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Luis Quintais: Shoah

Gedichte > Münchner Anthologie
Luis Quintais

Shoah

A mansidão de Deus, não das vítimas,
seria o que havíamos colhido das cinzas da história.

Um sopro de destruições e as feridas sem sutura:
tudo isso era demasiado humano.

para pertencer a Deus, para O dizer.
Na Sua casa, Ele permanecia

enrolado sobre si mesmo, criança aterrorizada
que só pode esperar, impotente, a violência

que cairá em breve sobre Si.
E o remorso dos humanos? Onde estará

esse dispêndio, essa dor atenuada?
Pensei que a mansidão era só ausência, depois.

Que as vítimas eram os mansos,
cordeiros narcotizados para o abate, balindo o desespero,

chorando o só pressentido, a orfandade dos anónimos.
A lâmina desceria inapelável

sobre a cabeça dos mansos,
porque Deus fizera-se pretérito e mutismo,

erro sem correcção, fogo de devorações,
hálito da metáfora demoníaca.

Um outro legado vem ter comigo, hoje.
Deus é expropriado da salvação por profissionais,

uciferinos algozes, zelosos funcionários da condenação.
De todos os lados, as almas, se de almas se trata, são laceradas.

Deus é humilhado sem deixar de salvar os que pode.



Aus Luis Quintais: A Noite Imóvel, Verlag Assirio & Alvim, 2016.
Luis Quintas

Shoah

Die Sanftmut Gottes, nicht der Opfer,
wäre das, was wir aus der Asche der Geschichte aufgelesen hatten.

Ein Hauch von Zerstörungen und die Wunden ohne Nähte:
all das war nur zu menschlich,

um Gott anzugehören, um Ihn auszusprechen.
In Seinem Haus blieb Er zurück,

in sich eingerollt, ein verängstigtes Kind,
das machtlos nur die Gewalt erwarten kann,

die bald über Es herfallen wird.
Und die Gewissensbisse der Menschen? Wo wird

dieser Aufwand bleiben, dieser gelinderte Schmerz?
Ich dachte, Zahmheit wäre nur die Abwesenheit, danach.

Dass die Opfer die Sanftmütigen waren,
Lämmer, für die Schlachtung betäubt, die Verzweiflung blökend,

das lediglich   Erahnte beweinend, das Waisentum der Namenlosen.
Das Beil würde unerbittlich

über die Köpfe der Zahmen schnellen,
weil Gott Vergangenheit und Schweigen geworden war,

Fehler ohne Verbesserung, verzehrendes Feuer,
Hauch der dämonischen Metapher.

Ein weiterer Gesandter kommt heute auf mich zu.
Gott wird der Erlösung enteignet, von Fachleuten,

luziferischen Henkern, eifrigen Beamten der Verurteilung.
Von überall werden die Seelen, sofern es denn um Seelen geht, zerrissen.

Gott wird gedemütigt, unterlässt aber nicht, die zu retten, die er retten kann.


Aus Luis   Quintais, Die reglose Nacht, Poesie, Aphaia-Verlag 2021. Ins   Deutsche übertragen von Mário Gomez
Ulrich Schäfer-Newiger

Über das Unsagbare dichten?


1 Anamnetische Vorbemerkung

Simone de Beauvoir beginnt ihren Essay Das Gedächtnis des Grauens mit dem Satz „Es ist nicht einfach über Shoah zu sprechen.“ Was sie meint, ist der neunstündige Film „Shoah“ von Claude Lanzmann. Der Essay ist das Vorwort zum Buch, der den vollständigen Text, die gesprochenen Worte und Untertitel des Films enthält. Beauvoir begründet die Schwierigkeit des Sprechens mit unserer vollständigen Unkenntnis, mit der totalen Fremdheit des grauenhaften Geschehens für uns Gegenwärtige. Erst der Film von Lanzmann werde zu einer eigenen Erfahrung. Lanzmann gelinge es, „über alle Worte hinaus das Unsagbare von den Gesichtern [der Erzählenden] ausdrücken“ zu lassen. Oder Cordelia Edvardson: In einem imaginierten Brief an Primo Levi, der als Nachwort in seinem Buch ‚Ist das ein Mensch? Die Atempause‘ abgedruckt ist, schreibt sie „Flüstere es dem Wind, wirf es wie stumme Steine ins Meer, ruf es in den Wald, künde es von den Gipfeln. … Sag es aber nicht den Menschen. Da ist keine Sprache, da sind keine Worte, mit deren Hilfe Du das Unsagbare sagen, das Unbegreifliche klären könntest. Kein Sprachgewand, das über das Skelett Deiner Erfahrung geworfen werden könnte. Keine Buchstaben für den Schrei.“

