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Luis Quintais: Glas

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Ulrich Schäfer-Newiger


Luís Quintais: GLAS


Von dem 1968 in Luena, dem ehemaligen Luso der früheren portugiesischen Kolonie Angola, geborenen Lyriker Luís Quintais liegt jetzt erstmals ein Band von poetischen Texten in deutscher Sprache vor. Mário Gomes hat dessen 2014 in Portugal erschienen Gedichtband „O Vidro“ übersetzt, erschienen ist er im Aphia-Verlag unter dem Titel „Glas“.
    Luís Quintais ist in Portugal kein Unbekannter. „O Vidro“ ist sein neunter Gedichtband. 2016 erschien eine erste Werkausgabe, eine Auswahl aus seinen bisherigen Arbeiten, die über 800 Seiten umfasste. Er wurde auch bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet (Prémio Nacional de Poesia António Ramos Rosa 2016; Prémio P.E.N. Clube Português de Poesia 2015; Prémio Fundação Inês de Castro 2014). Da dieser Lyriker, der als Professor für Anthropologie in Coimbra arbeitet, in Deutschland bislang praktisch unbekannt ist (auch wenn es jetzt einen kleinen deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag gibt), enthält die deutsche Ausgabe ein instruktives und lesenswertes Vorwort von Nuno Carillho. Der deutsche Leser erfährt darin einige biographische Eckpunkte zur Person des Dichters, vor allem aber wird auf den poetologischen Hintergrund der Lyrik des Autors verwiesen. Das erleichtert in der Tat den Zugang zu seinen Texten, denn in der klassischen Tradition portugiesischer Lyrik des 20. Jahrhunderts, wie sie etwa durch Miguel Torga, Sophia de Mello Breyner-Andresen, Eugénio de Andrade oder auch dem Surrealisten Alexandre O’Neill, oder dem auch nicht mehr jungen Nuno Judice (um nur einige ganz wenige zu nennen), geprägt ist, steht der Autor prima facie nicht. Jedenfalls wage ich vorsichtig dieses Urteil auf der Grundlage einer nur rudimentären Kenntnis dieser Lyriker. Denn von allen Genannten gibt es in Deutschland keine oder nur wenige Texte und erst recht keine Darstellung ihrer Poetologie – außerhalb möglicherweise vorhandener universitärer Forschung. Der dtv-Band „Portugiesische Lyrik des 20. Jahrhunderts“ von Curt Meyer-Clason, aus dem Jahre 1993, ist längst vergriffen und enthält eben nur ins Deutsche übersetzte Lyrik bis Anfang der 90iger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Für moderne portugiesische Lyrikerinnen gibt es da eine dankenswerte Ausnahme aufgrund der 2010 erschienenen zweisprachigen Anthologie mit dem Titel „Schriften weiß wie die Nacht“ herausgegeben von Elfriede Engelmayer).


„O Vidro“ – „Glas“, besteht aus zwei Teilen. Der erste mit dem Titel „Glas“ enthält auf 49 Seiten einen fortlaufenden lyrischen Text, der sich dadurch auszeichnet, dass er aus drei Zweizeilern je Seite besteht. Der zweite Teil, betitelt mit „Echolalie“, enthält Prosagedichte, die z.T. aus nur einer Zeile bestehen.
    Der erste Teil beginnt mit den Zeilen:


Indomáveis padrões fazem precipitar
espectros do que és,  

presenças sem significação que tu irás
afastar com gesto hábil.

Mas hoje consentes substância,
movimento e palavra às iradas margens


In der deutschen Übertragung:

Unbändige Muster bringen Spektren
deiner selbst zu Fall,

bedeutungslose Anwesenheiten, die du
mit kunstfertiger Geste fernhalten wirst.

Doch heute gestehst Du Substanz ein,
Bewegung und Wort dem zornigen Randfeld


Dieser lyrische Text besteht nicht aus zunächst als sinnhaft sich zeigenden Bildern oder Geschichten, das wird bereits aus den ersten Zeilen deutlich. Sondern er zeigt (am besten nach mehrmaligem Lesen) Echo- und Resonanzräume, welche das poetologische Verfahren des Autors sichtbar machen: Seine dichterische Sprache dokumentiert oder soll verweisen auf die Unmöglichkeit der Verbindung zwischen Dingen und Worten, zwischen Innen und Außen. Quintais‘ Poetologie steht also eher in der nun auch nicht mehr jungen Tradition der Loslösung der Sprache von äußerer Referenz. Etwa wenn er formuliert (Seite 51):


Ein bleiernes Szenario ergießt sich

Vor den Augen des Aufzeichners bedeutungsloser
Fragmente. Jemand wird die verstreuten

