Leo Trotzki: Stalin. Nachtrag
Portraits

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Leo Trotzki
Lev Dawidowitsch Bronstein
Stalin
Eine Biographie
(Übersetzung N. N.)
Nachtrag
I. Die
thermidorianische Reaktion
Der gewaltigen Anstrengung der Revolution und des
Bürgerkrieges folgte eine politische Gegenwirkung. (Sie unterschied sich
grundsätzlich von gleichlaufenden sozialen Phänomenen in nichtsowjetischen
Ländern.) Sie reagierte gegen den imperialistischen Krieg und gegen die, die
ihn geführt hatten. In England war sie gegen Lloyd George gerichtet, den sie
bis an sein Lebensende politisch isolierte. In Frankreich erlitt Clemenceau ein
ähnliches Schicksal.
Die mächtige Wandlung in den Gefühlen der Massen
nach einem Krieg und einem Bürgerkrieg war nur natürlich. In Rußland waren die
Arbeiter und Bauern tief davon überzeugt, daß ihre eigenen Interessen auf dem
Spiele standen und daß der ihnen aufgezwungene Krieg
wirklich der ihre war. Nach dem Sieg über die Weißen und über die Entente war
die Zufriedenheit groß, und ebenso groß war die Popularität derjenigen, die
geholfen hatten, ihn zu erringen.
Aber die drei Bürgerkriegsjahre hatten der
Sowjetregierung selbst durch die Tatsache ihren unverwischbaren Stempel
aufgedrückt, daß sich eine sehr große Zahl der neuen Administratoren daran
gewöhnt hatte, zu befehlen und absolute Unterwerfung unter ihre Befehle zu
verlangen. Die Theoretiker, die zu beweisen versuchen, daß das gegenwärtige
totalitäre Regime in der UdSSR nicht gegebenen historischen Bedingungen
geschuldet ist, sondern der Eigenart des Bolschewismus, vergessen, daß der
Bürgerkrieg nicht aus der Eigenart des Bolschewismus hervorging, sondern aus
den Bemühungen der russischen und der internationalen Bourgeoisie, das
Sowjetregime zu stürzen.
Daß Stalin und viele andere vom Milieu und den
Umständen des Bürgerkriegs geformt worden sind, ebenso wie die ganze Gruppe,
die ihm später helfen sollte, seine persönliche Diktatur aufzurichten –
Ordschonikidse, Woroschilow, Kaganowitsch – und eine ganze Schicht von
Arbeitern und Bauern, die sich zu Verwaltungs- und Kommandeurposten
aufgeschwungen hatten, daran ist nicht zu zweifeln.
(Ferner bestanden in den fünf auf die Revolution
folgenden Jahren über 97 % der Parteimitgliedschaft aus Leuten, die nach
dem Siege in die Partei eingetreten waren. Weitere fünf Jahre später) hatte die
überwältigende Mehrheit der eine Million zählenden Parteimitglieder nur noch
eine nebelhafte Vorstellung von dem, was die Partei in der ersten Periode der
Revolution gewesen war, von der vorrevolutionären Illegalität gar nicht zu
reden.
Kurzum, mindestens drei Viertel der
Parteiangehörigen setzten sich damals aus Mitgliedern zusammen, die erst nach
1923 zur Partei gekommen waren. Die Zahl der Mitglieder, die der Partei vor der
Revolution angehört hatten – das heißt also, Revolutionäre aus der illegalen
Zeit –, lag unter einem Prozent. 1923 war die Partei von jungen und
unerfahrenen (rapide ausgebildeten und zurechtgeformten) Massen überschwemmt
worden, die, unter der Peitsche der Berufs-Apparatschiks, die Rolle von
Jasagern zu spielen hatten. Dies äußerste Zusammenschrumpfen des revolutionären
Kerns der Partei war die notwendige Vorbedingung für die Siege des Apparats
über den »Trotzkismus«.
1923 begann
sich die Lage zu stabilisieren. Der Bürgerkrieg, ebenso der Krieg mit Polen,
waren endgültig abgeschlossen. Die schrecklichsten Folgen der Hungersnot waren
überwunden, die »Nep« hatte dem Wiedererwachen der Volkswirtschaft einen
mächtigen Elan verliehen. Daß die Kommunisten ständig von einem Posten auf den
andern und von einem Betätigungsfeld in ein anderes hinüberwechselten, wurde
bald eine Ausnahme; die Kommunisten begannen, sich in Dauerstellungen
einzurichten und die Regionen und Distrikte des wirtschaftlichen und
politischen Lebens, die ihrer administrativen Gewalt anvertraut waren,
methodisch zu leiten. Die Ernennung auf diese Posten verband sich mehr und mehr
mit den Problemen des persönlichen Lebens, des Familienlebens des Beamten, seiner
Karriere.
Damals trat Stalin mit wachsender Bedeutung als
Organisator, Aufgabenverteiler, Postenverteiler, Bildner und Meister der
Bürokratie auf. Er wählte seine Leute nach ihrer Feindschaft oder ihrer
Indifferenz gegenüber seinen persönlichen Gegnern aus, und zwar besonders
gegenüber demjenigen, den er als seinen Hauptgegner betrachtete, als das größte
Hindernis auf dem Wege des Aufstiegs zur absoluten Macht. Stalin
verallgemeinerte und klassifizierte seine eigene Verwaltungserfahrung für den
Gebrauch seiner engsten Verbündeten, vor allem die Erfahrung in jenen Manövern,
die er mit Ausdauer hinter den Kulissen geführt hatte. Er lehrte sie, ihren
lokalen politischen Apparat nach dem Modell seines eigenen Apparates zu
organisieren: wie Mitarbeiter zu rekrutieren, wie ihre Schwächen auszunützen
seien, wie der eine Genosse gegen den anderen auszuspielen, wie der Apparat in
Gang zu halten sei.
In dem Maße, wie das Leben der Bürokratie an
Stabilität gewann, erzeugte es das Bedürfnis nach gesteigertem Komfort. Stalin
stellte sich an die Spitze dieser spontanen Bewegung, lenkte sie und stattete
sie seinen eigenen Zielen entsprechend aus. Er belohnte diejenigen, derer er
sicher war, indem er ihnen angenehme und vorteilhafte Posten verschaffte. Er
suchte die Mitglieder der Kontrollkommission aus und entfachte in ihnen das
Bedürfnis, alle die unerbittlich zu verfolgen, die von der offiziellen politischen
Linie abwichen. Gleichzeitig wußte er sie dazu anzuregen, nach der
ungewöhnlichen und extravaganten Lebensweise der Funktionäre, die ihm treu
ergeben waren, zu schielen. Denn Stalin bemaß jede Situation, jeden politischen
Umstand und jeden Lebensumstand der einzelnen Personen nach sich
selbst, nach seinem Kampf um die Herrschaft, nach seinem rücksichtslosen
Verlangen, andere zu beherrschen. Jede andere Betrachtungsweise war ihm völlig
fremd. Er hetzte seine gefährlichsten Konkurrenten gegeneinander auf; sein
Talent, persönliche und Gruppengegensätze auszunützen, entwickelte er zur Kunst
– zu einer unnachahmlichen Kunst, denn er brauchte nur seinen fast unfehlbaren
Instinkt für Operationen dieser Art zu entwickeln. Jede neue Situation sah er
zuerst und vor allem daraufhin an, wie er aus ihr einen persönlichen Vorteil
ziehen konnte. Nie zögerte er, das Interesse des Sowjetlandes zu opfern, wenn
es mit seinem persönlichen Interesse in Konflikt geriet. Bei jeder Gelegenheit
und ohne der Folgen zu achten, tat er alles, was er konnte, um denen
Schwierigkeiten zu bereiten, von denen er glaubte, daß sie seine Allmacht
bedrohten. Mit derselben Ausdauer war er bemüht, jeden Akt persönlicher
Ergebenheit zu belohnen. Heimlich erst, dann offener, trat er als Schützer der
Ungleichheit auf, als Schützer der besonderen Vorrechte der Spitzen der
Bürokratie.
Bei diesem vorsätzlichen Demoralisierungswerk
kümmerte sich Stalin nie um die weitere Perspektive. Noch dachte er über die
soziale Bedeutung dieses Prozesses nach, in dem er die Hauptrolle spielte. Er
ging damals wie heute als der Empiriker vor, der er immer war. Er wählte die
ihm Ergebenen aus und belohnte sie; er half ihnen, sich privilegierter
Stellungen zu bemächtigen; er verlangte von ihnen den Verzicht auf persönliche
politische Ziele. Er lehrte sie, für ihren eigenen Gebrauch den Apparat zu
schaffen, der notwendig ist, um die Massen zu beeinflussen und zu unterwerfen.
Er dachte nicht einen Augenblick daran, daß diese Politik dem Kampfe direkt
entgegengesetzt war, dem Lenin in seinem letzten Lebensjahr die meiste
Bedeutung beimaß, dem Kampf gegen die Bürokratie. Gelegentlich sprach er selbst
von der Bürokratie, aber immer in den abstraktesten und wirklichkeitsfernsten
Ausdrücken. Er denkt dabei nur an die kleinen Dinge: mangelnde Aufmerksamkeit,
Papierkrieg, unordentliche Büros usw., ist aber blind und taub gegenüber der
Herausbildung einer ganzen Kaste von Bevorrechteten, die wie Diebe
untereinander verschworen sind durch ihre gemeinsamen Interessen, durch den
ständigen zunehmenden Abstand zwischen ihnen und dem werktätigen Volk. Ohne es
zu ahnen, organisiert Stalin nicht nur einen neuen politischen Apparat, sondern
eine neue Kaste.
Er geht an die
Fragen nur vom Gesichtspunkt der Kaderauswahl heran, des Ausbaus des Apparates,
der Sicherung seiner persönlichen Kontrolle über ihn, seiner eigenen
Herrschaft. Für ihn gibt es keinen Zweifel – in dem Umfang, wie er sich
überhaupt um allgemeine Fragen kümmert –, daß sein Apparat der Regierung mehr
Stärke und Festigkeit verleiht und so die neue Entwicklung zum Sozialismus in
einem Lande garantiert. Weiter wagt er sich auf dem Gebiete der
Verallgemeinerungen nicht. Daß die Kristallisation einer neuen herrschenden
Schicht von Funktionären, die in privilegierten Stellungen sitzen – den Massen
gegenüber durch die Idee des Sozialismus getarnt –, daß die Bildung einer neuen
führenden, mit allen Vorrechten und allen Vollmachten versehenen Schicht die
soziale Struktur des Staates verändert und in ständig steigendem Maße die
soziale Zusammensetzung der neuen Gesellschaft – das ist ein Gedanke, den zu
fassen er sich weigert und den er, allemal wenn er ihm nahegelegt wird,
zurückweist – mit der Faust oder mit dem Revolver.