Ist es, angesichts dieser jenseits aller sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten liegenden Ungeheuerlichkeit, dieser unüberwindbaren Grenze zum Sagbaren, nicht fahrlässig und vermessen, im einundzwanzigsten Jahrhundert einen Text mit dem Titel „Shoah“ zu schreiben, zumal ein Gedicht? Zumal der Autor 1968 geboren wurde, zumal er selbst also keine Zeuge gewesen sein kann, bestenfalls ein mittelbarer Zeuge vom Hörensagen, vermutlich aber nur ein Leser von Texten, ein Zuschauer von Filmen? Und, weitergedacht: Ist es nicht gleichermaßen vermessen, über einen solchen Text im Jahre 2021 einen Essay schreiben zu wollen, zumal von einem Autor, auf den diese Eigenschaften (bis auf das Geburtsjahr) auch alle genauso zutreffen? Wäre es nicht besser, wenn beide schwiegen? Bekommt unter diesen Umständen Adornos altes und z.T. bis zur Unkenntlichkeit hin- und hergedrehtes Verdikt besonderes Gewicht, es sei eine Barbarei, nach Ausschwitz Gedichte zu schreiben „und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben“? Die seinerzeit heftige Diskussion über diese Aussage muss hier nicht nachgezeichnet werden. Denn Adornos Satz, ob als moralische Forderung gedacht oder noch mehr, ist empirisch widerlegt. Jedes nach Ausschwitz und über Auschwitz geschriebene Gedicht steht im performativen Widerspruch zu Adornos Aussage. Dennoch, im Gedächtnis sollte bleiben sein Hinweis: „Der Begriff einer nach Auschwitz auferstandenen Kultur ist scheinhaft und widersinnig, und dafür hat jedes Gebilde, das überhaupt noch entsteht, den bitteren Preis zu bezahlen.“[i] Denn: „Kann die Kunst den Rezipienten das unbeschreibliche Grauen nicht vermitteln, widerfährt den Opfern der Shoah Unrecht.“[ii]

Das Gedicht von Luis Quintais ist nun in der Welt, auch in der deutschsprachigen Welt, und die Gedanken, die beim Lesen entstehen, sind auch da im Kopf. Schweigen ist daher und aus allen anderen guten Gründen keine Option. Quintais‘ Gedicht ist nicht das erste zum Thema und wird auch nicht das letzte sein. Nur eben ein großes Wagnis, das Mut erfordert oder Naivität oder eine Mischung aus beidem. Denn die größte Gefahr, die mit einem Text Nachgeborener, der den Titel „Shoah“ trägt, verbunden ist, ist der der unbewussten Instrumentalisierung, oder der versuchten nachträglichen Sinngebung, oder der der Relativierung, der Einordnung in irgendeinen Vorstellungs- oder Erfahrungsrahmen, oder überhaupt einer Erklärung des Ungeheuerlichen. Es wird auch festgestellt werden müssen, ob Quintais‘ Gedicht dieser Falle entgeht.


2 Gott, Lämmer, Ingenieure

Also „Shoah“. Das Wort, selbst in den praktischen Sprachgebrauch eingeführt, im Grunde genommen durch Lanzmanns Film 1985, ist selbst Ausdruck der eigentlichen Unbenennbarkeit des Grauens. Frei übersetzt bedeutet es großes Unheil, Katastrophe, Zerstörung. Die ursprüngliche Bedeutung steht für ein biblisches Unheil, von dem das Volk Israel betroffen wird. Jesaia 10,3 gilt als Beleg: Was wollt ihr tun am Tage der Heimsuchung und des Unglücks, das von Fern kommt?