Kritzeleien auf dem Blatt sammeln, die Schrift entziffern,
die wahre Musik der wahren Stadt wieder nachbauen…


dann wird eine Beziehung zu der mit dem Adjektiv „wahr“ versehenen Musik hergestellt, die der Sprache nicht bedarf, um etwas Wahres auszudrücken. An verschiedenen anderen Stellen wird  Musik als Medium wieder aufgegriffen, etwa wenn der Autor die Schönheit der Metropolen, des Asphaltes und der Einsamkeit sowie der verstümmelten Worte in der Wüste des Sprechens / und nie gehörte Musik besingt, (S 55/56) Und wenige Zeilen später: Hör zu, betrachte die Ruinen der Schlaflosigkeit, so lange schon / horchst du, horch abermals. // Welche verschüttete Musik verbirgt sich / unter der Abwesenheit der Aufmerksamkeit, welche // Jahrhundertarbeit? Komm zu mir, ich bin deine Stadt, / betrachte mich innerhalb des Schalls, fertige… (S 57). Musik als etwas sich Verbergendes, nie Gehörtes, ist das Unaussprechliche, somit das Gegenstück einer nicht verlässlichen Sprache:
    … als sei das Gesagte nicht bereits eine Art, das Geschehene // einzutrüben… Seite 26). Das angesprochene Du ist kalt, seine weißen Finger ruhen auf dem Leichentuch / der Literatur. Oder (Seite 28): Das Wort biegt sich, und wer gehorcht schon / den blinden Vorankündigungen des Windes, wenn nicht die Pfützen // des unerbittlichen Experimentierens? Die Sprache spricht ein geheimnisloses / Geheimnis aus. (S. 29). Eine Erinnerung an das „leere Wort“ wird wach, in dessen Begehren, dessen Aura, dessen Umrisse und Einbuchtungen der Autor oder das lyrische Ich verliebt war. Aber das ist eben Vergangenheit und nicht mehr die Gegenwart der Sprache.

Mir scheint der Text darüber hinaus streng ‚durchstrukturiert‘ zu sein im Hinblick auf einmal mehr, einmal weniger offengelegte Bezüge zur Erkenntnisphilosophie: Die Beobachtersituation des angesprochenen Du wird hervorgehoben (S. 17; und du, at the balcony, betrachtest / die Finsternis; oder Seite 24: Du bist kalt at the balcony…) Damit wird der philosophische Topos des nicht teilnehmenden, das (Welt)Theater nur beobachtenden Philosophen bemüht, den wir schon aus der Antike kennen. Von Schaumexplosion ist an anderer Stelle (Seite 16) die Rede, und Boris Vian fällt einem ein. Spiegelneuronen (S 47) tauchen auf, Kathodenröhren und Sonnenfinsternisse lecken einem Mann das Gesicht, der die Verse stiehlt (S. 18). Die beliebte Metapher des Schiffbruchs wird aufgerufen (S 54), das sprechende Ich (der Autor selbst?) ist der Schiffbrüchige, der auf keine Rettung mehr hofft, weil die Lösung im Puzzle / des Wartens liegt. Der Mensch („Du“) ist noch immer gerührt von der möglichen Realität durchsichtiger Gewässer, an der Oberfläche aber ist nur ein Schrei zu erkennen oder ein Echo oder ein Geräusch. Eine mögliche Quintessenz: Der Fehler ist dieses Echo einer Abwesenheit, der Boden // der unter deinen Füßen schwindet (Seite 33 /34).

Es gibt in diesem Sprach- oder Textfluss viele solcher und beim Wiederlesen neu zu entdeckende Bilder und Bezüge. Der Text hat eigentlich keinen Anfang und kein erkennbares Ende. Man kann vielleicht eine gewisse Entwicklung hineinlesen, wenn man will, eine Dramatik gibt es nicht. Der Leser stößt auf melancholische Verlust- und Erkenntnisschilderungen (Alles ist Spiel und Musik, alles schlussendlich wenig / Das Paradies ist seit langem schon der List der Maschinen verfallen // und es gibt keinen erkennbaren Ursprung in dem, was du sagst.) Aber diese Erkenntnis findet sich etwa in der Mitte des ersten Teils, nicht an seinem Ende. Schließlich fordert der Autor vielmehr den Leser auf, zu ihm zu kommen, ihn innerhalb des Schalls (nicht also der Sprache) zu betrachten, ihm zuzuhören und die Finger wieder über dem kalten Schicksal / dieser Leitungen, dieser Straßen zu kreuzen, angesichts einer Bedrohung // die keines der antiken Talente vorauszusagen wusste. Ich werte dies nicht als Zusammenfassung oder Quintessenz, sondern als Funktionsbestimmung des Dichters als Retter vor gegenwärtigen, ungeahnten Bedrohungen.

