Martin Andersson: Ewige Wiederkunft des Neuen
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Martin Andersson
Ewige Wiederkunft des Neuen
Historische Zeiten im Ende der Geschichte. Wir haben es also geschafft, in
historischen Zeiten zu leben. Wie vieles ist nicht, vom Staatsbudget abwärts,
„noch nie dagewesen“. Gestickt sind wir jetzt, golden, wie die Sterne ans
Firmament. Wir erleben Geschichte, schwimmen ganz zwanglos auf unseren Platz in
den Geschichtsbüchern. Unglaubliche Ereignisse, auch, denn spätere Generationen
werden uns nicht glauben, wie langweilig die „Geschichte“ eigentlich ist.
Selbst schauen wir den Staubkörnern beim Verweilen zu, aber irgendwo draußen
rattern historische Zeiten wie die Zikaden in den heißen Nächten des
Mittelmeers. Was treiben wir in der Zwischenzeit im Kegel unseres Bewusstseins?
Diese stumpfsinnige Schlaflosigkeit erkennbar zu machen, ist das eigentliche
Geschehen der Pandemie.
Erlebnisse. Man hatte Anlass, bildungsbeflissen, einiges
zu lernen über die großen Seuchen der Vergangenheit. Antoninische Pest,
Justinianische Pest, Schwarzer Tod, Spanische Grippe. Die Hartgesottenen
finden, dass man damals noch richtig gestorben ist und dass wer noch lebte, in
einer wahren und existentiellen Angst lebte, ja dass der Irrsinn sie trieb,
sich um falsche Propheten zu sammeln, um die Götter zu besänftigen oder um
büßend durchs Land zu ziehen, wodurch sie die Seuche nur noch weiter
verbreiteten. Es starben noch Millionen. In weniger drastischer Formulierung
schmeicheln die Vorgänge auch der aufklärerischen, humanistischen,
transhumanistischen – wie sie nicht alle heißen – und recht eigentlich
wissenschaftlichen Sicht der Dinge. Wahrscheinlich ist jemand wie Yuval Harari
(Homo Deus) durch die Fernsehsendungen gereicht worden, um zu erklären,
dass er es immer schon gewusst hat. (Anscheinend gibt es das Fernsehen immer
noch). Man darf also nicht ungerecht sein: unsere Seuche ist mindestens so
historisch wie die früheren, bloß unsere ungleich überlegenen Systeme
führen dazu, dass wir nicht in historischen Ausmaßen sterben. So gesehen, steht
uns ja sogar der Titel des größeren Ereignisses zu, denn eigentlich fällige,
unerhörte Totenzahlen sind aus dem weichen Mantel der Systeme einfach nur nicht
hervorgekrochen.
Einen ebenso
expressiven Text wie die Pest von Athen bei Thukydides über unsere Pandemie
wäre vermutlich ein avantgardistisches Produkt: ist doch das Ereignis selbst
reine Statistik. Verschiedene Zahlen haben jeweils den Platz an der Sonne
eingenommen, von der – doch wirklich trivialen – Zahl der täglichen
Neuinfektionen, über interessantere Dinge wie die Sieben- oder
Vierzehntageinzidenz, die Anzahl der Testungen und der Impfungen, die effektive
Reproduktionszahl R und natürlich die klassischen Todesfälle. Und es war doch
spannend. Das zeigt wie effektiv und zugleich banal menschliches Erzählen
eigentlich ist. Man entwerfe eine Situation, die gut ausgehen kann oder
schlecht. Man drücke auf den Knopf und lasse die Zeit zu ticken beginnen. Und
so wäre der avantgardistische Corona-Roman wahrscheinlich ein Abkömmling von
Gerhard Rühms Gedicht Zwölf, das, in der Tat, von eins bis zwölf zählt,
nur nicht geradehin, sondern mit Sprüngen zurück gerade als man glaubte, dem Ziel
nahe zu sein, als die elf schon erreicht, ja mehrfach wiederholt worden ist –
elf elf elf. Fünf.