So wird der Empiriker Stalin, ohne förmlich mit
der revolutionären Tradition zu brechen und ohne den Bolschewismus zu
verwerfen, der wirksamste Zerstörer der einen wie des andern, indem er sie alle
beide verrät.
Zur Zeit der Parteidiskussion im Herbst 1923 war
die Moskauer Organisation ungefähr zur Hälfte gespalten, mit einem anfänglichen
gewissen Übergewicht der Opposition. Die beiden Hälften waren indes ihrem
sozialen Wirkungsvermögen nach nicht von gleicher Kraft. Die Jugend und ein
beträchtlicher Teil einfacher Parteimitglieder gingen mit der Opposition, aber
auf Seiten Stalins und des Zentralkomitees standen all die besonders erzogenen
und disziplinierten Politiker, die mit dem Apparat des Generalsekretärs eng
verbunden waren. Meine Krankheit und als Folge davon mein Fernbleiben vom Kampf
war, das muß ich sagen, ein Faktor von einiger Bedeutung, doch darf diese
Bedeutung nicht überschätzt werden; mehr als ein episodischer Charakter kommt
ihr nicht zu. (Sehr viel wichtiger war die Tatsache, daß) die Arbeiter müde
waren. Die die Opposition unterstützten, waren nicht von der Hoffnung auf große
und tiefgehende Veränderungen angetrieben, während die Bürokratie mit
außergewöhnlicher Brutalität vorging. Es stimmt, daß es mindestens eine Periode
großer Verwirrung gab, aber wir wußten damals nichts davon; wir wurden erst
später durch Sinowjew darüber unterrichtet. Als er eines
Tages nach Moskau kam, fand er die Moskauer Führer von einer Panik
aufgescheucht vor. Es war ruchbar geworden, daß Stalin ein Manöver
vorbereitete, dessen Ziel es war, auf Kosten seiner Verbündeten Sinowjew und
Kamenew seinen Frieden mit der Opposition zu machen; das lag durchaus in seiner
Art.
Zu dieser Zeit fanden die Sitzungen des
Politischen Büros meiner Krankheit wegen bei mir zu Hause statt. Stalin machte
mir offensichtlich Avancen und bekundete für meine Gesundheit ein völlig
unerwartetes Interesse. Sinowjew machte, seinem Bericht nach, dieser
zweideutigen und sichtlich sonderbaren Situation in Moskau ein Ende, indem er
sich nach Petrograd wandte, um dort seinen Einfluß zu verstärken. Er bildete
eine illegale Gruppe von Agitatoren und Stoßtrupps, die im Automobil von einer
Fabrik zur anderen fuhren, um Lügen und Verleumdungen auszustreuen. Ohne
natürlich mit seinen Verbündeten zu brechen, suchte Stalin sich den Rückzug zur
Opposition offenzuhalten für den Fall, daß diese siegte. Sinowjew war kühner,
weil er abenteuerlicher und unverantwortlicher war. Stalin war vorsichtig. Er
übersah noch nicht ganz den Umfang der Veränderungen, die in den Spitzen der
Partei und besonders im Sowjetapparat vor sich gegangen waren. Er ruhte sich
nicht auf seiner persönlichen Stärke aus, er ging tastend vor, prüfte jeden
Widerstand, würdigte jeden Stützpunkt. Er ließ Sinowjew und Kamenew sich
kompromittieren und bewahrte sich selbst volle Manövrierfreiheit.
Während derselben Diskussion wurde die Technik
des Apparats in dessen Kampf gegen die Opposition endgültig festgelegt und in
der Aktion ausprobiert. Es konnte unmöglich zugelassen werden, daß in
irgendeinem Falle der Apparat durch einen Druck von unten her hätte gebrochen
werden können. Der Apparat mußte auf alle Fälle bleiben. Die Partei konnte
verändert, umgruppiert, umgeschmolzen werden. Mitglieder konnten ausgeschlossen
oder kompromittiert werden, andere konnten Furcht haben. Schließlich war es
möglich, mit den Dingen und den Ziffern zu jonglieren. Die Apparatschiki gingen
von Fabrik zu Fabrik. Die Kontroll-kommissionen, die zu dem Zwecke geschaffen
worden waren, zu verhindern, daß der Apparat die Macht usurpierte, wurden zu
bloßen Rädern des Apparats. Auf den Parteiversammlungen notierten
Vertrauensmänner dieser Kommissionen den Namen jedes Redners, der der Sympathie
für die Opposition verdächtig war und untersuchten dann
genauestens seine Vergangenheit. Immer oder fast immer war es ohne allzugroße
Schwierigkeiten möglich, irgendeinen Fehler oder einfach eine ungünstige
soziale Herkunft zu finden, um eine Anklage wegen Durchbrechung der
Parteidisziplin zu rechtfertigen oder eine solche Anklage zu provozieren. Es
war dann möglich, den mit der Opposition Sympathisierenden auszuschließen, zu
versetzen, ihn zum Schweigen zu bringen oder sogar einen Kuhhandel mit ihm
einzugehen.
Diesen Teil der Arbeit leitete Stalin persönlich.
In der Zentralen Kontrollkommission hatte er mit Soltz, Jaroslawsky und
Schkirjatow seine eigene Clique an der Spitze. Ihre Hauptaufgabe war, von den
Nonkonformisten schwarze Listen anzulegen und über ihre Abstammung in den
Archiven der zaristischen Polizei nachzuforschen. Stalin besitzt ein besonderes
Archiv voll von Dokumenten aller Art, Anschuldigungen, verleumderischen
Gerüchten über alle sowjetischen Führer ohne Ausnahme. Als er 1929 mit den
Rechtsfraktionellen des Politbüros – Bucharin, Rykow und Tomski – öffentlich
brach, konnte Stalin Kalinin und Woroschilow nur bei der Stange halten, indem
er mit gewissen Enthüllungen drohte.
Im Jahre 1925 veröffentlichte eine humoristische
Zeitschrift eine Karikatur, die den Regierungschef (Kalinin) in einer sehr
kompromittierenden Situation darstellte. Die Ähnlichkeit war frappierend. Der
Text war sehr anzüglich, außerdem war ein Hinweis auf Kalinin durch dessen
Initialen, M. K., vorhanden. Ich traute meinen Augen nicht. »Was hat das zu
bedeuten?«, fragte ich mehrere meiner Freunde, darunter Serebrjakow, der Stalin
im Gefängnis und in der Verbannung nahe gekannt hatte.
»Das ist Stalins letzte Warnung an die Adresse
Kalinins«, antwortete er mir.
»Und warum das?«
»Bestimmt nicht, weil ihm dessen Lebensweise
Kummer macht«, sagte Serebrjakow lachend,
»Kalinin versteift sich
wahrscheinlich auf irgend etwas ...«
Kalinin, der die jüngste Vergangenheit nur zu gut
kannte, hatte sich zuerst geweigert, Stalin als Führer anzusehen; er schreckte
lange davor zurück, sein Schicksal mit dem Stalins zu verbinden. »Dies Pferd«,
pflegte er in intimen Kreisen zu sagen, »wird unseren Wagen eines Tages in den
Graben werfen.« Schritt für Schritt jedoch, brummig und widerspenstig, wandte er sich zuerst gegen mich, dann gegen Sinowjew, und
schließlich, nun aber ganz wider seinen Willen, gegen Rykow, Bucharin und
Tomski, mit denen er durch gemeinsame politische Konzeptionen eng verbunden
war. Jenukidse machte dieselbe Entwicklung durch, er marschierte in den
Fußstapfen Kalinins, wenn auch mit mehr Zurückhaltung und sicher empfindlicher
darunter leidend. Seiner ganzen Natur nach, deren hervorstechendster Zug die
Anpassungsfähigkeit war, konnte sich Jenukidse gar nicht woanders, als im Lager
des Thermidor befinden. Aber ein Streber war er nicht und ganz bestimmt keine
Kanaille; es fiel ihm schwer, mit den alten Traditionen zu brechen und noch
schwerer, sich gegen die Männer zu wenden, die er zu respektieren gewohnt war.
In den kritischen Augenblicken zeigte er nicht nur keine aggressive
Begeisterung, sondern beschwerte sich im Gegenteil, schalt, versuchte
Widerstand zu leisten. Stalin entging das nicht, und er warnte ihn mehr als
einmal. Ich erfuhr das aus bester Quelle. Obwohl in jenen Tagen die
Denunziationspraxis nicht nur das politische Leben, sondern auch schon die
persönlichen Beziehungen vergiftet hatte, blieben noch hier und da Oasen
gegenseitigen Vertrauens. Jenukidse hielt sehr freundschaftliche Beziehungen zu
Serebrjakow aufrecht, obwohl der letztere als einer der Führer der
Linksopposition bekannt war. Oft schüttete Jenukidse ihm sein Herz aus: »Was
will er mehr?« fragte er. »Ich tue alles, was er von mir verlangt, aber das ist
ihm nicht genug. Er will, daß ich zugebe, daß er genial ist.«
Stalin nahm Sinowjew und Kamenew unter seine Hut,
als ich ihnen ihr Verhalten im Jahre 1917 in Erinnerung rief. »Es ist ganz gut
möglich«, schrieb er, »daß einige Bolschewiki in den Julitagen gezittert haben.