Der Titel des zweiten Teils „Echolalie“ meint wie in der Medizin einmal das zwanghafte Wiederholen von Wörtern und Sätzen Anderer, aber auch die Beschränkung der Sprache auf ein Nachsagen vorgesagter Wörter.
    Dieser zweite Teil besteht aus Textsplittern, aus Bruchstücken, Scherben, wenn man so will. Am ehesten erinnern mich diese zwischen Prosa und lyrischer Prosa angesiedelten Texte an jene des 1949 geborenen Nuno Judice (in Deutschland ebenfalls praktisch unbekannt). Der Verfasser des Vorwortes gibt diesem zweiten Teil die Bezeichnung ‚Coda‘, sieht ihn also als angehängten, ausklingenden Teil einer musikalischen Bedeutungseinheit.

Denn in ihm werden vereinzelt Themen und Bilder aus dem ersten Teil wieder aufgenommen. Wie ein schwacher roter Faden ziehen sich vermeintliche oder tatsächliche Bezüge auf die Biographie des Autors (oder lyrischen Ichs? Das kann und muss hier auch nicht unterscheidbar sein) durch viele der Textsplitter. Aber auch sie ist keineswegs sicher oder gesichert: Der Teufel wird wie ein Tennisball kommen / und das Glas der Biographie zerbersten lassen (S 79) Mehr noch: Er will selbst das Glas der Erinnerung (die Grundlage der eigenen Biographie), diese Hand des Erinnerns zerbrechen.
    Ein Thema, die Sprache, Suche nach dem Wort, wird aufgegriffen durch die Charakterisierung der Luft als ein Gas das unsere Silben in eine unhörbare Ferne nimmt. Bilder bleiben danach übrig. Von Mündern, die die Luftmaterie beglaubigen und sich öffnen und schließen auf der Suche nach einem einzigen Wort, ohne eine Regung jenseits der Verzweiflung der Gesichter, in die sich die Möglichkeit als Trunkenheit einträgt. Die Möglichkeit, ein einziges Wort zu finden ist wie Trunkenheit. Das erinnert mich an Hölderlin: „Wozu Dichter in dürftiger Zeit. / Aber sie sind, sagst Du, wie des Weingottes heilige Priester.“ Ein Finden des Wortes als trunkener Zustand, als Rausch, der Dichter als Priester: Hier ist sie wieder, die romantische Vorstellung des Dichtungsaktes als Enthusiasmus, in dem der Dichter nicht mehr er selbst ist, sondern ein Berauschter, ein Anderer.
    Es fällt auf, dass in diesem zweiten Teil verstärkt melancholische Weltbetrachtungen auftauchen, z.B. Warum ist mit Asche gefüllt die Welt? (Seite 73) oder: Nur schweigend ist die unwiederbringlichste Zerstörung hinzunehmen. (S.77) oder: Mein Vater, der Überlebendige, wurde vom Stein meines Todes berührt. Er brach auf in dieses erbarmungslose Land und kreuzte sich mit meiner Mutter. (S. 84). Dazu gehört auch der Schluss, vielleicht doch als eine Art Resümee:
    Uma linha? Uma linha no poço sem fundo da história. Estrépido de armas ou mistificação plena é tudo o que vejo como quem escuta ou escuto como quem vê.
    Eine Linie? Eine Linie im bodenlosen Brunnen der Geschichte. Waffenlärm oder vollkommene Mystifikation ist alles, was ich sehe, wie einer der hört, oder höre, wie einer der sieht.

So entsteht insgesamt eine melancholische Grundstimmung, die in Portugal vielleicht „Saudade“ genannt werden würde, also: etwas Positives. Aber das können wir nicht beurteilen, denn wie Pessoa richtig feststellte, können nur Portugiesen dieses Gefühl empfinden, weil nur sie ein Wort dafür haben.
    Ganz am Ende des Buches wird der Leser darüber belehrt, Glas enthalte Anspielungen auf Fragmente von Anna Calvi, Antonío Damásio, Edmond Jabés. Fernando Pessoa, Martin Amis und T.S. Eliot. Wer die Muße hat, kann sie suchen und finden.
    Schade ist, dass die Ausgabe nicht zweisprachig ist. Mutmaßlich dürfte es betriebswirtschaftlichen Gründen geschuldet sein. Zu empfehlen ist das Buch aber für jeden, der sich für die gegenwärtige Lyrik Portugals interessiert, dennoch dringend.


Luis Quintais: GLAS. Poesie. Übersetzt von Mário Gomes. Berlin/München (Aphaia Verlag) 2017. 90 Seiten. 14,90 Euro.

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