Neben den Zahlen gibt
es also noch die Kurven und neben den Kurven die Hitzekarte, die alle Länder in
Rotabstufungen erfasst, oder größere und kleinere Kreise auf der Landkarte, die
die sogenannten Cluster versinnbildlichen. Kurzum: visuelle Künste werden es
leichter haben als die Literatur, längst werden sie tausendfach stimuliert.
Oder sind solche
bildlichen Statistiken nicht schon die besseren Kunstwerke? Was will man sie
noch verzerren oder auffrisieren? Auch die hübschen 3D-Darstellungen der
kleinen Rabauken selbst können zwar abgewandelt werden, aber wohl kaum
übertroffen. Die Kunst müsste ja etwas hinzutun, das die Sache wahrer macht.
Die Frage nach dem Corona-Kunstwerk ist die Frage nach dem, was wir eigentlich
erlebt haben.
Mit dem Hinweis auf
Erzählung und Bilder will ich zumal eines gesagt haben: das ist kein
Scheinerlebnis. Man kann eine Statistik erleben, wir haben es bewiesen. Das ist
nicht neu: mit Emotion pflegten wir zu blicken – als wir noch keine größeren
Probleme hatten – auf diese Arbeitslosenraten, dieses Wirtschaftswachstum, das
Staatsdefizit, Ölpreise und Aktienmärkte. All unsere alten Lieblingszahlen sind
in dieser Zeit in ganz irreale Ausschläge geraten, aber das erscheint uns als
bloßes Kuriosum. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist zudem beschränkt, aber es
handelt sich doch um wirkliche Aufmerksamkeit. Jeder Kultur wird die Welt auf
ihre eigene Art sichtbar, und so gilt für uns die Fixierung des individuellen
Auges auf den gouvernementalen Blick.
Monument. Es wird auch kein Monument wie die Wiener
Karlskirche davon bleiben: offensichtlich ist die auf das Heidentum
zurückweisende do-ut-des-Funktion solcher Votivgaben hinfällig geworden.
Vielleicht hätten aber dennoch die Sicherungssysteme des Menschen ein Denkmal
verdient, wenn sie schon die Stelle des Gottes eingenommen haben. Freilich:
wenn wir uns recht kennen, lässt sich schon vorhersagen, dass wir höchstens den
Personen, den Menschenwesen innerhalb des Systems solche Ehrungen
zukommen lassen werden, weil in ihren Taten ausschließlich ein menschliches
Wollen erblickt werden wird. Sie werden allerdings anonym geehrt werden, unter
ihren Funktionsbezeichnungen – „Ärztinnen und Ärzte“ usf. – womit sich
das, was ist, unweigerlich doch in den Denkmalstein einschreiben wird.
Literarische Zeiten im Ende der Geschichte. Wenn wir die Tiefe los sind, was
wollen wir noch von Literatur? Ein paar Dinge. Nicht erst seit kurzem werden
„große“ Romane vor allem nach der Seitenzahl berechnet. Bisweilen heißt es
sogar „opus magnum“. Wir haben ein Hauptwerk, um uns das Gesamtwerk zu
ersparen: schaut man die Wörtlichkeit eines solchen Begriffs von Größe eigens
an, kommt er einem natürlich naiv vor. So naiv, dass man als Betrachter nicht
anders kann, als Verständnis zu haben vor seiner unwiderstehlichen
Sinnfälligkeit. Dieselbe Macht des Greifbaren aus dem Paradigma des Zählbaren,
der Leistung, unterliegt auch oft dem Bedürfnis nach formaler Innovation (oder
was man dafür hält). Das kann „Multiperspektivität“ sein (zur „Polyphonie“ mit
ihrem griechischen Wohlklang bringt man es selten), das kann ein
unzuverlässiger Erzähler sein, das können Illusionsbrüche sein. Nicht, dass das
neu wäre, zumindest seit hundert Jahren (und vom Roman vor dem 19. Jahrhundert
abgesehen), aber immerhin: eine Würze liegt darin und ein Kontrast zum
Hollywoodfilm, in dem das „klassische“ Erzählen weiterlebt. Da kann man sich
schon mal intellektuell fühlen, besonders wenn man über „identifikatorisches“
Lesen erhaben ist (Pöbel!). Lassen wir dabei ganz die Frage weg, ob sogenanntes
klassisches Erzählen im kanonischen deutschen Roman überhaupt je existiert hat.