Ich weiß zum Beispiel, daß mehrere Bolschewiki, die damals verhaftet waren,
bereit waren, aus unseren Reihen zu desertieren. Aber daraus eine Verurteilung
gewisser ... Mitglieder des Zentralkomitees herleiten, heißt, die Geschichte
entstellen.«
Was an diesem Zitat interessant ist, ist nicht so
sehr die rückhaltlose Verteidigung Sinowjews und Kamenews, sondern der
willkürliche Hinweis auf »mehrere Bolschewiki, die damals verhaftet waren«;
damit war Lunatscharsky gemeint, von dem überhaupt nicht die Rede war. Unter
den nach der Revolution aufgefundenen Dokumenten befindet sich das Verhör
Lunatscharskys während der polizeilichen Untersuchung. Es macht seinem
politischen Mut gewiß keine Ehre. Das war an sich für Stalin nicht
von großer Wichtigkeit; in seiner unmittelbaren Umgebung befanden sich noch
weniger mutige Bolschewiki. Was ihn wütend machte, war, daß Lunatscharsky 1923
seine »Silhouetten der Revolutionsführer« veröffentlicht hatte, in denen es
keine Silhouette Stalins gab. Diese Auslassung war nicht absichtlich geschehen.
Lunatscharsky hatte nichts gegen Stalin, nur war es ihm einfach nicht in den
Sinn gekommen, ebensowenig wie sonst irgendjemand in damaliger Zeit, Stalin zu
den Revolutionsführern zu zählen. 1925 hatte sich die Situation verändert, und
jener Hinweis war für Stalin die Art und Weise, in der Lunatscharsky zu
verstehen gegeben wurde, daß er seine Politik ändern oder darauf gefaßt sein
müsse, an den Pranger gestellt zu werden. Ihm wurde eine Frist gewährt. Er
verstand sehr gut, auf wen die Anspielung gemünzt war, und wechselte radikal
seine politische Position; seine Sünden aus dem Juli 1917 wurden sofort
vergessen.
Die jungen Revolutionäre der zaristischen Aera
waren nicht alle Geschichtsbuch-Helden; einige waren unter ihnen, die während
der polizeilichen Untersuchungen nicht genügend Mut zeigten. Wenn ihr späteres
Verhalten erlaubte, diese Schwäche zu vergessen, schloß sie die Partei nicht
endgültig aus und erlaubte ihnen, später wieder in ihre Reihen einzutreten.
1923 begann Stalin als Generalsekretär alle Fälle dieser Art persönlich zu
sammeln und sich ihrer bei passender Gelegenheit als Druckmittel gegen alte Revolutionäre
zu bedienen, die mehr als einen Jugendfehler wieder gutgemacht hatten. Er
drohte ihnen an, vergangene Dinge an die Öffentlichkeit zu bringen, erzwang
ihren servilen Gehorsam und stieß sie Schritt für Schritt in einen Zustand
vollständiger Demoralisierung. (Und er band sie endgültig an sich, indem er sie
bei seinen Machinationen gegen die Opposition zu den erniedrigendsten
Hilfsdiensten preßte. Die sich weigerten, sich erpressen zu lassen, wurden vom
Apparat politisch zerbrochen oder zum Selbstmord getrieben.) So kam einer
meiner nächsten Mitarbeiter um, mein persönlicher Sekretär Glasmann, ein Mensch
von außergewöhnlicher Bescheidenheit und exemplarischer Hingabe an die Partei.
Er nahm sich schon 1924 das Leben. Sein Verzweiflungsakt machte solchen
Eindruck, daß die Zentrale Kontrollkommission gezwungen war, ihn zu
rehabilitieren und ihrem eigenen ausführenden Organ einen (sehr vorsichtigen
und sehr gemäßigten) Verweis zu erteilen.
Der Druck, der auf die Linksoppositionellen und
die mit ihnen Symphatisierenden ausgeübt wurde, steigerte sich ständig. Die Art und Weise, in der die Hunderte von Kommunisten behandelt
wurden, die ihre Unterschrift der »Erklärung der 83« vom 26. Mai 1927
hinzufügten, wurde an Brutalität und Zynismus nur von der übertroffen, der die
Tausende von Parteimitgliedern ausgesetzt waren, die sie mündlich
unterstützten. Sie wurden einfach nur deshalb vor die Parteigerichte
geschleppt, weil sie in Parteiversammlungen Ansichten vertreten hatten, die mit
denen des Zentralkomitees nicht übereinstimmten; man entzog ihnen auf diese
Weise das elementarste Recht eines Parteimitgliedes. Die Masse der
Parteimitglieder wurde so auf den brutalen Ausschluß der Opposition vorbereitet.
Auch wurde auf die Mitglieder und Sympathisierenden der Opposition noch durch
besondere Maßnahmen ein Druck ausgeübt. »Wir werden euch von euren
Arbeitsplätzen verjagen!«, schrie eines Tages der Sekretär des Moskauer
Komitees, und als sich diese Drohung als ungenügend erwies, um die Opposition
zum Schweigen zu bringen, rief das Zentralkomitee die GPU. Man mußte blind
sein, um nicht zu sehen, daß der Kampf gegen die Opposition mit solchen
Methoden ein Kampf gegen die Partei war.
Menschinsky, der Nachfolger Dzerschinskys als
Chef der GPU, hatte zu Lenins Zeiten der Oppositionsbewegung angehört. Er war
Boykottist gewesen, hatte dann mit dem Anarchosyndikalismus sympathisiert und
hatte noch andere Abweichungen zu verzeichnen. Das war in seiner Jugend
gewesen. Doch gegen Ende seiner Karriere faszinierte ihn der
Unterdrückungsapparat. Nichts anderes interessierte ihn, als nur die GPU. Er
wandte alle seine intellektuellen Fähigkeiten an das, was seine einzige Aufgabe
war: dafür zu sorgen, daß sein Apparat ständig gut funktionierte. Dieserhalb
mußte er vor allem die Regierung entschieden unterstützen. Eines Tages, es war
während des Bürgerkriegs, hatte mich Menschinsky zu meinem Erstaunen über die
Intrigen Stalins gegen mich unterrichtet; ich habe das in meiner
Selbstbiographie erwähnt. Als sich das Triumvirat der Herrschaft bemächtigte,
blieb er dem Triumvirat treu. Er übertrug seine Treue auf Stalin, als das
Dreimännerkollegium zusammenbrach. Als im Herbst 1927 die GPU begann, sich in
die inneren Auseinandersetzungen der Partei einzumischen, gingen wir zu
mehreren – Sinowjew, Kamenew, Smilga, ich selbst und, wenn ich nicht irre, noch
jemand – zu Menschinsky. Wir verlangten von ihm, uns die Zeugenaussagen zu
zeigen, von denen er auf der letzten Sitzung des Zentralkomitees mit großem
Erfolg gegen uns gesprochen hatte. Er leugnete nicht, daß
diese Dokumente in der Hauptsache falsch seien, weigerte sich aber entschieden,
sie uns zu zeigen.
»Erinnern Sie sich, Menschinsky«, fragte ich ihn,
»daß Sie mir einmal in meinem Zuge, als wir an der Südfront waren, von einer
Intrige Stalins gegen mich gesprochen haben?« Er wurde verlegen. Jagoda, der
damals Stalins Agent beim GPU-Chef war, mischte sich ein. »Aber der Genosse
Menschinsky«, sagte er, indem er seinen Fuchskopf vorbeugte, »ist doch nie an
der Südfront gewesen.«
(Jagoda war in seiner Jugend Apotheker; in einer
friedlichen Epoche wäre er als obskurer Besitzer einer Kleinstadtapotheke
entschlummert.)
Ich unterbrach ihn; ich sagte ihm, daß nicht er
es sei, an den ich mich wendete, sondern Menschinsky, und ich wiederholte meine
Frage. Darauf antwortete Menschinsky:
»Gewiß, ich war in ihrem Zuge an der Südfront und
ich habe Sie von dieser oder jener Machenschaft in Kenntnis gesetzt, aber ich
glaube nicht, irgendjemand genannt zu haben.« Bei dieser Antwort glitt das
eigenartige Lächeln eines Somnambulen über sein Gesicht.
Wir konnten nichts aus ihm herausbekommen. Stalin
kam zu ihm, nachdem wir ihn mit leeren Händen verlassen hatten. Kamenew ging
allein zu ihm zurück; schließlich und endlich war es so lange nicht her, daß
Menschinsky dem ganzen Triumvirat gegen die Opposition gedient hatte. »Glauben
Sie wirklich«, fragte Kamenew ihn zum Schlüsse, »daß Stalin allein den Aufgaben
der Oktoberrevolution gewachsen ist?« Menschinsky wich einer Antwort aus.
»Warum haben Sie ihm erlaubt, sich eine so gewaltige Macht zu verschaffen?«,
antwortete er auf alle Fragen; »jetzt ist es zu spät.«
Im Frühjahr 1924, nach einer der Vollsitzungen
des Zentralkomitees, an der teilzunehmen mich meine Krankheit verhindert hatte,
sagte ich zu I. N. Smirnow: »Stalin wird der Diktator der UdSSR werden!«
Smirnow kannte Stalin gut. Sie hatten gemeinsam für die Revolution gearbeitet
und waren jahrelang zusammen in der Verbannung gewesen; unter solchen Umständen
lernen die Menschen einander gut kennen.
»Stalin?«, fragte er verwundert. »So ein
mediokrer Mensch, eine farblose Null?«
»Medioker, ja. Null, nein«, antwortete ich. »Die
Dialektik der Geschichte hat sich seiner schon bemächtigt und wird ihn noch höher tragen. Alle brauchen ihn: die müde gewordenen
Revolutionäre, die Bürokraten, die Nepleute, die Kulaken, die Emporkömmlinge,
die Bedientenseelen, alle diese Würmer, die über den von der Revolution
umgepflügten Boden kriechen. Er versteht es, ihnen auf ihrem Terrain
entgegenzukommen, er spricht ihre Sprache und weiß sie zu führen, er hat den
verdienten Ruf eines alten Revolutionärs, was ihn für den Zweck, das Land zu
verblenden, unschätzbar macht; er hat Willenskraft und Kühnheit, er wird
niemals zögern, sie gegen die Partei zu richten, sich ihrer gegen sie zu
bedienen; er hat schon begonnen, es zu tun. Eben in diesem Augenblick sammelt
er die Aaskäfer der Partei, die gewitzten Intriganten, um sich und organisiert
sie. Sicherlich können große Ereignisse in Europa, in Asien und in unserem
Lande dazwischenkommen und alle Spekulationen über den Haufen werfen. Aber wenn
sich alles weiterhin so automatisch entwickelt wie bis jetzt, dann wird auch
Stalin automatisch der Diktator werden.«
Bei einer Diskussion, die ich 1926 mit Kamenew
hatte, bestand dieser darauf, daß Stalin »nur eben ein Provinzpolitiker« wäre.
