Max Czollek: Jubeljahre
Christoph Georg Rohrbach
Zu Max Czollek
Jubeljahre
Max Czolleks neuen Gedichtband las ich mehrfach. Immer wieder beiseitegelegt, habe ich das Gefühl, ihn in zwei Phasen rezipiert zu haben:
Bereits beim Anlesen wird eine Konzeptualisierung spürbar, der der ganze Band unterliegt; kein Gedicht steht für sich allein. In der ersten Phase “konsumierte“ ich den Band unvoreingenommen und war dann bedrückt. Auch die scheinbar schwankende Qualität, die konstellierten Effekte gaben mir zunehmend das Gefühl, die Gedichte spielten nicht immer mit fairen Mitteln.
In einer zweiten Phase nahm ich den Band als Sammlung wahr; nicht mehr als Komposition, sondern aus kleineren Einheiten gebildet, die ich grob als ‚Einzelaussagen‘ bezeichnen möchte, als konstruierte Effekte, die sich aus diesen Einzelaussagen ergeben, weil sie offenbar absichtlich Denk- und Gefühlslücken hinterlassen.
Ein Mittel für einen solchen Effekt ist die Distanz, z.B. auf einer Ebene zwischen Humor und Ernst. Im ersten Zyklus 'Ausschreibung zum Familienfest' werden verschiedene Personen und Gruppen, deren Eigenschaften und Tätigkeiten umschrieben werden, mit der sich wiederholenden Formel 'ich wende mich an diejenigen, die …' aufgerufen. In einem der Gedichte lässt sich folgender Appell finden:
ich wende mich an diejenigen
die als väter auszogen
und zurückkehrten als söhne
die im lidl standen und glaubten
es sei zeit zu den waffeln zu greifen
Später in einem anderen Gedicht des gleichen Zyklus' gilt die Zuwendung
[denjenigen], die die verweinten augen
ihrer eltern vergruben und dabei unheilbar waren
wie himmel am abend
Dieser Effekt sitzt, jedoch ist und bleibt ein albernes Wortspiel formal ein albernes Wortspiel. Der Kalauer zieht seine Berechtigung aus dem Aspekt des Gesamtkonzeptes und des Effektes heraus. Inhaltlich scherzt Czollek somit über die Kriegsrückkehrer, deren Potential völlig in Konsumtreue aufging. Zugleich über die Opferväter, deren Söhne auch zu Konsumenten erzogen worden sind, statt sich zu bekennen oder zur Sühne aufzurufen. Czollek wendet sich, im doppelten Sinne vermischt, an diejenigen, die sich angesprochen fühlen.
Nicht immer sind die Aufgerufenen deutlich erkennbar oder zu unterscheiden. Die von Czollek angelegte Ungenauigkeit zwingt zu einem strikten Überprüfen, das teilweise ergebnislos verläuft. Auch das Nebeneinander eines albernen Wortspieles und einer komplexen, ernsten Bildvorgabe spricht für die extreme Spannweite des Verfahrens, das riskiert, gängig nachvollziehbare Form- und Denkgewohnheiten zu verlassen, stellenweise einen formalästhetischen Anspruch aufzugeben und auf diese Weise Irritation zu erzeugen.
Ein weiteres Verfahren, nämlich die reißhafte Sprechweise, zeigt sich in den letzten zwei Versen des Gedichts 'Mosaisches Triptychon' des Zyklus 'Ani':
meine familie hat gelernt
nackt zu sterben
Es lohnt sich, die Begriffe 'Familie' und 'Lernen' an dieser Stelle genauer unter die Lupe zu nehmen. Mit 'Familie' ist hier ein Bund verschiedener Generationen gemeint, der gemeinsam lernen könnte. Im Hinblick auf die einzelnen Gruppierungen dieser zusammengefassten Körperschaft würde sich aber auch eine jeweilige Art von Weitergabe/Tradition andeuten. Zudem hat diese 'Familie' gelernt, dementsprechend hat sie etwas verinnerlicht und könnte ihre Erfahrung anwenden.
Doch ist dieses Gelernte zunächst nur die beklemmende Fähigkeit, 'nackt zu sterben', wodurch als nächstliegende Interpretation wie ein unverrückbarer archetypischer Mythos das National-sozialistische Deutschland und potentiell alle Deutschen auch heute noch oder wieder als Bedrohung aufscheinen, nicht nur die, die in den Aufbau und Vollzug der Konzentrationslager involviert waren – immer sind es bei Czollek die Ahnen, ob lebendig oder längst verstorben, die ihrer Familie etwas 'beibringen'. Ein Lehrer-Schüler- oder Meister-Lehrling-Verhältnis wird als Netz aufgespannt, das für eine sozialpolitische Anstrengung, die allgemein befrieden möchte sowie rationale Erklärungen und Möglichkeiten aufzuzeigen sucht, pervertierter kaum vorstellbar ist. Nackt sterben bezieht sich zudem auf ein abgezogenes Fell, das des Opfers. Aber letztlich auch das der Täter: Ihre Anhaftungen, Illusionen, Vorurteile, ihr Wahnsinn, ihre Verblendung. Eine Art Häutung der Überlebenden beider Seiten, die als Erfahrung auf die nächste Generation übertragen wird. Pervertiert, weil sich diese Konstellation immer wieder neu ereignet, wenn auch in unterschiedlichem Maß, im Grunde jedoch ohne Reinigung, auch wenn oder gerade weil stets von neuem unübersichtliche Annäherungen angestrebt werden.
Czollek will keine oberflächliche Einigung – er bezieht das Irrationale mit ein, den fortwährend lauernden möglichen Querschlag, weil die latente Anwesenheit der Ahnen auf beiden Seiten, dieses Vor- und Nachfahren-Prinzip als Gefahr nicht für ein ‚Linsengericht‘ eilfertig aufgegeben werden darf.
Nicht selten wirken die Gedichte auf die jüdische Gemeinschaft zugeschnitten. Dann fühle ich mich als junger nicht-jüdischer Deutscher ausgeschlossen. Während mir die Schuldfrage und die Schrecken der Schoah aufstoßen und mich blockieren, ist der Diskurs innerhalb der jüdischen Gemeinschaft scheinbar unverkrampfter. Auf diese Fettnäpfchen der deutschen Sprache und einen ständigen Versuch, ihnen auszuweichen, spielt Czollek in seinen Zyklen deutlich an. Es wird den unterschiedlichsten Personen der Mut anempfohlen, die etablierten Rollen zu verlassen, nur so ließe sich vielleicht ein neuer Konsens finden. Deshalb lässt Czollek die Sprache unterschiedlicher Gruppen in ihrem Extrem durch eine Vielzahl von Sprecherinstanzen karikieren. So wird das Umfeld einer möglichen Zukunft abgesteckt, aber nicht das Maß und die Richtung.
Ich empfehle nicht, diesen Band zu lesen, ich empfehle, ihn zu studieren. Seine Qualitäten stecken im Konzept und nicht in einer lyrisch formalen Ästhetik. Ein Mehrwert mag sich somit aus den Diskrepanzen seiner Aussagen und der Verweigerung erschließen, eine Lösung des Schreckens zu konzipieren.
Max Czollek: Jubeljahre. Gedichte. Berlin (Verlagshaus J. Frank) 2015. 84 Seiten. 13,90 Euro.