Man hat, das sei noch hinzugefügt, außerdem (seit Thomas Mann?) keine Skrupel,
mit angelesenem Wissen vollzuramschen, was man doch „Romane“ nennt: auch das
fügt sich gut in den Geist der positiven Berechenbarkeit. Darum schätzt man
zudem Referenzen und Subtexte: das lässt sich objektiv argumentieren.
Das ist alles nicht
nichts (und es wäre ungerecht, das scheinformalistische Sinnieren über Präsens
und Präteritum oder gar indirekte Rede gegen die Gegenwart ins Treffen zu
führen – das liegt sogar unter ihrem Durchschnitt). Es wäre ein Fehler, weniger
zu machen. Dabei haben wir von Inhalten noch gar nicht gesprochen, sondern nur
von den – mehr oder weniger vulgarisierten – Ausstrahlungen einer leidlich
soliden Literaturwissenschaft. Es gibt zwar kein Engagement mehr, aber immerhin
eine „Relevanz“ (beim Namen nennen das am ehesten die Verlage). All die Dinge,
die die Literatur an eine zeitungsmäßige Aktualität anschließen, wobei ein
Jubiläum noch das ehrbarste ist. Nach der buchhändlerischen Seite muss man
nicht lange fragen und auch nicht nach den Medienmechanismen. Aber das Publikum
– wir – besteht ja nicht nur daraus.
Zu den erstaunlichsten
Ideen im Vergleich zu anderen Kunstepochen, gehört die Forderung, dass
Literatur die nationale Geschichte reflektieren soll. Das mündliche Epos
überlieferte eine wichtige Erinnerung eines Volkes. Es war selbst diese
Erinnerung und fern davon, sich auf ein auch ansonsten fixiertes Wissen zu
beziehen (für uns nicht das eigentlich historiographische: sondern ein Sukkus
aus Fernsehdokumentationen und anderem Hörensagen). In anderen Zeiten spendeten
die Menschheit oder gar die Unendlichkeit der Kunst ihre Sinnhorizonte. Haben
wir dergleichen überwunden oder hat es sich nur verbraucht, ohne uns einen
tauglichen Ersatz zu hinterlassen?
Es gehört zu den
speziellen Problemen im Ende der Geschichte, dass man immer vom Neuen redet und
darin aber stets das bereits Bekannte – Moderne, Liberalismus verhandelt unter
dem Titel einer Postmoderne – sieht. Man nennt das Bekannte das Neue und jeder
Kritik begegnet man mit der Unterstellung, sie hätte dieses Neue nicht
verstanden und repräsentierte das Alte. Im Ende der Geschichte kommt das
Bestehende permanent als das Neue an. Die Erneuerungsgeste der Moderne lässt
sich bis heute beständig wiederholen. Seit über hundert Jahren. Das sollte ihr
Sinn gewesen sein?