In dieser sarkastischen Einschätzung lag ein Teil, aber eben nur ein Teil
Wahrheit. Eigenschaften wie List, Unaufrichtigkeit, die Fähigkeit, die
niedrigsten Instinkte der menschlichen Natur auszunützen, diese Eigenschaften
sind bei Stalin in außerordentlich hohem Grade entwickelt und bilden,
entschlossen gehandhabt, mächtige Waffen im Kampf, natürlich nicht in jeder Art
Kampf. Der Kampf, der geführt wird, um die Massen zu befreien, verlangt andere
Eigenschaften. Dafür aber, Männer für privilegierte Posten auszusuchen, sie im
Kastengeist aneinander zu schweißen, die Massen zu schwächen und zu
unterjochen, dafür waren Stalins Eigenschaften unschätzbar, und sie machten ihn
zum Führer der bürokratischen Reaktion. (Nichtsdestoweniger) bleibt Stalin ein
mediokrer Mensch, sein Denken ist nicht nur beschränkt, es ist auch unfähig,
logische Schlüsse zu ziehen. Jeder Satz seiner Rede hat ein unmittelbar
praktisches Ziel. Seine Rede als Ganzes genommen aber kommt nie zu einer
logischen Struktur.
Hätte Stalin anfänglich voraussehen können, wohin
ihn sein Kampf gegen den Trotzkismus führte, er hätte zweifellos gezögert,
trotz der Aussicht auf den Sieg über alle seine Gegner. Er ist aber nicht
imstande, irgend etwas vorauszusehen. Die Prophezeiungen seiner Gegner, daß er
der Führer der thermidorianischen Reaktion werden würde,
der Totengräber der Partei und der Revolution, erschienen ihm als sinnlos. Er
glaubte, daß der Parteiapparat sich selbst genüge und allen Aufgaben gewachsen
sei. Er hatte nicht das geringste Verständnis für die historische Funktion, die
er erfüllte. Das Fehlen schöpferischer Einbildungskraft, die Unfähigkeit zur
Verallgemeinerung und zur Voraussicht, vernichteten den Revolutionär in ihm,
als Stalin das Staatsruder ergriff. Daß sich aber diese Züge auf seine
Autorität als alter Revolutionär stützten, erlaubte ihm, den Aufstieg der
thermidorianischen Bürokratie zu tarnen.
Sein Ehrgeiz nahm primitive asiatische Züge an,
die die europäische Technik verschlimmerte. Es ist ihm ein Bedürfnis, daß ihm
die Presse jeden Tag mit Extravaganz huldigt, seine Bilder veröffentlicht, ihn
unter dem lächerlichsten Vorwande zitiert, seinen Namen in Riesenlettern
druckt. Heute wissen sogar die Postbeamten, daß sie kein an Stalin gerichtetes
Telegramm annehmen dürfen, in dem er nicht »Vater der Völker« oder »großer
Lehrmeister« oder »Genie« genannt wird. Roman, Oper, Film, Malerei, Bildhauerei,
ja sogar landwirtschaftliche Ausstellungen, alles muß sich um Stalin drehen als
um seine eigene Achse. Literatur und Kunst der Stalinschen Epoche werden in die
Geschichte als Exempel des absurdesten und abscheulichsten Byzantinismus
eingehen. (1925 verzieh Stalin es Lunatscharsky nicht, daß dieser ihn in seine
Lebensschilderungen von Revolutionären nicht aufgenommen hat, zwölf Jahre
später aber) grüßte Alexis Tolstoi, der den Namen eines der mächtigsten und
unabhängigsten Schriftstellers Rußlands trägt, Stalin folgendermaßen:
»Du, strahlende Sonne der Nationen,Nie sinkende Sonne unserer Zeit,Und mehr als Sonne, denn die Sonne kennt keine Weisheit...«Ein weniger bekannter Autor besingt ebenfalls Stalin und die Sonne:»Wir haben unsere Sonne von Stalin,Wir haben unser glückliches Leben von Stalin...O weiser Lehrer! Genie der Genies!Sonne der Arbeiter, Sonne der Bauern, Sonne der Welt!«
Der Artikel über die »glückliche Regierung« des
Zaren Alexander III., von einem beflissenen Höfling für eine alte russische
Enzyklopädie geschrieben, ist ein Muster an Wahrhaftigkeit, Bescheidenheit und
gutem Geschmack, verglichen mit dem Artikel über Stalin in der letzten
Sowjet-Enzyklopädie.
Der Block mit
Sinowjew und Kamenew bremste Stalin. Sinowjew und Kamenew, die lange Jahre bei
Lenin in die Schule gegangen waren, waren imstande, den Wert von Ideen und
Programmen einzuschätzen. Obwohl sie manchmal in monströse Abweichungen von den
Prinzipien des Bolschewismus verfielen, überschritten sie niemals gewisse
Grenzen. Als sich das Triumvirat aber spaltete, war Stalin von jeder
ideologischen Rücksicht befreit. Weder die Tatsache, daß sie keine
revolutionäre Vergangenheit hatten, noch ihre grobe Unwissenheit konnte die
Mitglieder des Politbüros fürderhin hemmen. Die minderwertigen und
uninteressanten Diskussionen blieben ohne Tragweite, besonders was die Probleme
der Kommunistischen Internationale betraf. Zu dieser Zeit hätte kein einziges
Mitglied des Politbüros zugegeben, daß irgendeine ausländische Sektion der
Kommunistischen Internationale eine Eigenpersönlichkeit besitze; alles lief auf
die Frage hinaus, ob sie »für« oder »gegen« die Opposition seien.
In den voraufgegangenen Jahren war es eine meiner
Aufgaben in der Komintern gewesen, die Entwicklung der Arbeiterbewegung in
Frankreich zu verfolgen. Nach den Umwälzungen in der Komintern, die Ende 1923
begannen und das ganze Jahr 1924 hindurch fortdauerten, gaben sich die neuen
Führer der verschiedenen Sektionen alle Mühe, sich mehr und mehr von den alten
Doktrinen zu entfernen. Ich erinnere mich einer Sitzung, zu der ich die letzte
Nummer des Zentralorgans der französischen kommunistischen Partei mitbrachte,
aus dem ich mehrere Stellen eines wichtigen Artikels übersetzte, der vom
politischen Programm handelte. Diese Auszüge zeugten von solcher Ignoranz und
so offensichtlichem Opportunismus, daß für einen Augenblick Bestürzung im
Politbüro herrschte. Die Stalinisten im Büro konnten jedoch diejenigen, die sie
von außen her diensteifrig unterstützten, nicht fallen lassen. Das einzige
Mitglied, das Französisch zu können glaubte, Rudsutak, bat mich um den
Zeitungsausschnitt und wollte ihn neu übersetzen; er ließ alle Worte und Sätze
fort, die er nicht verstand, entstellte den Sinn anderer und vervollständigte
das Ganze durch eigene, frei erfundene Zusätze. Alsbald stimmte man ihm zu, und
die Bestürzung war verflogen.
Es ist heute kaum der Mühe wert, die Produkte der
antitrotzkistischen Literatur, die trotz des Papiermangels die Sowjetunion
buchstäblich überschwemmte, einer theoretischen Analyse zu
unterziehen. Stalin selbst könnte nicht wieder lesen, was er zwischen 1923 und
1929 schrieb, weil es in flagrantem Widerspruch zu allem steht, was er im
nächsten Jahrzehnt sagte und schrieb. Es genügt für unsere Zwecke, die wenigen
neuen Ideen aufzuzeigen, die sich im Laufe der Polemiken zwischen dem
stalinistischen Apparat und der Opposition stufenweise herausbildeten und die
in dem Maße entscheidende Bedeutung erlangten, als sie den Urhebern des Kampfes
gegen den Trotzkismus die ideologische Bagage lieferten. Um diese Ideen herum
gruppierten sich die politischen Kräfte. Es handelte sich in der Hauptsache um
drei Ideen, die den jeweiligen Umständen nach einander ersetzten oder sich
gegenseitig ergänzten.
Die erste betraf die Industrialisierung. Das
Triumvirat begann, das Programm zu bekämpfen, das ich vorgeschlagen hatte, und
bezeichnete es aus polemischen Gründen als das der »Überindustrialisierung«.
Diese Einstellung wurde sogar noch verstärkt, als das Triumvirat
auseinanderbrach und Stalin seinen Block mit Bucharin und dem rechten Flügel
bildete. Die allgemeine Tendenz der offiziellen Argumentation gegen die
sogenannte Überindustrialisierung war, daß eine schnelle Industrialisierung nur
auf Kosten der Bauernschaft möglich wäre. Infolgedessen müßte langsam
vorgegangen werden, im Schneckentempo, die Frage des Tempos der
Industrialisierung wäre gegenstandslos usw. In Wirklichkeit wollte die
Bürokratie die Bevölkerungsschichten nicht beunruhigen, die begonnen hatten,
sich zu bereichern, das heißt, die kleinbürgerlichen Nepleute. Das war der
erste schwere Irrtum im Kampf gegen den Trotzkismus. Aber Stalin wollte niemals
seine eigenen Irrtümer anerkennen; er nahm eine vollständige Wendung vor und
beschloß frischfröhlich, alle früheren Überindustrialisierungsprojekte zu
überholen – aber ach, hauptsächlich in Worten und auf dem Papier!
In der zweiten Etappe, im Laufe des Jahres 1924,
ging der Angriff auf die Theorie der permanenten Revolution los. Der politische
Inhalt dieses Kampfes reduzierte sich auf die Meinung, daß wir uns nicht für
die internationale Revolution zu interessieren hätten, sondern für unsere
eigene Sicherheit, um unsere Wirtschaft zu entwickeln. Die Bürokratie fürchtete
mehr und mehr, durch das Risiko der in einer internationalen revolutionären
Politik liegenden Konsequenzen ihre Stellung aufs Spiel zu setzen. Der jeden
theoretischen Wertes bare Feldzug gegen die Theorie der
permanenten Revolution diente dazu, eine nationalkonservative Abweichung vom
Bolschewismus zu decken. Aus diesem Kampfe ging die Theorie des »Sozialismus in
einem Lande« hervor. Sinowjew und Kamenew begannen erst damals, die Folgen des
Kampfes zu sehen, den sie selbst vom Zaune gebrochen hatten.
