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Marina Zwetajewa, «Ich sehe alles auf meine Art»

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen


Felix Philipp Ingold
Dichter in der Müllgrube
Marina Zwetajewa in ihren Schreibheften


Der globale Nachruhm der russischen Autorin Marina Zwetajewa ist eins der irritierenden Rätsel der neueren Literaturgeschichte: Obwohl sich ein Grossteil ihres lyrisches Werks dem Verstehen weitgehend entzieht durch seine extreme formale – lexikalische, syntaktische, klangliche – Komplexität, gehört sie heute zu den besterforschten und meistübersetzten Autoren der sogenannten klassischen Moderne. Die vielfältigen Schwierigkeiten, die sich der Lektüre wie der Interpretation bieten, haben die Rezeption nicht behindert, sondern, im Gegenteil, herausgefordert und damit auch begünstigt und vorangebracht. Das ist bemerkenswert, ja, erstaunlich angesichts dessen, dass «schwierige» Literatur heute weithin verpönt ist und als elitär, mithin als asozial und unzeitgemäss, wenn nicht als überflüssig gilt.
           Offenkundig geht das Faszinosum dieser Dichterin (die sich im übrigen stets männlich – als «Dichter» – bezeichnet hat) auf zwei negative Prämissen zurück, die in undurchschaubarem Wechselspiel eine positive Wirkung erzeugten; denn auf provokante Weise «schwierig» ist nicht nur ihr Werk, ebenso schwierig und komplex war ihr Charakter, der Stolz, Unnahbarkeit, Ruppigkeit einerseits, Selbstzweifel, Sentimentalität und Hysterie andrerseits untrennbar in sich vereinigte zu einer durchweg prekären psychischen Gemengelage – was ihr Hass und Verachtung, aber auch Respekt und Bewunderung einbrachte. Persönliche und künstlerische Geheimnishaftigkeit scheint hier zu produktiver Fusion zu kommen.


Dass sich Marina Zwetajewa in ständigem Wandel hetero-, homo- wie auch asexuell zu erkennen gab, machte sie in jüngerer Zeit für die Genderforschung und für entsprechend engagierte Leserkreise zusätzlich interessant – ihre Resonanz gewann dadurch an Reichweite und Intensität: Vorab in Frankreich, Italien, Tschechien, den USA und ebenso in Russland bildeten sich wissenschaftliche Kartelle, die ihr Werk bis ins letzte Detail aufarbeiteten, was im Nachgang unzählige Editionen in vielen Sprachen ermöglichte. Auch auf Deutsch liegen inzwischen Dutzende von Buchausgaben vor.
           Nachdem man die Zwetajewa zu Lebzeiten als Ausnahmeerscheinung marginalisiert, häufig auch uneinsichtig kritisiert hat, gehört sie nun nach verbreiteter Einschätzung fraglos zu den herausragenden Protagonisten der modernen europäischen Dichtung. Ihr Schaffen umfasst nebst Gedichten, Poemen, Versdramen und autobiographischer Prosa auch zahlreiche Essays und Tagebücher, dazu ein mehrbändiges Briefwerk, das an sprachkünstlerischer Bravour hinter ihrer Dichtung kaum zurücksteht – insgesamt ein Corpus hochkarätiger formalistischer Literatur, die ihre oft überanstrengte Künstlichkeit ebenso konsequent herausstellt wie die tragische Grundbefindlichkeit der Autorin und ihrer Epoche.


Die fulminante Tragik wie die ephemeren Freuden ihres Lebens – Horror des postrevolutionären Bürgerkriegs in Russland, Hungertod eines ihrer Kinder, Flucht und Exil, dauernde Armut, desolate Liebesbeziehungen, ausbleibende literarische Anerkennung – hat Marina Zwetajewa über viele Jahre hin (1913 bis 1939) skizzenhaft in ihren Notizheften festgehalten, dies im untröstlichen Bewusstsein, dass «niemand weiss, was für eine Wüste mein Leben ist». Erst lange nach ihrem Freitod (1941) hat man diese privaten Aufzeichnungen entdeckt und ediert; neuerdings liegen sie auch – leider stark gekürzt und ohne die von der Autorin eingerückten Gedichte – im Rahmen der noch unabgeschlossenen deutschen Werkausgabe vor.*

           Über manches darf man positiv verwundert sein, darüber, dass die Hefte überhaupt erhalten geblieben sind; da-rüber, dass die Autorin ihrem Elend, ihren Verlusten und Ent-täuschungen zum Trotz noch Zeit und Kraft gefunden hat, um insgesamt Hunderte von Seiten niederzuschreiben, die nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren und ihr deshalb auch keine Honorare einbringen konnten; darüber schliesslich, dass die Notate keineswegs auf die extensive Beschreibung alltäglicher Trivia beschränkt bleiben, dass sie darüber hinaus immer wieder auch letzte Fragen aufgreifen und abhandeln, Träume, Phanta-sien, Ängste rapportieren, dazu Reflexionen über Irrwege und Abgründe der Liebe, über das Handwerk und den Sinn des Schreibens. – Dass die Autorin manche ihrer Aufzeichnungen fast unverändert als Vorlagen und Impulsgeber für dichterische oder publizistische Texte hat nutzen können, lässt erkennen, wie produktiv punktuelle Beobachtungen und Einfälle für sie ge-wesen sind.