Der Begriff hat einen Bedeutungswandel oder eine Bedeutungsverschiebung erfahren: Verstanden wird das hebräische Bibelwort inzwischen als Oberbegriff für die Verfolgung und Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten in den Jahren 1933 bis 1945. Auf den Unterschied zum synonym verwendeten Begriff „Holocaust“[iii] komme ich nachfolgend noch kurz zu sprechen. Wer den Begriff „Shoah“ verwendet, namentlich als Titel für ein Gedicht, erklärt damit, sich genau mit der Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten zu beschäftigen und mit diesem Thema poetologisch umgehen und etwas vermitteln zu können von den grauenhaften Geschehnissen, ohne den Opfern Unrecht zu tun. Also: Ein gewaltiger Anspruch.

Das Gedicht beginnt mit den Versen: Die Sanftmut Gottes, nicht der Opfer / wäre das, was wir aus der Asche der Geschichte aufgelesen hatten.

Damit ist das Thema eröffnet (und es beginnen sogleich die Schwierigkeiten, sich dem Text zu nähern): Was bleibt von Gott nach der Shoah, nach Auschwitz? Kann es überhaupt eine jüdische oder christliche Theologie zu und nach Auschwitz geben? Ganze Bibliotheken gibt es über die Versuche, auf diese Fragen eine Antwort zu formulieren.[iv] Ganz verschiedene, ja gegensätzliche Meinungen über das Schicksal Gottes nach Ausschwitz haben sich herausgebildet, bis hin zu der Überzeugung, er sei nun endgültig tot, und in Ausschwitz sei auch die christliche Seele gestorben, das ungläubige Ungeheuer Hitler habe am Ende also doch gewonnen (natürlich eine heftig umstrittene und bekämpfte These).

So weit geht der portugiesische Dichter zunächst nicht. Er meint, aus der verbliebenen „Asche der Geschichte“, hätte noch die Sanftmut Gottes aufgelesen werden können. Auch im portugiesischen Original steht diese Aussage im Konjunktiv. ‚Asche der Geschichte‘ (cinzas da história) – eine sehr symbolisch-pathetische Genitivkonstruktion, die zunächst an Celans Gedichttitel ‚Aschenkraut‘ erinnern mag, jedenfalls Verbranntes voraussetzt, durch Feuer Zerstörtes. Das Bild der Verbrennungsöfen taucht auf. Aber reicht diese Vorstellung? Sind weitere Assoziationen erforderlich, um den Text zu erfassen? Denn es folgen in ihm Bilder und Szenen, die sich nicht unmittelbar aus sich heraus erklären: „Hauch der Zerstörung“, „Wunden ohne Nähte“; „allzumenschlich, um Gott anzugehören, um ihn auszusprechen“, „in seinem Haus blieb Er zurück / in sich eingerollt, ein verängstigtes Kind, / das machtlos nur die Gewalt erwarten kann, // die bald über Es herfallen wird.“ Wo sind wir da? Doch nicht im Vernichtungslager, sonst könnte doch von einem „Hauch der Zerstörung“ die Rede nicht sein.

Sind ungenähte (also: offene, nicht verheilte?) Wunden, Haus, eingerolltes Kind, usw. Symbole, Metaphern? Sicher scheint zu sein, dass in diesen wenigen Zeilen Gott, „Er“ zum „in sich eingerollten Kind“ wird – „Es“, über das bald Gewalt herfallen wird. Ist das der Versuch, doch ein Sprachgewand zu weben um das Unsagbare? Auch der weitere Fortgang des Gedichts hilft nicht unmittelbar: „Gewissensbisse der Menschen“ werden genannt und „Aufwand“ und „gelinderter Schmerz“, „Zahmheit“ und „Abwesenheit“.

Wenn dieses Gewebe von Worten und Bildern nicht aus sich heraus erklärbar zu sein scheint, hilft vielleicht ein Blick in die Umgebung, in der das Gedicht im Buch erscheint. Es ist das zweite Gedicht im zweiten Kapitel, welches überschrieben ist mit „Trümmer“. Das erste Gedicht in diesem Kapitel, „Gott und Nacht“, greift zwei Äußerungen von Wallace Stevens auf, die auch zugleich als Motto über dem ganzen Buch stehen, nämlich: Night and the imagination being one. …We say God and the imagination are one … Im Gedicht “Gott und Nacht” nun erklärt uns der Dichter, Gott und Nacht zerfielen und die Leere sei der Zusammenbruch dieser Gestalt. Gott (und Nacht) haben sich in Leere verwandelt. Gott gehört zu den in den verschiedenen Gedichten des Kapitels poetologisch erfassten, ganz unterschiedlichen Trümmern der Gegenwart.