Die dritte Idee der Bürokratie in ihrem Feldzug
gegen den Trotzkismus war die Bekämpfung der »Gleichmacherei«, der Kampf gegen
die Gleichheit. Die theoretische Seite dieses Kampfes ist kurios genug. Stalin
fand in der Marxschen »Kritik des Gothaer Programms« der deutschen
Sozialdemokratie einen Satz, der besagte, daß die Ungleichheit in der ersten
Periode des Sozialismus – oder, wie Marx sich ausdrückte, das bürgerliche Recht
auf dem Gebiet der Verteilung – aufrechterhalten werden müsse. Marx wollte natürlich
nicht die Schaffung einer neuen Ungleichheit rechtfertigen, sondern dachte an
eine progressive eher als an eine plötzliche Ausmerzung der alten Ungleichheit
in den Löhnen. Das Zitat wurde ganz zu Unrecht als eine Erklärung der Rechte
und Vorrechte der Bürokraten und ihrer Satelliten ausgelegt. Die Zukunft der
Sowjetunion geriet damit in Widerspruch zur Zukunft des internationalen
Proletariats, und die Bürokratie war versehen mit der theoretischen
Rechtfertigung ihrer Privilegien und ihrer Macht über die werktätigen Massen
innerhalb der Sowjetunion.
Es sah ganz so aus, als wäre die Revolution
gemacht und gewonnen worden gerade für die Bürokratie, die einen wilden,
rasenden Kampf gegen die ihre Vorrechte bedrohende »Gleichmacherei« führte und
gegen die permanente Revolution, die ihre Existenz selbst bedrohte. Es ist
deshalb nicht erstaunlich, daß Stalin in diesem Kampf eine zahlreiche
Bundesgenossenschaft fand. Zu seinen hitzigsten Parteigängern zählten ehemalige
Liberale, Sozialrevolutionäre und Menschewiki. Sie drangen in den Staat und
sogar in den Parteiapparat ein und priesen Stalins gesunden Menschenverstand.
Der Kampf gegen die Überindustrialisierung wurde
1922 sehr behutsam geführt, 1923 offen und gewaltsam. Der öffentliche Kampf
gegen die permanente Revolution begann 1924 und setzte sich in den
verschiedensten Formen und Interpretationen die ganzen folgenden Jahre fort.
Der Kampf gegen die »Gleichmacherei« begann Ende 1925 und wurde zur Hauptbasis
des Sozialprogramms der Bürokratie. Der Kampf gegen die Überindustrialisierung wurde direkt und offen im Interesse der Kulaken geführt; der
Aufbau der Industrie im »Schneckentempo« war notwendig für die Kulaken, als
schmerzloses Gegengift gegen den Sozialismus. Dies war sowohl die Philosophie
der Rechten, wie die des stalinistischen Zentrums. Die Theorie des Sozialismus
in einem Lande wurde damals von einem Block der Bürokratie und des
Kleinbürgertums der Dörfer und Städte vertreten. Der Kampf gegen die Gleichheit
schweißte die Bürokratie enger denn je nicht nur mit diesem Kleinbürgertum,
sondern gleicherweise mit der Arbeiteraristokratie zusammen. Die Ungleichheit
wurde die gemeinsame soziale Basis und die »raison d'être« dieser
Bundesgenossen. Ökonomische und politische Bande hielten die Bürokratie und das
Kleinbürgertum in den Jahren von 1923 bis 1928 zusammen.
Damals zeigte der russische Thermidor am
offensichtlichsten seine Ähnlichkeit mit dem französischen Prototyp. In jener
Periode wurde dem Kulaken gestattet, sein Land an den armen Bauer zu verpachten
und diesen bei sich als Landarbeiter einzustellen. Stalin war bereit, die
Pachtzeit für das Land auf vierzig Jahre auszudehnen. Kurz nach dem Tode Lenins
hatte er heimlich versucht, den Bauern seiner georgischen Heimat unter dem
Deckmantel des »Besitzes« von »Eigenparzellen« für »viele Jahre« den
nationalisierten Boden als Privateigentum zu übertragen. Auch hier zeigte sich
wieder, wie stark sein georgischer Nationalismus und seine alten agrarischen
Wurzeln waren. Erst der Protest Sinowjews, der von dieser Verschwörung erfuhr,
und die Beunruhigung, die über dies Projekt in Parteikreisen entstand, zwangen
Stalin, auf die Maßnahme, die er plante, zu verzichten, da er sich noch nicht
genügend sicher fühlte. Zum Sündenbock wurde natürlich der unglückliche
georgische Volkskommissar.
Aber Stalin und sein Apparat wurden mit der Zeit
dreister, besonders nachdem sie sich vom hemmenden Einfluß Sinowjews und
Kamenews freigemacht hatten. Tatsächlich ging die Bürokratie, die die
Interessen und Forderungen ihrer Verbündeten befriedigen wollte, so weit, daß
es 1927 für jeden offenbar wurde, daß – wie leicht vorauszusehen gewesen war –
die Forderungen der bürgerlichen Verbündeten ihrer eigenen Natur nach
unbegrenzt waren. Der Kulak wollte den Boden, seinen schrankenlosen Besitz; der
Kulak wollte das Recht, frei über seine gesamte Ernte verfügen zu können; der
Kulak tat alles, um in den Städten sein Gegenstück in Form
des freien Handels und der freien Industrie zu schaffen; der Kulak wollte, daß
mit den Zwangsablieferungen zu vorgeschriebenen Preisen Schluß gemacht würde;
der Kulak arbeitete Hand in Hand mit dem Kleinindustriellen an der
vollständigen Wiedererrichtung des Kapitalismus. So begann der unversöhnliche
Kampf um das Überprodukt der Volkswirtschaft. Wer sollte in nächster Zukunft
darüber verfügen, die neue Bourgeoisie oder die Sowjetbürokratie? Das wurde die
Hauptfrage, denn wer über das Überprodukt verfügt, verfügt über den Staat. Das
erzeugte den Konflikt zwischen dem Kleinbürgertum, das der Bürokratie geholfen
hatte, den Widerstand der werktätigen Massen und ihres Wortführers, der
Linksopposition, zu brechen, und der thermidorianischen Bürokratie selbst, die
dem Kleinbürgertum geholfen hatte, das Bauerntum zu beherrschen. Dieser
Konflikt war ein direkter Kampf um die Macht und um das Einkommen. Natürlich
hatte die Bürokratie nicht die proletarische Vorhut zerschmettert, hatte sie
sich nicht den Anforderungen der internationalen Revolution entzogen, hatte sie
nicht die Philosophie der Ungleichheit eingeführt, um vor der Bourgeoisie zu
kapitulieren, ihr Diener zu werden und vielleicht von der Futterkrippe Staat
weggestoßen zu werden. Sie erschrak tödlich, als sie die Konsequenzen ihrer
Politik der letzten sechs Jahre sah. Brüsk wandte sie sich gegen den Kulaken
und den Nepmann. Gleichlaufend damit eröffnete sie die Linie der sogenannten
»Dritten Periode« in der Kommunistischen Internationale und den Kampf gegen die
Rechten. In den Augen der Naiven erschienen Theorie und Praxis dieser Dritten
Periode als eine Rückkehr zu den Grundsätzen des Bolschewismus. Sie waren
jedoch nichts dergleichen. Sie waren nur Mittel zum Zweck, und der Zweck war
nur, die Rechts Opposition und ihre Satelliten zu liquidieren. Die dumme
Komödie der berüchtigten »Dritten Periode« in Rußland und im Auslande liegt zu
kurz zurück, als daß es nötig wäre, sie hier zu beschreiben. Man könnte über
sie lachen, wenn ihre Folgen für die Massen nicht so tragisch gewesen wären. Es
ist für niemand ein Geheimnis, daß Stalin in seinem Kampf gegen die Rechten das
Almosen der Linksopposition entgegennahm. Nicht eine einzige neue Idee steuerte
er bei. Seine geistige Arbeit bestand in nichts anderem als in Drohungen und in
der Wiederholung von Losungen und Argumenten der Linksopposition, natürlich in
demagogischer Entstellung.
Im Gegensatz
dazu zeichnen sich die Schriften der Linksopposition von 1926-1927 durch
außergewöhnlichen Reichtum aus. Die Opposition reagierte auf jedes innere und
äußere Ereignis, auf jede Handlung der Regierung, auf jeden Beschluß des
Politbüros durch individuell oder kollektiv verfaßte Dokumente, die an die
verschiedenen Parteiinstitutionen, zumeist an das Politische Büro, gerichtet
wurden. Dies waren die Jahre der chinesischen Revolution, des anglo-russischen
Komitees und der äußersten Konfusion in den innenpolitischen Problemen. Die
Bürokratie suchte immer noch tastend ihren Weg, warf sich von rechts nach links
und wieder von links nach rechts. Ein großer Teil von dem, was die Opposition
schrieb, war nicht für die Zeitungen bestimmt, sondern nur für die leitenden
Instanzen der Partei. Doch selbst das, was ausdrücklich für die »Prawda« oder
für die theoretische Monatsschrift »Der Bolschewik« geschrieben war, erschien
niemals in der Sowjetpresse.
Die Mehrheit des Politbüros war fest
entschlossen, die Opposition zu erwürgen – mindestens sie zu ersticken, aus der
Partei auszustoßen, sie außer Landes zu scharfen, sie gefangen zu setzen. Das
war Stalins Weise, auf Argumente zu antworten, aber es war nicht die aller
Mitglieder des Politbüros. Nach und nach zog aber Stalin die Zögernden mit
sich, schmälerte ihre Reserven, ihre »Vorurteile«, machte aus jeder neuen
Maßnahme die unvermeidliche Konsequenz der vorangegangenen. Da war er in seinem
Element, da ist seine Meisterschaft unleugbar. Die Zeit kam, wo die Dissidenten
des Politbüros aufhörten, auch nur schwach gegen die Zumutungen von Stalins
grobschlächtigen »Aktivisten« zu protestieren.
