Martin Kubaczek: Die Süsze einer Frucht
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Astrid
Nischkauer
Martin
Kubaczek: Die Süsze einer Frucht. Pflanzenikonen. Illustrationen: Rosemarie
Hebenstreit. Weitra (Bibliothek der Provinz) 2020. 160 Seiten. 18,00 Euro.
lies
die Gräser, mein Kind
Während das Gedicht „Ins
Lesebuch für die Oberstufe“ von Hans Magnus Enzensberger aus 1957
folgendermaßen beginnt: „Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne“, endet
das Gedicht zum „Knäuel- und Zittergras (Dactylus glomerata, Briza media)“ von
Martin Kubaczek mit folgender Aufforderung: „lies die Gräser, mein Kind, auf
deinen Wegen“. Die Zeile ist mehrdeutig, da damit nicht nur eine Hinwendung an
die Natur gemeint ist, sondern auch an die Literatur, denn „Grasschrift,
japanisch sōsho […], ist die Bezeichnung für den hoch entwickelten Schreibstil
der Kalligraphie, in dem die Schriftzeichen im Pinselstrich sich auflösen und
so elegant wie flüchtig ineinander übergehen und verfließen“, wie wir im nur
zwei Seiten umfassenden, dabei aber ungemein aufschlussreichen Anmerkungsteil des
Gedichtbandes DIE SÜSZE EINER FRUCHT erfahren.
Martin Kubaczek hat
Violine, Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte studiert und war von 1990
bis 2007 Lektor und Dozent für vergleichende Kulturwissenschaften an Tokioter
Universitäten. Das alles schlägt sich auch in seinen Gedichten nieder, wenn man
diesen Lebensspuren aufmerksam folgt. Lyrik ist an sich schon musikalisch, weil
es bei Gedichten ja immer auch nicht nur um den Inhalt, sondern ebenso um Klang
und Rhythmus geht. Aber in den Gedichten von Martin Kubaczek spielt Musik nicht
nur formal eine große Rolle, sondern wird auch inhaltlich thematisiert, wenn
er, was er optisch sieht, in Musik übersetzt, so wie das auch jeder Musiker
beim Notenlesen macht. Damit interpretiert er die Pflanzen zeigenden
Scherenschnitte von Rosemarie Hebenstreit und übersetzt sie für uns in Musik:
fließende Linien, ein Andante, langsam gehenddas sein Tempo sucht, sich rhythmisch bewegtgriffig wird, ausgeführt, und du siehst schonim Entstehen, ob es gelingt, sich konkretisiertwas so aus dem Nichts kommt, sich abhebtlöst, singt, schwingt, tanzt, summt und flirrt
Die schwarzweißen Scherenschnitte von Rosemarie Heben-streit erinnern in ihrer Eleganz und Komprimiertheit oft an japanische Holzschnitte, bzw. an Jugendstilmotive, die ja wiederum ganz ausschlaggebend von japanischer Kunst inspiriert worden waren. Und Martin Kubaczek lebte selbst einige Jahre in Japan. Daher taucht Japan in seinen Gedichten zum einen in Erinnerungen an erlebte Situationen und Momente in Japan auf:
Papiere, an Fäden geknüpftmit den Zeichen für daifuku: großes Glückkleines Glück – mittleres Glück –am Lichterfest (die bunten Lampionssiehst du sie nicht?), der dumpfeTrommelklang, und über dir im Himmeldunkel zuckend die Fledermausschrift
Zum anderen geht es auch sehr viel um die japanische Sprache und japanische Schriftzeichen. Besonders spannend wird es im Anmerkungsteil, wenn Martin Kubaczek – und wir beginnen zu erahnen, was mit „vergleichender Kulturwissenschaft“ gemeint sein könnte – bei der Rotbuche einerseits der Etymologie des deutschen Wortes nachgeht und entdeckt, dass sich der „Buchstabe“ vom „Buchenstab“ ableitet. Und andererseits darlegt, dass sich im Japanischen die Schriftzeichen von „Baum“ und „Buch“ einzig „durch einen kleinen Querstrich am Fuß der vertikalen Linie“ unterscheiden. Die Frage „Buch oder Baum“ aus einem der Gedichte, könnte beim Lernen der japanischen Sprache durchaus auftauchen, aber auch von der deutschen Buche ist es nicht weit zum Buch(staben). Oft begreift man die eigene Sprache erst im Vergleich mit anderen Sprachen wirklich, das macht den großen Reiz des Übersetzens und des Lesens von Übersetzungen aus. Und auch die Gedichte von Martin Kubaczek zeigen uns vieles und lassen uns so manches besser verstehen. Wenn man möchte, kann man DIE SÜSZE EINER FRUCHT auch als eine Schule der Achtsamkeit lesen. Und als eine Einladung, sehen und lesen zu lernen, in Bildern und Linien:
Lesen und Lösen, die Auswahl des Blicks:In jedem Bild konzentrieren wir uns auf einElement, auf eine Erscheinung, erlösen sieganz für sich, nehmen sie und suchenihr Wesen, ihre Essenz, den Charakterihre Formensprache, das Fächerspiel:Folgen den Linien, lesen in ihnen, […]
Der wunderschöne, im Verlag Bibliothek der Provinz erschienene Gedichtband DIE SÜSZE EINER FRUCHT. PFLANZENIKONEN umfasst 160 Seiten. Auf der einen Seite sind jeweils Scherenschnitte und Vorzeichnungen von Rosemarie Hebenstreit zu sehen, die Pflanzenumrisse in schwarzweiß zeigen. Jedem Bild ist ein Gedicht von Martin Kubaczek gegenübergestellt, und darunter wird dann immer der deutsche und lateinische Name der jeweiligen Pflanze angeführt. Am Cover ist unter dem roten Titel DIE SÜSZE EINER FRUCHT ausgerechnet ein Stechapfel zu sehen, hochgiftig in allen Teilen und ein gefährliches Rauschmittel. Vielleicht ein kleiner Witz, vielleicht eine Warnung.
