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Marin Sorescu: Jonas (Ausschnitt, übersetzt von Alexandru Bulucz)

Montags=Text
Marin Sorescu
JONAS

Ausschnitt, übersetzt aus dem Rumänisch von Alexandru Bulucz
 
 

[…]

Mir gefielen sie früher, die Insekten, mir gefielen alle Arten von Insekten … Ich beobachtete sie ganz gedankenversunken. Draußen im Freien, als ich nach ihnen sah.
 
Da gibt es eine Art von Insekten, ameisenähnlich, ich weiß nicht, wie sie heißen … (Denkt nach.) Keine Ahnung.
 
Sie stechen kleine Löcher in die Erde wie mit einer Nadelspitze. Sie irren eine Zeitlang auf der Wiese herum, dann suchen sie dort Schutz.
 
Wie, um alles in der Welt, finden sie nur ihre winzigen Einstichstellen wieder, jedes Insekt die seinige?
 
Einmal habe ich ein solches Insekt, das gerade im Begriff war hinunterzusteigen, mit aufs Pferd genommen, denn ich ritt ein Pferd, und wir ritten weit, erst nach sieben Poststationen ließ ich es wieder frei. Um zu sehen, ob es zurückfindet.
 
(Neugierig.) Und fand es wieder zurück?
 
Das weiß ich nicht, denn ich hatte keine Zeit, nachzuschauen. Anderes kam dazwischen. Die Geschichte mit …
 
Ach ja, der Krieg, ich ging in den Krieg.
 
(Verärgert.) Ja doch, schau mal! So werden wir von unserer Arbeit abgehalten!     
 
Ich habe Mutter nach Hause geschrieben, sie möge die Stelle untersuchen gehen.
 
Und?
 
Sie hat die Stelle nicht mehr gefunden. Ein Erdbeben kam dazwischen und hatte sie woandershin verrückt.
 
Aha! (Pause.)
 
Damals musste ich die ganze Zeit an meine Frau denken.
 
Jetzt, da die Tage verstreichen, verblasst sie in meiner Vorstellung, und Mutter klart auf. Wie bei den Brunnen mit zwei Wassereimern. Der eine neigt sich, der andere schwebt herauf. Jetzt schwebt nur noch Mutter zu mir herauf.
 
Nach Hause kommen!
 
Wie klar ich sie sehe!
 
Auch sie denkt an ihre Mutter vielleicht, in genau diesem Augenblick. Wenn ihre Großmutter noch leben würde, auch sie würde jetzt an ihre Mutter denken. Solche Zufälle gibt es. Ich glaube, es gibt, zeitlebens, einen Augenblick, in dem alle Menschen an ihre Mütter denken. Selbst die Toten. Die Tochter an die Mutter, die Mutter an die Großmutter, die Großmutter an die Mutter … bis eine einzige Mutter übrigbleibt, eine Urmutter …
 
Wie still es dann wäre auf der Welt!
 
Würde in dem Augenblick jemand um Hilfe schreien, er würde auf der ganzen Erde gehört werden.
 
(Um sich herum suchend.) Würde ich hier eine leere Flasche finden, ich würde einen Zettel nehmen und ihn beschriften, ihn hineintun und ins Meer werfen.
 
Mutter – würde ich schreiben –, mir ist ein großes Unglück widerfahren.
 
(Bittend, exaltiert.) Gebier mich noch einmal!
 
Mein erstes Leben glückte nicht ganz. Das könnte jedem passieren. Wer kann schon nach Herzenslust sein Dasein fristen? Aber vielleicht beim zweiten Mal …
 
Und wenn nicht beim zweiten Mal, dann vielleicht beim dritten Mal. Und wenn beim dritten Mal auch nicht, dann vielleicht beim vierten Mal. Oder beim zehnten Mal. Ängstige dich nicht vor solcher Nichtigkeit und gebier mich immer aufs Neue. (Pause.)
 
Ständig engleitet uns etwas im Leben, und deshalb müssen wir stets aufs Neue geboren werden.
 
[…]
 
(Klettert auf einen Steinhaufen.) Was siehst du?
 
Den Horizont.
 
Was ist das, Horizont?
 
(Entsetzt.) Der Bauch eines Fisches.
 
Und was folgt hinter diesem Bauch?
 
Ein weiterer Horizont.
 
Was ist dieser Horizont?
 
Der Bauch eines Riesenfisches.
 
Schau noch einmal. (Jonas schaut nach, dann bedeckt er seine Augen mit den Handflächen.)
 
Was hast du gesehen?
 
Nichts.
 
Was hast du gesehen?
 
Nichts, nur eine unendliche Reihe von Bäuchen. Wie Fenster nebeneinandergestellt.
 
Eingeschlossen zwischen all diesen Fenstern!
 
Ich bin wie ein Gott, der nicht mehr auferstehen kann. Seine Wunder haben alle stattgefunden: seine Ankunft auf der Erde, sein Dasein, selbst sein Tod, doch, einmal hier auf der Erde angekommen, bleibt ihm die Auferstehung verwehrt im Grab. Er schlägt seinen Kopf gegen die Wände, greift auf alle Geistes- und Wunderkräfte zurück, protzt mit seiner Göttlichkeit wie ein Zirkuslöwe im Feuerkranz. Geht jedoch unter inmitten der Flammen. Er ist so oft am Himmel herumgesprungen, er hat zu keiner Zeit daran gedacht, über die Auferstehung zu stolpern.
 
Und oben wartet auf ihn der Kosmos.
 
Sie alle glauben an ihn, einige werden fast verrückt vor lauter Glaube. „Jederzeit könnten sich die Grabsteine öffnen wie die Kronblätter einer Seerose, und der Tote wird, selbstverständlich, auferstehen, nach der langen Wartezeit des Menschen. Und er wird zum Himmel fahren und uns als leuchtendes Vorbild dienen.“
 
Denn wir Menschen, wir wollen nichts anderes als einen Beweis für die Auferstehung. Danach werden wir beruhigt heimkehren, um friedlich zu sterben, menschenwürdig, in unseren Häusern.
 
Doch zuerst wollen wir ihn unbedingt sehen.
 
Dabei ist er hier, im Grab, am Ende seiner Kräfte, ohne Stimme, um ihnen zuzurufen: „Ihr guten Menschen, die Auferstehung wurde verschoben!“

[…]


Vertonung des Ausschnitts auf Rumänisch
von Ilie Gheorghe (1940-2018), rumänischer Schauspieler in Theater und Film, sowie Theaterregisseur.
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