Der Teil der Schriften der Opposition, den es mir
bei meiner Expulsion nach der Türkei mitzunehmen gelang, befindet sich jetzt in
der Harvard-Bibliothek, wo er all denen zur Verfügung steht, die sich für das
Studium dieser bemerkenswerten Schlacht interessieren und die aus der Quelle
schöpfen wollen. Beim Wiederlesen dieser Dokumente in dem Augenblick, wo ich
mit der Abfassung des vorliegenden Buches beschäftigt war, konnte ich
feststellen, daß die Opposition in zwei Punkten recht gehabt hatte: sie hatte
zugleich richtig gesehen und kühn gesprochen; sie hat Festigkeit und
außergewöhnlichen Mut in der Behauptung ihrer politischen Linie an den Tag
gelegt. Ihre Argumente sind niemals widerlegt worden. Man kann sich leicht die
Wut vorstellen, die sie bei Stalin und seinen nächsten Mitarbeitern
hervorriefen. Die politische und intellektuelle
Überlegenheit der Vertreter der Opposition über die Mehrheit des Politbüros
scheint klar aus jeder Zeile dieser Dokumente. Stalin wußte nichts zu antworten
und versuchte nicht einmal, es zu tun. Er griff auf eben die Methode zurück,
die seit seiner frühesten Jugend ein Teil seiner selbst war: nicht vor
Kameraden mit dem Gegner diskutieren und ihm eigene Ansichten entgegenhalten,
sondern ihn persönlich angreifen und ihn wenn möglich physisch vernichten.
Seine geistige Ohnmacht vor Argumenten, vor Kritik, rief seinen Zorn hervor,
und der Zorn trieb ihn zu überstürzten Maßnahmen zur Liquidierung der
Opposition. So verging die Periode 1926-1927. Die Zukunft sollte zeigen, daß sie
nur eine Generalprobe für das Schauspiel von Perfidie und Entartung war, das
die Welt zwölf Jahre später erschauern machte.
Auf der einen Seite stand in dieser großen
Polemik die Linksopposition, feurigen Geistes, unermüdlich in ihren
Untersuchungen und Forschungen, leidenschaftlich bemüht, die richtige Lösung
der Probleme zu finden, die die wechselnde Situation im Innern und in der
Internationale stellte, sich strikt an die Traditionen der Partei haltend. Auf
der anderen Seite: die bürokratische Clique, die kalt ihre Machenschaften
durchführte, um sich ihrer Kritiker zu entledigen, aller ihrer Gegner, der
Störenfriede, die ihr keine Ruhe gönnen wollten, die ihr nicht die Möglichkeit
lassen wollten, den Sieg zu genießen, den sie davongetragen hatte. Während die
Angehörigen der Opposition damit beschäftigt waren, die grundlegenden Fehler
der offiziellen Politik in China zu analysieren oder den Block mit der
britischen Gewerkschaftsführung ihrer Kritik unterwarfen, setzte Stalin das
Gerücht in Umlauf, die Opposition arbeite für Austin Chamberlain gegen die
Sowjetunion, sie wolle die Sowjetunion nicht verteidigen, dieser oder jener Oppositionelle
benütze unberechtigterweise Staatsautomobile, Kamenew hätte früher ein
Telegramm an Michael Romanow unterzeichnet, Trotzky hätte einen wütenden Brief
an Lenin geschrieben. Immer blieben die Daten und alle die richtige
Einschätzung solcher Dinge erst möglich machenden Umstände im Dunkeln.
Aber das waren nicht die einzigen Methoden der
Widerlegung nach Stalinscher Art. Stalin und seine Diener erniedrigten sich
noch tiefer und fischten im schmutzigen Wasser des Antisemitismus. Ich entsinne
mich besonders einer in der »Rabotschaja Gaseta« (»Arbeiterzeitung«)
erschienenen Zeichnung, die »Die Genossen Trotzky und
Sinowjew« darstellte. Es gab viele ähnliche Karikaturen und schlechte, komisch
sein sollende Verse antisemitischen Charakters in der Presse der Partei; sie
riefen hämisches Lächeln hervor. Stalins Haltung gegenüber dem wachsenden
Antisemitismus war von freundlicher Neutralität. Die Dinge gingen aber so weit,
daß er sich gezwungen sah, mit einer Erklärung zu intervenieren, in der es
hieß: »Wir bekämpfen Trotzky, Sinowjew und Kamenew nicht, weil sie Juden sind,
sondern weil sie Oppositionelle sind«, usw. Es war allen politisch Denkenden
klar, daß diese absichtlich zweideutig gehaltene Erklärung nur gegen die
»Exzesse« des Antisemitismus gerichtet war, während die ganze Sowjetpresse
deutlich zu verstehen gab: »Vergeßt nicht, daß die Führer der Opposition Juden
sind!« Und so hatten die Antisemiten freie Hand.
Die meisten Parteimitglieder trugen zur
Niederlage der Opposition gegen ihren Willen bei, gegen ihre Sympathien, gegen
ihre eigenen Erinnerungen. Sie wurden Schritt für Schritt dazu gebracht, so
abzustimmen, wie sie es unter dem Druck des Apparats taten, wie auch der
Apparat selbst von der Spitze aus nach der Basis hin in den Kampf gegen die
Opposition hineingezogen wurde. Stalin überließ die Rollen im Vordergrund
Sinowjew, Kamenew, Bucharin und Rykow, weil sie unendlich besser als er für
eine öffentliche Diskussion mit der Opposition gewappnet waren, aber auch, weil
er nicht alle Brücken hinter sich abbrechen wollte. Die harten Schläge, die die
Opposition trafen und die entscheidend zu sein schienen, riefen eine geheime,
aber tiefe Sympathie für die Besiegten und ausgesprochene Feindschaft gegen die
Sieger hervor, besonders gegen die beiden leitenden Persönlichkeiten, Sinowjew
und Kamenew. Stalin zog daraus Vorteil. Er grenzte sich öffentlich von Kamenew
und Sinowjew ab, die als die Hauptverantwortlichen für den unpopulären Feldzug
gegen Trotzky galten. Er schrieb sich die Rolle des Versöhnlers zu, des
Gemäßigten und des unparteiischen Schiedsrichters im fraktionellen Kampf.
1925 sprach Sinowjew von mir zu Rakowsky, den er
mit den Siegen seiner Fraktion beeindrucken wollte, in folgenden Ausdrücken:
»Armseliger Politiker! Er ist unfähig, die richtige Taktik zu finden. Deshalb
ist er geschlagen worden!« Ein Jahr später trommelte der unglückselige Kritiker
meiner Taktik an die Tür der Linksopposition. Selbst 1925 hatten er und Kamenew
noch nicht verstanden, daß sie zum Werkzeug der bürokratischen Reaktion
geworden waren – so wie sie sich 1917 geirrt hatten. 1926 verstanden sie, daß
für einen Revolutionär eine andere »Taktik« nicht möglich war, denn sie waren
schließlich von der Alten Garde und konnten sich ehrlicherweise den
Bolschewismus nicht ohne seine internationalistische Perspektive und seine
revolutionäre Dynamik vorstellen. Es war dies die Tradition, die die alten
Bolschewiki hochhielten. Deshalb hielt die ganze Partei zu Lenins Zeiten sie
für ein unersetzliches Kapital. Das ausnehmende und ungewöhnliche Interesse,
das Lenin der alten Generation von Revolutionären entgegenbrachte, war von
dieser politischen Betrachtungsweise in ebenso hohem Maße diktiert wie von
kameradschaftlicher Solidarität. Als sich Sinowjew vor Rakowsky seiner
erfolgreichen »Taktik« gegen mich rühmte, brüstete er sich bloß damit, dies
Kapital schlecht angewandt und vergeudet zu haben. Von 1923 bis 1926 wurde auf
die Initiative Sinowjews hin und anfänglich unter seiner Leitung der Kampf
gegen den Trotzkismus benannten internationalistischen Marxismus unter dem
Losungswort der Verteidigung der Alten Garde geführt; die Opposition wurde
beschuldigt, das Prestige der Alten Garde zu untergraben. Man schuf eine
Sonderkommission mit dem Auftrage, über das Wohlergehen der Alten Bolschewiki
zu wachen. Das Abrutschen zum Thermidor drückte sich nirgends so greifbar aus
wie in den politischen Kompromissen eben dieser Alten Garde. Was folgte, war
ihre physische Ausrottung. Die Kommission, die ihre Gesundheit hüten sollte,
wurde schließlich durch eine kleine GPU-Abteilung berufsmäßiger Mörder ersetzt,
die Stalin mit dem Orden der Roten Fahne belohnte.
Lefebvre weist in seinem Buche »Les
Thermidoriens« nach, daß die Aufgabe der Thermidorianer darin bestand, den 9.
Thermidor als eine zweitrangige Episode darzustellen – zu dem Zwecke
durchgeführt, die Kerngruppe der Jakobiner zu bewahren und ihre traditionelle
Politik fortzusetzen. In der ersten Phase des Thermidor richtete sich der
Angriff nicht gegen die Jakobiner als Ganzes, sondern nur gegen die
Terroristen. (Der gleiche Prozeß wiederholte sich im sowjetischen Thermidor.)
Die Kampagne gegen den Trotzkismus begann mit der Verteidigung der Alten Garde
und der bolschewistischen politischen Linie, wurde fortgesetzt im Namen der
Parteieinheit und erreichte seinen Kulminationspunkt in der physischen
Ausrottung aller Bolschewiki ohne Unterschied. In beiden
Thermidors wurde die Vernichtung der Revolutionäre im Namen der Revolution und
angeblich im Lebensinteresse der Revolution vorgenommen. Die Jakobiner wurden
nicht als Jakobiner niedergeschlagen, sondern als Terroristen, als
Robespierristen, genau so wurden die Bolschewiki als Trotzkisten vernichtet,
als Sinowjewisten und Bucharinisten. Zwischen dem russischen Terminus
»Trotzkistskoje ochwostije«, der sich volles Bürgerrecht in den
Sowjetpublikationen erwarb, und dem Titel eines Pamphlets, das Méhée de la Touche
über den 9. Thermidor veröffentlichte: »La queue de Robespierre« herrscht eine
bemerkenswerte Ähnlichkeit. Aber die Gleichartigkeit der grundlegenden
thermidorianischen Methoden ist noch merkwürdiger. Lefebvre schreibt, daß
Barrère, als er am Tage nach dem neunten Thermidor im Namen der Mitglieder des
Wohlfahrtsausschusses sprach, vor der Convention behauptete, daß nichts
Wichtiges passiert sei. (Und drei Wochen später), am 2. Fructidor (19. August),
beschrieb Louchet – derselbe, der die Anklage gegen Robespierre vorgebracht
hatte – den Fortschritt der Reaktion, verlangte die Verhaftung aller
Verdächtigen und erklärte, es sei notwendig, »den Terror wieder auf die
Tagesordnung zu setzen«.