Im Gedicht ist Gott bildlich zu einem in sich eingerollten, verängstigten, hilflosen Kind geworden, welches „machtlos nur die Gewalt erwarten kann“. Wer die Geschichte kennt, wird bei diesem Bild nahezu zwangsläufig, vor allem anderen, an den Bericht in Elie Wiesels autobiografisches Buch „Die Nacht“ erinnert:

Es kommen „drei Lager-Insassen an den Galgen, darunter ein Kind. Alle anderen Inhaftierten werden gezwungen zuzuschauen. „Wo ist Gott, wo ist er?“ fragte jemand hinter mir… Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr. Aber der dritte Strick hing nicht leblos, der leichte Knabe lebte noch. Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen: „Wo ist Gott?“ Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: „Wo er ist? Dort hängt er, am Galgen...“[v]

Also ist Gott, zuletzt ein hilfloses Kind, tot? Für den Autor nicht. Dazu muss Luis Quintais zunächst nach dem Verbleib des Aufwandes für die Gewissensbisse der Menschen und deren dadurch (?) gelinderten Schmerz fragen. Und dann sich endlich den Opfern zuwenden. Das waren nach seiner Lesart die „Sanftmütigen“, „Lämmer, für die Schlachtung betäubt, die Verzweiflung blökend.“

Damit bedient er sich nun eines der m.E. im Zusammenhang mit der Shoah missverständlichsten Bildern. Denn zumindest die christlich getauften portugiesischen und deutschen Leser müssen damit zuerst das Lamm als Symbol des von Gott geopferten Jesus assoziieren: „Des andern Tages sieht Johannes Jesus kommen und spricht: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt“ (Joh. 1,29). Nach der christlichen Lesart hat Jesus wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, Sünde und Schuld auf sich genommen, um uns zu erlösen. Und sind alle christlich sozialisierten Leser (auch, wenn sie Atheisten sind) nicht verführt, in Elie Wiesels Bericht ein Bild der Kreuzigung Jesu zu sehen?

Tatsächlich verbietet sich diese Assoziation, denn sie würde gleichsam eine zumindest teilweise religiöse Korrespondenz zwischen Juden und Nazis implizieren: Wenn erstere geopfert werden (Opfer sind), dann folgt daraus zwangsläufig, dass letztere dieses Opfer anbieten und Gott das Opfer empfängt. „Im Ergebnis überträgt man damit den Nazis eine quasi priesterliche Rolle“; Gott und die Nazis sind Komplizen in der Opferung der Juden [vi]. Das ist auch der Einwand, der gegen die Verwendung des Begriffes „Holocaust“ für die Judenvernichtung ins Feld geführt wird. Denn dieser Begriff, der wörtlich und vereinfacht übersetzt „Brandopfer“ bedeutet, ist im Grunde eine Entlastung für die Täter, weil er eben zugleich auf ein solches rituelles Brandopfer für Gott verweist.

Ob dem Autor diese Interpretationsmöglichkeit bewusst war, als er „Opfer“, „Lämmer“ und „Schlachtung“ in einem Vers miteinander in Verbindung brachte, mag dahinstehen.  

Denn der Titel „Shoah“ rechtfertigt dieses Verständnis des Charakters der Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsbemühungen, namentlich der jüdischen Opfer, nicht.

Es spricht viel dafür, dass der Autor zwar auch die alttestamentarische Vorstellung von Lämmern, die geduldig, passiv, und ohne Widerstand ihre bevorstehende Schlachtung erwarten, im Sinn hatte. Die Widerstandslosigkeit, mit der Juden in den Vernichtungslagern in die Gaskammern gingen und vor die Erschießungskommandos traten, ist viel beschrieben worden [vii]. Lämmer können aber darüber hinaus auch verstanden werden als zu behütende Herde.  Psalm 23 ist praktisch die Rede eines Schafes über seinen guten Hirten, der es auf einer grünen Aue weidet und es beschützt, behütet und versorgt und das verspricht, in seinem Haus immerdar zu bleiben.

In Luis Quintais‘ Gedicht hingegen müssen wir lesen, dass Gott (als zusammengerolltes Kind) in seinem Haus ganz alleine zurückblieb, und wir erfahren, dass die sanftmütigen Lämmer, vor Verzweiflung blökend, Waise und Namenlose geworden waren, „weil Gott Vergangenheit und Schweigen geworden war.“ Die Lämmer haben Gottes Haus entgegen ihrem Versprechen doch verlassen.