Existentielle Erlebnisse. Was war es, was tiefere Bedeutung
zu haben schien, als die frittierten Kartonagen, die heute auf den Tisch
kommen? Der schwer vermeidbare Blick durch das schmale Fernrohr der
Literaturgeschichte scheint uns mit Notwendigkeit in die Irre zu führen. Wir
wissen: früher war es keineswegs besser, wir haben nur alles Schlechte gerecht
vergessen. Eine Handvoll großer Werke bleibt übrig, alles andere wird von neuer
Gegenwart verdrängt. Es gibt, zum Beispiel, einen Raum im Weltmuseum Wien, der
ein Zitat von Karl Ove Knausgård als Motto trägt, einen nicht übermäßig
originellen philosophischen Satz, der sich nicht einmal mit rhetorischem
Schliff hervortut. Aber man hat doch das Gefühl, dass es damit seine
Richtigkeit hat: jede Generation (oder doch immerhin Jahrzehnt) benötigt solche
Personen, solche Namen, von denen aus ein Heute uns angeht in milder Schärfe
wie der Dampf von frischem Teer.
Wir brauchen auch
weniger eine Geschichte der Klischees und des Ungeschmacks. Dann wäre die
Gegenwart nicht mehr die Gegenwart, sondern eine Epoche unter vielen, und dass
wir darin leben, nur mehr ein Faktum des Kalenders. Die eigentlichen
Hauptfragen müssten lauten: warum braucht man eine Gegenwart und warum verlangt
man von ihr weniger als von der Vergangenheit? Es ist eine zweischneidige Sache
mit den „Großen“ von einst: sie sind ebensogut ein selbstverständlicher Maßstab
wie sie es selbstverständlich nicht sind.
Man soll sie nicht
kopieren, sicher. Jede einzelne Eigenschaft, indes, darf man imitieren oder
fortsetzen, denn noch die größten Werke gehören in eine Reihe bzw. in mehrere.
Ich bin mir nicht sicher, ob dem Untergang des Genie-Klischees die Verbreitung
dieser Erkenntnis zugrunde liegt, oder ob man es nur pauschal für einen alten
Hut hält, doch in diesem Fall lässt sich die leere Hülle des Gegen-Klischees
tatsächlich mit geistigem Inhalt erfüllen.
Wenn wir also richtig
verstanden haben, was unsere Literaturgeschichte ist, inwiefern sie als Ganze
einen Gegensatz zur Literaturgegenwart bildet, und was der ungerechte und darum
von vornherein neutralisierte Kampf zwischen ihnen bedeutet – was können wir
sagen über die „Tiefe“ der kanonischen Autoren? Auf den ersten Blick scheint
sie stark ausgesprägt zu sein: frühe Tode, Suizide und Wahnsinn bestätigen es.
Zuviel vom Wort der Götter zerschmettert den Dichter, laut Hölderlin. Der
zweite Blick, dagegen, findet brave Bürger, strebsame Beamte, weltfremde
Gelehrte. Wenn Nietzsche im Schweizer Gebirge die Erfahrung, die Offenbarung
der ewigen Wiederkunft hat, dann auf einem Spaziergang von einem schmucken
Kurhotel aus, wo ihn täglich das jedes Jahr selbe Damenkränzchen zur Teestunde
erwartet, ein Übliches an reichen, überflüssigen Menschen. Auf seiner
Visitenkarte steht der „Professor“ bis zum Schluss. Professor Genie, Hofrat
Genie, Ritter von Genie. Die traurige Armut, die selbst aus solchen Biographien
noch das außergewöhnliche „Erlebnis“ schürfen will, gehört natürlich ihrerseits
zum Kitschbegriff der „Tiefe“.
Wir leben ohnehin in
einer Zeit der Ironie (wenn auch mehr nach der erklärten Absicht als dem
wirklichen Gelingen), eine Zeit, die die Ironie für den Gegensatz und sogar die
Überwindung des Pathos hält. Vielleicht ist aber auch nur das gültige Pathos
abgestorben, sodass wer auch nur ein bisschen Einsicht hat, rechttut, sich ein
etwaiges Pathos selbst nicht zu glauben. Wörter, die heute unfehlbar kitschig
klingen, sind „existenzialistisch“ oder selbst „existenziell“. Manchmal kann
man sie dennoch wörtlich gemeint vernehmen und dann sind sie wohl auch die
Erben oder Stellvertreter der „Tiefe“. Gegenüber Epochen, zu deren Signatur die
„Existenz“ gehört, lässt sich das Defizit in einem Gegenwartsmund nicht
überhören.