Dem ersten Gedicht ist keine Pflanzenikone, sondern ein roter japanischer Stempeldruck gegenüber gestellt, mit den Schriftzeichen für „neu“ und „Frühling“. Die beiden Zeichen stehen für Jahresbeginn. In Japan beginnt das Schul- und Studienjahr im Frühjahr, im April, wie ich von Martin Kubaczek weiß. Pflanzen wachsen, blühen und reifen zu unterschiedlichen Zeiten, daher stehen bestimmte Pflanzen auch für bestimmte Jahreszeiten: Frühjahr (Kirschblüten, Schneerose, Schneeglöckchen), Sommer (Rosmarin), Herbst (Herbstzeitlose, Kratzdistel, Walnuss) und Winter (Winterlauch). Doch die Ikonen und Gedichte sind, soweit ich das nachvollziehen konnte, nicht nach Jahreszeiten sortiert, sondern in dieser Hinsicht durchmischt, was auch sehr schön ist.
Mitten im Schneefeldentfaltet der Pflaumenbaumdie ersten Blüten
In seinen Gedichten geht Martin Kubaczek von dem aus, was er sieht, das kann beispielsweise Bewegung sein, wie bei dem nach oben schießenden Bambus:
aus dem Wurzelgeflechtschießen die konischen Köpfeund strecken sich, schieben sichwie Teleskope gezogen in die Länge
Oft lässt Martin Kubaczek bei der Interpretation der Schattenrisse seiner Phantasie freien Lauf und wir staunen über seine Assoziationen, die scheinbar weit Entferntes zusammenbringen und übereinanderlegen. Halme bilden ein Fenster, Gräser eine Kathedrale, oder werden zu einem Mobile. Und so, wie es den negativen Gottesbeweis gibt, also dass man beschreibt, was Gott alles nicht ist, um so indirekt zu sagen, was Gott ist, beschreibt Martin Kubaczek einen Schattenriss, auf dem ein „Eiförmiger Walch (Aegilops ovata)“ zu sehen ist, auch in Verneinung:
Kein Mopp, keine ausgewrungene Wolle, in Fetzenkeine Wasserfäden zieht einer, rag time, hinter sich herkein Hexenbesen, zersplitterter Torpedo, Angriff von Gelsenkeine aufgezwirbelten, aufgedröselten Kabel-Enden
Manchmal löst schon allein der Name einer Pflanze eine Erinnerung aus, und wir sind plötzlich ganz weit weg, auf der Kuppel einer Insel zwischen Minze, Rosmarin und Eidechsen, oder auch zurück in der Kindheit:
[…] Liefen hinausin die Felder, wo uns die Kolben vom Kukuruzum die Ohren schlugen, steckten ein paarunter die Hemden, die wir dann in der Hütteins kochende Wasser warfen. Mit Sandund Halmen rieben und putzten wir dannFett und Ruß von Pfannen und Töpfen, Kieselsäureund lernten so auch den Namen: Schachtelhalm
Im Beschreiben von dem, was zu sehen ist, denkt Martin Kubaczek sich oft hinein in sein Gegenüber und spricht die Pflanzen mitunter auch direkt an:
Ach Knirps!Was machst du da?Was frag ich dich?Willst du hinüber sehenüber dich? Oder wirfst dueinen Blick auf mich zurück?
Und er stattet die Pflanzen mit menschlichen Eigenschaften aus, bei ihm können Pflanzen gestikulieren, argumentieren, überlegen, sich untereinander unterhalten und uns die Hand reichen:
[…] und geht und fliegt und weht und streckt und reicht dir Handum Hand, so zärtlich froh und rund, so duftig elegant…
So wie uns in diesem Gedicht das Weidenröschen Hand um Hand reicht, reichen uns auch die Gedichte von Martin Kubaczek und die Pflanzenikonen von Rosemarie Hebenstreit die Hand, laden uns ein, näher zu treten, und erklären und zeigen uns vieles, statt unnahbar auf Distanz zu gehen. Damit treten die beiden nicht nur in einen Dialog miteinander, sondern auch mit uns, ihrer Leserschaft.
Leseprobe aus dem Band, auch was den Eindruck der Scherenschnitte betrifft:
https://www.bibliothekderprovinz.at/buch/7795/