Unmittelbar nach dieser Stelle kommt im Gedicht ein „weiterer Gesandter“ auf „mich“ (ist das der Autor?) zu. Und er erfährt, dass Gott von Fachleuten, luziferischen Henkern und eifrigen Beamten der Verurteilung, der Erlösung enteignet sei. Demnach haben die Erlösung Andere übernommen, nämlich die rational-technischen Ingenieure und Vollstrecker der Moderne.

Von überall her, von allen Seiten, sagt der Dichter schließlich weiter, würden die Seelen zerrissen, sofern es denn um Seelen geht. Die Zerrissenheit der Seelen eröffnet ein weiteres, nahezu grenzenloses Interpretationsfeld, dem hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden kann. Die Gebrüder Grimm verstanden unter „Zerrissenheit“ u.a. noch das konkrete Zerrissen-Sein von Dingen und Gebilden, wussten aber auch schon etwas von der Zerrissenheit der Seele. Im heutigen Duden wird damit alleine ein „Zustand inneren Zerrissenseins“ verstanden. In alten, antiken Mythen werden einige zerrissen: Z.B. Orpheus von den Mänaden, Pentheus aus Theben von seiner eigenen Mutter und anderen Verehrerinnen des Dionysos.  Dieser selbst wird als Kind in Lammgestalt (!) und unter dem Namen Zagreus von zwei Titanen auf Geheiß Heras zerrissen (und später wieder zusammengesetzt oder, in einer anderen Variante, wird sein Herz gerettet, von Semele, seiner Mutter, gegessen und er so erneut ‚empfangen‘ und wieder geboren).

Die alten Mythen helfen angesichts der Shoah indessen nicht weiter. Sie können nichts beitragen zu ihrem Verständnis oder zu irgendeiner diesbezüglichen Erfahrung in der Gegenwart. Sie sind zu weit von uns entfernt, als dass das singuläre Ereignis der Shoah sich von ihnen in irgendeiner Weise einfangen und einordnen ließe. Und jeder Versuch, das Geschehen in einen der alten Mythen einzuordnen, wäre zugleich ein Versuch, ihm seine Singularität und seinen Schrecken zu nehmen.

Die Zerrissenheit der Seele als inneren Zustand des gegenwärtigen Menschen, der von der Shoah weiß, können wir uns jedenfalls besser vorstellen, ohne dass wir gleich Bezüge zu einem anderen (mythischen) Ordnungsrahmen herstellen müssten.

Der Verfasser des Gedichtes macht noch eine weitere, wichtig-merkwürdige Einschränkung, nämlich: sofern es denn um Seelen geht. Er will uns vielleicht sagen: Möglicherweise gibt es ja gar keine Seelen. Das Wort ‚Seele‘ ist doch reine Metaphysik, eine Erfindung unseres Geistes, wie Gott? Dieser angedeutete Seelenzweifel ist ein weiteres deutliches Zeichen der pessimistisch-melancholischen, gottesfernen Grundstimmung des Autors.

Für ihn ist Gott jedenfalls seiner Allmacht beraubt: Gott wird gedemütigt, unterlässt aber nicht, die zu retten, die er retten kann. Er kann nicht alle retten, nur einige. Aber welche? Mit diesem ernüchternden Bild endet das Gedicht und lässt uns der Autor alleine. Damit befindet er sich in guter Gesellschaft mit der ‚liberalen‘ jüdischen Auffassung, wie sie Hans Jonas oder auch Michael Brumlik vertreten: Nach der Shoah sei von den drei Prädikaten Gottes, nämlich Allgüte, Allwissen und Allmacht, die letztere zu streichen. Es habe sich gezeigt, dass er nicht jemand ist, der von „jenseits des Weltalls beliebig in die menschlichen Dinge reinfunken kann.“ (Michael Brumlik) [viii]

Das Gedicht sagt uns: Gott ist in und nach der Shoah sanftmütig, ein in sich zusammengerolltes Kind, alleine zu Hause, die Gewalt erwartend, er ist zugleich Vergangenheit und Schweigen. Er rettet auch die, die er in ihrem Zustand noch retten kann. Das ist ein Gottesbild, welches der Feststellung von Dietrich Bonhoeffer nahekommt: „Nur der leidende Gott kann helfen.“[ix] Aber hilft uns eine solche Vorstellung in unserer säkulären, ohnehin gottvergessenen Gegenwart?