Das Prestige der Führer, nicht nur das
persönliche Prestige Lenins, sicherte dem Zentralkomitee seine Autorität. Das
Prinzip einer individuellen Leitung war der Partei vollständig fremd. Die
Partei bestimmte die populärsten Männer für die Leitung, schenkte ihnen ihr
Vertrauen und ihre Bewunderung, blieb aber immer davon überzeugt, daß die
eigentliche Leitung vom Zentralkomitee in seiner Gesamtheit ausging. Das
Triumvirat zog aus diesen Umständen beträchtlichen Vorteil, indem es auf die
Souveränität des Zentralkomitees gegenüber irgendeiner individuellen Autorität
hindeutete. Stalin, Kulissenschieber, Zentrist und Eklektiker par excellence,
Meister in der Kunst der etappenweisen Verabfolgung kleiner Dosen, mißbrauchte
das Vertrauen der Partei zum Zentralkomitee zynisch für seine eigenen Zwecke.
Ende 1925 sprach Stalin noch von den Führern in
der dritten Person und hetzte die Partei gegen sie auf. Er erhielt den Beifall
der mittleren Bürokratenschicht, die sich weigerte, sich irgendeinem Führer zu
beugen. In Wirklichkeit war Stalin selbst schon Diktator. Ein Diktator, der
sich noch nicht als Führer fühlte und den niemand als solchen anerkannte.
Diktator nicht kraft seiner Persönlichkeit, sondern dank
der Macht des politischen Apparats, der die alten Führer vernichtet hatte. Noch
zu einem so späten Zeitpunkt wie auf dem Sechzehnten Parteitag im Jahre 1930
sagte Stalin: »Ihr fragt, warum wir Trotzky und Sinowjew ausgeschlossen haben?
Weil wir keine Aristokraten in der Partei haben wollen, weil wir nur das eine
Gesetz in der Partei anerkennen, daß alle Parteimitglieder gleichberechtigt
sind.« Dieselben Worte wiederholte er 1934 auf dem Siebzehnten Parteitag.
Er bediente sich der Rechten als Sturmbock gegen
die Linksopposition, denn nur die Rechte hatte ein bestimmtes Programm, hatte
Interessen und Grundsätze, die durch einen Triumph der Linksopposition
gefährdet werden konnten. Als er aber sah, daß der Ausschluß der
Linksopposition schwere Unruhe und Unzufriedenheit in der Partei und Ärger über
die Rechtsopposition hervorrief, begriff Stalin, daß er diese Unzufriedenheit
ausnützen und sich gegen die Rechten wenden konnte. Der Konflikt der
Klassenkräfte in dieser Schlacht zwischen der Linken und der Rechten beschwerte
ihn weniger als seine enttäuschende Rolle als Versöhnler oder Friedensstifter,
der imstande ist, die unvermeidliche Zahl von Opfern auf ein Minimum zu
reduzieren und die Partei vor einem Schisma zu bewahren. In seiner Rolle als
oberster Schiedsrichter war es ihm möglich, die Verantwortung für die strengen
Maßnahmen, die gegen gewisse volkstümliche Mitglieder der Partei getroffen
worden waren, bald auf den einen, bald auf den anderen Flügel der Partei
abzuwälzen. Aber Klassen können nicht irregeführt werden. Als bloßes Manöver
war die Pro-Kulaken-Politik der Jahre 1924-1928 schlimmer als verbrecherisch,
sie war absurd. Man kann den Kulaken nicht irreführen. Er urteilt nach den
Steuern, den Preisen, dem Verdienst, nicht nach Phrasen und Deklamationen; er
urteilt nach Tatsachen und nicht nach Worten. Ein Manöver kann niemals die
Aktion und Reaktion der Klassenkräfte ersetzen; bestenfalls bleibt sein Nutzen
beschränkt, und nichts kann die revolutionäre Moral einer Massenpartei sicherer
zerstören als prinzipienlose heimliche Manöver. Nichts ist tödlicher für die
Moral und den Charakter der einzelnen Revolutionäre. Nie kann die Kriegslist
die große Strategie ersetzen.
In einem Gespräch zehn Jahre nach dem
Oktoberaufstand wies mich Smilga darauf hin, daß in den ersten fünf Jahren des
Sowjetregimes die Tendenz vorherrschte, die Differenzen abzuschwächen – Risse
wurden gestopft, alte Wunden geheilt, Gegner versöhnten sich
usw., während sich in den folgenden fünf Jahren, denen von 1923 ab, der Prozeß
umkehrte: jeder Riß wurde erweitert, jeder Unterschied in den Auffassungen
angeregt und vertieft, jede Wunde weiter aufgerissen. Die bolschewistische
Partei in ihrer alten Form, in ihren alten Traditionen und mit ihren alten
Beständen geriet mehr und mehr zu der neuen führenden Schicht in Gegensatz.
In diesem Widerspruch liegt das Wesen des
Thermidor. Steril und absurd ist die Sisyphusarbeit derjenigen, die versuchen,
alle spätere Entwicklung auf einige sogenannte Grundzüge der bolschewistischen
Partei zurückzuführen, als ob eine politische Partei eine geschlossene Einheit
und ein allmächtiger historischer Faktor wäre. Eine politische Partei ist nur
ein zeitweiliges historisches Instrument, eins der zahlreichen Instrumente der
Geschichte und auch eine ihrer Schulen. Die bolschewistische Partei stellte sich
selbst das Ziel der Machteroberung durch die Arbeiterklasse. In dem Maße, wie
diese Partei zum erstenmal in der Geschichte diese Aufgabe löste und die
menschliche Erfahrung durch diese Eroberung bereicherte, hat sie eine gewaltige
historische Funktion erfüllt. Nur die von ihrer Vorliebe für abstruse
Diskussionen Verleiteten können von einer politischen Partei verlangen, sie
solle sich die sehr viel kompakteren Faktoren Masse und Klasse, die ihr
feindlich sind, unterwerfen und sie ausschalten. Daß die Partei darauf
beschränkt ist, ein historisches Instrument zu sein, findet in der Tatsache
ihren Ausdruck, daß sie an einem gegebenen Punkte, zu einer gewissen Zeit, zu
zerfallen beginnt. Unter der Spannung äußeren und inneren Drucks bilden sich
Sprünge, die Risse erweitern sich, die Organe beginnen zu verkümmern. Dieser
Auflösungsprozeß zeigte sich zuerst langsam im Jahre 1923, dann beschleunigte
er sich rasch. Die alte bolschewistische Partei und ihre heroischen alten Kader
gingen den Weg allen Fleisches; vom Fieber und von Spasmen und von peinvoll
schmerzenden Attacken geschüttelt, ging sie schließlich ein. Um das
stalinistische Regime zu errichten, war nicht eine bolschewistische Partei
vonnöten, sondern die Ausrottung der bolschewistischen Partei.
Zahlreiche Kritiker, Publizisten,
Pressekorrespondenten, Historiker, Biographen und einige Amateursoziologen
haben der Linksopposition manchmal Vorhaltungen wegen ihrer taktischen Irrtümer
gemacht und behauptet, daß ihre Strategie nicht den Anforderungen des Kampfes
um die Macht entsprochen habe. In dieser Form aber ist die
Frage falsch gestellt. Die Linksopposition konnte nicht die Macht ergreifen und
hoffte nicht einmal darauf – jedenfalls nicht ihre denkfähigsten Führer. Ein
von der Linksopposition, einer revolutionären marxistischen Organisation
geführter Kampf um die Macht ist nur vorstellbar unter den Bedingungen einer
revolutionären Erhebung. Unter solchen Bedingungen gründet sich die Strategie
auf den Angriff, auf den direkten Appell an die Massen, auf einen
Frontalangriff gegen die Regierung. Viele Mitglieder der Linksopposition hatten
eine bedeutende Rolle in einer Schlacht solcher Art gespielt und wußten aus
erster Hand, wie sie geführt werden mußte. Zu Beginn der zwanziger Jahre aber
gab es keine revolutionäre Erhebung in Rußland, ganz im Gegenteil; unter
solchen Bedingungen stand die Entfesselung eines Kampfes um die Macht ganz
außer Frage.
Man erinnere sich daran, daß in den Jahren der
Reaktion 1908-1911 und später die bolschewistische Partei sich weigerte, einen
direkten Angriff auf die Monarchie zu unternehmen und sich auf die
vorbereitende Arbeit für eine vielleicht mögliche Offensive beschränkte, indem
sie für die Aufrechterhaltung der revolutionären Traditionen und für die
Erhaltung gewisser Kader kämpfte, die Ereignisse einer unermüdlichen Analyse
unterwarf und alle legalen und halblegalen Möglichkeiten ausnützte, um die am
meisten klassenbewußten Arbeiter zu erziehen. In dieselben Bedingungen
hineingestellt, konnte die Linksopposition nicht anders handeln. Tatsächlich
waren die Bedingungen unter der Sowjetreaktion für die Opposition
unvergleichlich schwieriger als sie unter dem Zarismus für die Bolschewiki
gewesen waren. Im wesentlichen aber war die Aufgabe dieselbe: die
revolutionären Traditionen hochhalten, den Kontakt mit den fortgeschrittenen
Elementen in der Partei aufrechterhalten, die Entwicklung der
thermido-rianischen Periode analysieren, sich auf die kommende revolutionäre
Erhebung in der Welt und in der UdSSR selbst vorbereiten. Eine der Gefahren,
die der Opposition drohten, war, daß sie ihre Kräfte unterschätzte und ihre
Rolle nach einigen vorzeitigen Versuchen aufgab, in denen die Vorhut
notwendigerweise nicht nur an dem Widerstand der Bürokratie, sondern auch an
der Indifferenz der Massen gescheitert wäre. Dann hätte die Opposition den
Schluß gezogen, daß eine offene Verbindung mit den Massen und sogar mit ihren
fortgeschrittensten Elementen unmöglich sei, sie hätte den Kampf aufgegeben und
bessere Zeiten abgewartet.
