stand er, mit dem im Hintergrund schwach trommelnden Kompli eines balinesischen Gamelans, unter einem Ambrabaum und starrte in die Luft oder, ja, den Schober (caelum, non animam, mutant qui trans mare currunt) mit diesem leicht bukolischen Ausdruck in den Augen (Bu Bu), den man bekommt, wenn man soeben eine Kuh in den Arsch gefickt hat.
„Was hätten wir getan ohne die englische Sprache getan, diesem gierigen Labmagen“, sagte er.
„Was“, sagte ich; ich las.
„Australien: Hat nur Arterien, kein Herz.“
„Ayers Rock. Jaja. Die Werbung hat ihn in einen Hamburger verwandelt.“
„Hierzulande ist die Reklame quicklebendig.“
„Hm. Omphalos.“
Hier sitze ich und versuche, Rat im Durcheinander zu finden … Die Früchte, die hier einmal wild und schön waren, schmecken nun ekelhaft süßlich, denn was der Gedanke sich nicht eingestehen mag, kann das Auge nicht sehen und die Zunge nicht verstehen. Diese Spitzfindigkeit, die aus einem der vatischen Gedichte Stephens stammt, und die die Erfahrung ausschöpfen möchte, erleidet – gemeinsam mit anderen kategorischen Aussagen – einen unmittelbaren Zusammenbruch. Denn was Australien an Gegenwart und Geschichte zu bieten hat, ähnelt Sinnestäuschungen, in der Optik des Landes bedeuten Begriffe wie Vergangenheit und Jetztzeit wenig. Die bedrückende Luft, die an Spann und Handgelenken neue Adern hervorschwellen lässt, erschafft im Inneren der schweren und leeren Räume sinnreiche Fabeln aus Stein und Wolken; und es gibt nichts über und nichts unter diesen Äußerungen: Sie haben die Vervollkommnung erreicht, sie sind vollgültige Theoreme, und deshalb verstecken sie sich schon, noch während sie sich ausstellen.

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