Arbeit und Wohlbefinden. Viele menschliche Tätigkeiten sind
in die praktische Verwertung bestellt. Man produziert und unterhält, man
kuriert und serviert. Die ökonomische Abläufe sind wohlbekannt, und ob sich die
Spirale von Produktion und Konsum nicht mehr nach oben dreht, ist nicht nur dem
Philosophen gleichgültig: auch viele normale Menschen wären im Zweifelsfall
durchaus zufrieden mit dem, was sie haben. Bessere Nerven braucht es, sich auf
eine Abwärtsspirale einzulassen, und ein Dazwischen findet sich nicht so recht.
Im nächsten Schritt schon sind wir mit der Merkwürdigkeit konfrontiert, dass
wir durch unseren Konsum ein gutes Werk tun, dass die Gesellschaft ohne unsere
Laster auseinanderbricht. Man spricht denn auch nicht vom Laster, sondern vom
„Genuss“, wobei noch bemerkenswerter ist, dass wir ganz ohne biedermeierliche
Tugendlehren auskommen und die „Arbeit“ eine evidente Notwendigkeit geworden
ist.
Obwohl also nach
objektiver Sicht unsere Gesellschaft einen verrückten Kreisel aus Verschuldung
und Verschwendung als den notwendigen Ergänzungen von Sparen und Arbeiten
darstellt, ein Kreisel der sich schneller drehen muss, wenn er sich nicht
langsamer und schließlich gar nicht drehen soll, und der hinfallen wird, wenn
er es nicht mehr tut, kann man feststellen, dass wir es uns relativ bequem
gemacht haben. Bedeutende Theorien der Moderne haben diese anthropologische
Domestizierung – das Prinzip: Man gewöhnt sich an alles – des „Kapitalismus“
nicht vorhergesehen. Worum sind wir nicht entfremdet?! Wo ist das Elend von
früher? Sicher: es war ein Elend, aber man hat sich ausgekannt. Es gibt
genügend Schwierigkeiten, aber auch sie sind Gewohnheit geworden. Es geht auch
nicht darum, dass es keine „materiellen“ Leiden gäbe, keine Mängel in den
sozialen Sicherungen. Doch ökonomisch arm war der Entfremdete ohnehin nie. Mit
der Entfremdung ist zugleich die „Existenz“ verschwunden, während dem
Existentialismus zugeschrieben wird, ein heroisches Subjekt zu verherrlichen,
das man dekonstruiert hat. Und wo man sich beim besten Willen nicht als
materielles Opfer sehen kann, da müsste man entfremdet sein, um dagegen zu
sein. (Übrigens könnte die Nichtentfremdung gerade am Besitz von Objekten
liegen. Gibt es nun zwar einen raschen Umsatz an Objekten, weggeworfenen und
neugekauften, im „Konsumismus“, so hat doch jeder seine Lieblingsobjekte von
denen er sich, vielleicht sogar sein Leben lang, begleiten lässt. Der Mensch
hat eine eigentümliche Kraft – die einen unwillkürlichen Überschuss bedeutet –
die Tiere und Dinge seiner Umgebung mit Sympathie aufzuladen. Mit Menschen ist
das schwieriger; die können sich wehren).
Summa: wir befinden uns
ganz wohl in der Leistung. Sicherlich darf man das Material nicht
überstrapazieren, aber ein Maß an Alkoholismus und Depression hat immer schon
zum Leben gehört. Dieses Maß darf nicht überschritten werden bzw. gesamtgesellschaftlich
gesehen darf es nicht zu oft überschritten werden. Doch – und darum geht es –
mit all diesen Fragen ist man schon ganz im Bereich der Systeme und der Systeme
der Systemsicherung. Die innersystemischen Probleme sind etwas ganz
anderes als die Not. Die Notlosigkeit ist keine Problemlosigkeit.