Wenn Marina Zwetajewa 1919, siebenundzwanzigjährig, notiert, ihre Worte, ihre Gedanken, ja alles sei so, «wie ich bin», ist damit nichts weniger gesagt, als dass jede ihrer Aufzeichnungen für voll genommen werden muss, weil ihr Geschriebenes mit ihr selbst eins sei, absolut authentisch, weder lobenswert noch kritikfähig, nur einfach Gabe, Hingabe – eine exorbitante Grosszügigkeit, die man als Leser auch als Überforderung empfinden kann, wissend, dass man keine adäquate Gegengabe zur Verfügung hat, es sei denn die totale Aufmerksamkeit und Akzeptanz für den Text.
              Tatsächlich fühlt man sich durch Zwetajewas Worte und Gedanken, mithin auch durch sie als Person eher geknechtet als befreit, eher belehrt als erfreut. Die Lektüre ihres dichterischen Werks ist ein strenges Exerzitium, erfordert ebensoviel Intuition wie analytisches Vermögen, wird aber immer wieder belohnt durch jähe Erhellungen und ungeahnte Einsichten, die man spontan mit Ah! und Ja! quittiert.


Die Neigung der Autorin zu emotionalem Pathos, zu Pauschalurteilen und sprachspielerischem Raunen mag gelegentlich strapazierend sein, führt jedoch andrerseits dazu, dass ihre Notate oftmals – sei’s gewollt, sei’s ungewollt – zu Aphorismen mutieren, die als solche auch ausserhalb der Hefte bestehen können. Es liesse sich aus diesen eingerückten Mikrotexten ein Ensemble von «Weisheiten» und «Wahrheiten» arrangieren, die den Vergleich mit klassischer Aphoristik nicht zu scheuen bräuchten, die in vielen Fällen aber auch als ungeschützte persönliche Bekenntnisse zu lesen sind; hier ein paar solcher Sätze zum Beispiel – als Schluss einer Würdigung, die im Übrigen defizitär bleiben muss:
            «Jeder hat im Leben sein Ereignis, das sich wiederholt. Man nennt es ‘Schicksal’.» – «Erotik, das gleicht Mund und Schlund.» – «Meine Gedichte sind immer jünger als ich, sie holen mich nie ein.» – «Es gibt keine beste Zeit für die Liebe, und wenn doch, dann ist es am ehesten der Mittag, die Blindheit, wenn die Seele abwesend ist.» – «Die einzige Liebe, vor der einem hinterher nicht übel wird, ist die Liebe jenseits des Geschlechts …» – «Das Genie des Dichters ist – das Genie der Assoziationen. (Das des Denkers ist – das der Dissoziationen.)» – «Ob Leidenschaft schön macht? Leidenschaftslosigkeit macht schön!» – «Mich braucht keiner: mein Feuer braucht keiner, weil man darauf keine Grütze kochen kann.» – «Ins Bett lege ich mich wie in ein Grab. Und jeden Morgen – tatsächlich – die Auferstehung von den Toten.»
            Und so fort ad libitum, und das heisst bei Marina Zwetajewa: bis zum Gehtnichtmehr. Maximalismus in allen Dingen, das war ihre Lebens- und Arbeitsdevise, im Kleinen wie im Grossen, im Jubel wie im Schmerz: «Der Dichter in der Liebe. Nein, sei Dichter in der Müllgrube.»

*) Marina Zwetajewa: «Ich sehe alles auf meine Art» (Aus den unveröffentlichten Notizbüchern), Gesammelte Werke, III – übersetzt und herausgegeben von Ilma Rakusa. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2022. 624 Seiten. 44,00 Euro.

Von Felix Philipp Ingold als Übersetzer, Kommentator und Herausgeber liegt u.d.T. »Morgen soll für übermorgen gelten« eine umfangreiche Lyrikauswahl von Marina Zwetajewa auf Deutsch vor:
 
Marina Zwetajewa: Morgen soll für übermorgen gelten. Klagenfurt (Ritter Verlag) 2020. 280 Seiten. 27,00 Euro.
Rezension von Timo Brandt »


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