An einigen Stellen des Gedichts kann man den Eindruck gewinnen, der Autor zöge sich hinter den im Deutschen sogenannten Konjunktiv II zurück (den es in dieser Form auch im Portugiesischen gibt): Die Sanftmut Gottes wäre … oder: Das Beil würde … über die Köpfe … oder eben: Wenn es denn überhaupt um Seelen geht [gehen würde].  Der sprachliche Konjunktiv, die Möglichkeitsform als Rückversicherung, die Existenz einer Seele als conditio sine qua non für die ganzen Überlegungen zu Gott in und nach Auschwitz. Dies mögen Zeichen des Versuchs sein, das an sich nicht fassbare Thema zu umkreisen, einzufangen, eine mögliche Antwort abzustecken. Aber noch einmal: Ist eine Antwort darauf in einer Welt nach Auschwitz überhaupt möglich?

Gedichte sollen nicht Fragen beantworten oder Rätsel lösen, sondern ihnen eine Form geben. Hat Luis Quintais dem Rätsel von Gott nach Ausschwitz eine Form gegeben? Das sicher. Aber hat sein Gedicht damit auch das unsagbare Grauen vermittelt? Kann das Gedicht heute, mehr als 76 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und in Zeiten verblassender oder nur noch historisierender Erinnerung, dem eine Form geben, was nach wie vor unsagbar ist? Diese Frage kann hier nur unbeantwortet stehen bleiben.


[i] Theodor W. Adorno: Jene zwanziger Jahre, zitiert nach Wikipedia „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch“.
[ii] Carolin Bendel, Die Shoa und das Problem der Unsagbarkeit, abgerufen am 30.6.2021 unter: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/die-shoa-und-das-problem-der-unsagbarkeit/
[iii] vergl. zum Begriff und dem Unterschied zum Begriff ‚Holocaust‘ u.a.: Vanessa Becker, Gottesfinsternis – Der innerjüdische Diskurs um die Shoah, z.T. abzurufen unter: https://www.grin.com/document/90785), mit weiteren Quellenhinweisen. Die Diskussion darüber, welcher Begriff der angemessenste für das eigentlich Unbennbare ist, Shoah, Holocaust oder Churban, kann hier im Rahmen dieser Gedichtbesprechung nicht wiedergegeben werden. Vergl. zur Einführung ins Thema z.B. Bendel, a.a.O. So wird z.T. eingewandt, der Begriff „Shoah“ schließe andere Opfer der Vernichtungsfabriken der Nazis aus, z.B. Sinti, Roma, weitere Nationalitäten und Volksgruppen. Eine kritische Diskussion über dieses und andere Argumente für und gegen die drei genannten Begriffe würde unmittelbar zum Verständnis des hier behandelten Gedichtes nichts weiter beitragen.
[iv] Ich nenne nur einige wenige Autoren: Hans Jonas, Elie Wiesel, Eliezer Berkowits, Emil Fackenheim, Irving Greenberg, J.B. Metz, Jürgen Moltmann, usw. Einen guten und kurzen Überblick bietet auch das Kapitel „Schoah“ in Navid Kermanis „Der Schrecken Gottes.“  S. 264 f.
[v] Zitiert nach: Jens Rosbach, Wo war Gott in Auschwitz? abgerufen am 19.5.2021 von:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/juedischer-glaube-und-die-shoa-wo-war-gott-in-auschwitz.1079.de.html?dram:article_id=376897.
[vi] Vgl. dazu ausführlich Becker, a.a.O. (Fn. iii)
[vii] Vergl. z.B. Navid Kermani, Der Schrecken Gottes, München 2015 (2. Aufl.), S. 265. Er verweist vor allem auf die Kraft des Glaubens, der den Juden diese Haltung ermöglicht habe.
[viii] Zitiert nach: Jens Rosbach, a.a.O. (Fn v)
[ix] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, zitiert nach Jürgen Moltmann: Die Grube – Wo war Gott? Jüdische und christliche Theologie nach Auschwitz, abgerufen am 26.6.2021 von:
https://docplayer.org/205044285-Die-grube-wo-war-gott-juedische-und-christliche-theologie-nach-auschwitz.html


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