Ja, die Notlosigkeit
(als die Seinsverlassenheit) bedeutet gerade die Fülle der Probleme – und wenn
ein solches Problem sich seinen Namen wirklich verdient hat, heißt es Krise.
Frank-Walter Steinmeier dankt man das Wort von der außergewöhnlichen
„Krisendichte“ unserer Zeit. Krisen haben keinen Sinn, sie werden bewältigt,
und nachher ist man „so klug als wie zuvor“. Krisen gehen Regierungen an,
gehören eminent zu ihnen, zugleich glauben wir, als einbezogen in den
Regierungsblick, dass es eine Krise „an sich“ wäre. Hier äußert sich die
Regierung selbst, die sich nicht verschworen hat, aus propagandistischen
Gründen, als „Ideologie“, ihren Blick allerwelt aufzunötigen, sondern die
selbst voll und ganz an diese objektiven Krisen glaubt, und darum mit der
„Dichte“ ein Wort aus der Physik herbeirufen kann. Wir wissen wohl, dass
manchmal übertrieben wird, z.B. Terrorgefahr. Das durchschauen wir, kritisieren
wir – und zwar gerade im Namen der Richtigstellung des gouvernementalen Blicks
und der Effektivität gouvernementaler Praxis in einer Situation, wo das gute
Funktionieren der Regierung durch Parteiinteressen gefährdet wird. Die
Durchschaubarkeit solcher „Kommunikationsstrategien“ beruht gerade auf der
objektiven Erkennbarkeit der Regierungsprobleme. Wir sind tatsächlich in
Krisen, weil das bloß Tatsächliche unsere ganze Welt geworden ist.
Trost und Einsicht. Verweilen wir kurz bei der Problemfülle, der
Krisendichte als der Physiognomie unserer Zeit. Nach einer verbreiteten
Erzählung ist heute eine Ära zu Ende, in der als „Ende der Geschichte“ die
Weltbeglückung durch die globalisierte Marktwirtschaft und Demokratie im Ringen
mit dem Kommunismus siegreich geblieben war und sich nun Land für Land über den
Globus ausbreiten würde. Es ist hier die These, man hat es gesehen, dass das
Ende der Geschichte fortdauert und das Zeitalter der Krisen seine präzise
Gestalt darstellt.
Wenn es so viele Krisen
und Probleme gibt, dann weil uns die Seienden kaum noch anders erscheinen
können. Laut einer Redensart ist derjenige, der nicht Teil der Lösung ist, ein
Teil des Problems (und nicht etwas ganz anderes). Und was gelöst ist, das geht,
wie das Wort auch nahelegt, von sich aus dahin ohne weiterer Aufmerksamkeit zu
bedürfen.
Die ungezählten,
rücksichtslos vermehrten „Ereignisse“ unserer Zeit sind durchaus echt, aber sie
verlassen uns auch rasch wieder, meistens nicht einmal, um eine Leere
zurückzulassen, sondern schon durch ein neues „Ereignis“ ersetzt. Die Emotion
fehlt nicht, sondern wird kostengünstig weithin gehandelt. Was eigentlich
fehlt, sind Sinn und Zusammenhang, was eigentlich fehlt, ist die Erzählung.
Eine Literatur und eine Literaturwissenschaft, die in der Erzählung bloße
Technik sehen, werden zur Rettung auch nichts beitragen. Eine Literatur, die in
der Erzählung etwas Überholtes sieht, ist ihr hingegen schon eher auf der Spur.
Der Sinn geht aus der Erzählung hervor, die Erzählung entwirft sich auf dieses
Sinngeschehen hin. Darum trägt auch unsere Zeit die Signatur vom „Ende der
Geschichte“: hätte das alles ein Ziel, all die „Krisen“ wären nicht bloße
Störungen eines eigentlich guten Funktionierens, sie wären Hindernisse, die wir
überwinden. Und es wäre eine gute Geschichte gewesen.