Eine
Revolution bricht und zerstört den alten Staatsapparat. Das ist ihre erste
Aufgabe. Die Massen treten in die politische Arena. Sie entscheiden, sie
handeln, sie bestimmen das Gesetz in noch nie dagewesener Weise; sie urteilen,
sie befehlen. Das Wesen der Revolution ist, daß die Masse ihr eigenes
Exekutivorgan wird. Tritt die Masse aber von der Bühne, wandert sie ab, zieht
sie sich in ihre Wohnwinkel zurück, verstört, desillusioniert, müde, dann
verfällt die Arena und wird um so trostloser, je weiter der bürokratische
Apparat sie besetzt. Natürlich sind die neuen Herren ihrer selbst und der
Massen nicht sicher und voller Besorgnis. Deshalb spielt in den Epochen der
siegreichen Reaktion der militärisch-politische Apparat eine viel größere Rolle
als unter dem alten Regime. In dem Pendelschwung von der Revolution zum
Thermidor war die besondere Natur des russischen Thermidor durch die Rolle
bedingt, die die Partei in ihm spielte. Der französischen Revolution stand
nichts Derartiges zur Verfügung. Die Jakobinerdiktatur, insofern sie sich im
Wohlfahrtsausschuß verkörperte, dauerte nur ein Jahr. Diese Diktatur fand eine
reelle Unterstützung in der Convention, die sehr viel stärker war als die
revolutionären Klubs und Sektionen. Hier liegt der klassische Widerspruch
zwischen der Dynamik der Revolution und ihrer parlamentarischen
Widerspiegelung. Am revolutionären Kampf, der die antagonistischen Kräfte
einander offen entgegenstellte, nahmen die aktivsten Elemente der Klassen teil.
Die andern – die Neutralen, die Passiven, die Unbewußten – schienen sich aus
dem Spiel heraushalten zu wollen. Zu den Wahlzeiten war die Teilnahme größer
und umfaßte eine beträchtliche Anzahl derjenigen, die nur halb-passiv und
halb-indifferent sind. In Revolutionszeiten sind die parlamentarischen
Vertreter unvergleichlich gemäßigter und abgewogener als die revolutionären
Gruppen, die sie repräsentieren. Um die Convention zu beherrschen, überließ die
Bergpartei lieber ihr die Herrschaft über die Nation als den revolutionären
Elementen des Volkes.
Trotz des ungleich tiefer gehenden Charakters der
Oktoberrevolution rekrutierte sich die Armee des sowjetischen Thermidors
wesentlich aus den Resten der ehemals führenden Parteien und ihrer
ideologischen Vertreter. Die ehemaligen Großgrundbesitzer, die Kapitalisten,
die Rechtsanwälte, ihre Söhne – das heißt die von ihnen, die nicht ins Ausland
geflüchtet waren – wurden in den Staatsapparat aufgenommen und sogar zu einem
nicht unbeträchtlichen Teil in die Partei; die meisten derjenigen aber, die in den Staatsapparat oder die Partei übernommen
wurden, waren ehemalige Mitglieder kleinbürgerlicher Gruppierungen –
Menschewiki und Sozialrevolutionäre. Zu ihnen trat die enorme Zahl einfacher
Spießbürger, die sich in den stürmischen Revolutions- und Bürgerkriegstagen
abseits gehalten hatten und die sich, nunmehr von der Stabilität der
Sowjetregierung überzeugt, mit ausnehmender Leidenschaft der noblen Aufgabe
widmeten, sich angenehme Dauerstellungen, wenn nicht in der Hauptstadt, so
mindestens in den Provinzen, zu sichern. Dieser enorme, buntschillernde Mob war
die natürliche Stütze des Thermidor.
Seine Gefühlsskala reichte vom blassen Rosa bis
zum Schneeweiß. Die Sozialrevolutionäre waren natürlich zu allen Zeiten und in
jeder Fasson bereit, die Interessen der Bauern gegen die Bedrohungen durch die
»industrialistischen« Banditen zu verteidigen, während die Menschewiki im
allgemeinen glaubten, daß der ländlichen Bourgeoisie, deren politische
Fürsprecher sie geworden waren, mehr Land und mehr Freiheit gegeben werden
müsse. Die überlebenden Großbourgeois und Landeigentümer, die ihren Weg in die
Regierungsposten gefunden hatten, sahen natürlich in den Bauern ihre letzte
Hoffnung. Als Vorkämpfer für ihre eigenen Klasseninteressen konnten sie für den
Augenblick keine wie immer gearteten Erfolge erwarten und verstanden
vollkommen, daß sie durch eine Periode der Verteidigung der Bauernschaft
hindurch mußten. Keine dieser Gruppen konnte offen ihr Haupt erheben. Sie alle
waren auf die Schutzfarbe der führenden Partei und des traditionellen
Bolschewismus angewiesen. Der Kampf gegen die permanente Revolution wurde für
sie der Kampf gegen die Konsekration der Abschaffung ihrer vormaligen
Privilegien. Es ist nur natürlich, daß sie mit Freuden die Bolschewiki als
Führer akzeptierten, die sich gegen die permanente Revolution wandten.
Die Wirtschaft hatte einen neuen Aufschwung
genommen; es wurde ein gewisser Überschuß erzielt. Natürlich war er auf die
Städte konzentriert und ganz zur Verfügung der herrschenden Schicht. Er brachte
die Theater, die Restaurants und die Kabaretts mit sich. Hunderttausende von
Menschen der verschiedensten Berufe, die während der hitzigen Bürgerkriegsjahre
in einer Art von Koma gelebt hatten, lebten nun wieder auf und beteiligten sich
an der Wiederherstellung eines normalen Lebens. Sie alle standen auf Seiten der
Gegner der permanenten Revolution. Sie alle wollten den Frieden, das Wachstum
und die Stärkung der Bauernschaft und wollten auch
wachsende Prosperität der Vergnügungsetablissements in den Städten. Die
Permanenz der neuen Zustände lag ihnen näher als die Permanenz der Revolution.
Professor Ustrialow fragte sich, ob die Neue Ökonomische Politik (»Nep«) von
1921 eine »Taktik« sei oder eine »Evolution«. Diese Frage beunruhigte Lenin
sehr. Der spätere Verlauf der Ereignisse bewies, daß die »Taktik« infolge des
besonderen Gesichts der historischen Umstände zur Quelle einer »Evolution«
wurde. Der strategische Rückzug der revolutionären Partei wurde zum
Ausgangspunkt ihrer Entartung.
Die Konterrevolution installiert sich, wenn sich
das Knäuel der sozialen Eroberungen abzuwickeln beginnt. Es scheint dann, daß
das Abwickeln kein Ende nehmen wird. Ein Teil der revolutionären
Errungenschaften wird jedoch immer bewahrt. So bleibt trotz der monströsen
bürokratischen Entstellungen die Klassenbasis der UdSSR proletarisch. Vergessen
wir aber nicht, daß der Abwicklungsprozeß noch nicht zu Ende und daß die
Zukunft Europas für die nächsten Jahrzehnte noch nicht entschieden ist. Der
russische Thermidor hätte sicher eine neue Ära der Herrschaft der Bourgeoisie
eröffnet, wenn die Herrschaft der Bourgeoisie nicht in der ganzen Welt
hinfällig geworden wäre. Auf jeden Fall haben der Kampf gegen die Gleichheit
und die Herstellung sehr tiefgehender sozialer Differenzierungen bis jetzt noch
nicht das sozialistische Bewußtsein der Massen auslöschen, noch die
Nationalisierung der Produktionsmittel und des Bodens beseitigen können, die
die Haupterrungenschaften der Revolution sind. Trotz allen Entstellungen, die
sie an diesen Eroberungen vornimmt, ist es der Bürokratie noch nicht möglich
gewesen, das Privateigentum an den Produktionsmitteln wieder herzustellen. Am
Ende des achtzehnten Jahrhunderts war das Privateigentum an den
Produktionsmitteln ein fortschrittlicher Faktor von höchster Bedeutung: es
hatte noch Europa und die Welt zu erobern. Heute aber ist das Privateigentum
das größte Hindernis für die normale Entwicklung der Produktivkräfte. Obwohl
die überwiegende Mehrheit der Bürokratie durch ihre Lebensweise, ihren
Konservatismus, ihre politischen Sympathien zum Kleinbürgertum neigt, stecken
ihre ökonomischen Wurzeln tief in den neuen Eigentumsbedingungen. Das Anwachsen
der bürgerlichen Beziehungen bedrohte nicht nur die sozialistische Basis des
Eigentums, sondern auch die soziale Grundlage der Bürokratie. Sie wiese wohl
die sozialistische Entwicklungsperspektive zugunsten der
kleinbürgerlichen zurück, aber sie wäre in keinem Fall bereit, auf ihre eigenen
Rechte und Privilegien zugunsten des Kleinbürgertums zu verzichten. Hier liegt
der Widerspruch, der zu dem äußerst scharfen Konflikt führte, der zwischen der
Bürokratie und den Kulaken ausbrach.
Hierin unterscheidet sich der Sowjetthermidor
radikal von seinem französischen Prototyp. Die jakobinische Diktatur war
notwendig gewesen, um die Feudalgesellschaft zu entwurzeln und die neue soziale
Ordnung gegen die Angriffe des äußeren Feindes zu verteidigen. Als das
geschehen war, bestand die Aufgabe des thermidorianischen Regimes darin, die
notwendigen Bedingungen für die Entwicklung dieser neuen Gesellschaft zu
schaffen, die eine bürgerliche war, das heißt, die auf dem Privateigentum
beruhte und auf der Handelsfreiheit, deren frühere Beschränkungen zum größten
Teil gefallen waren. Die Wiederherstellung einer beschränkten Handelsfreiheit
durch die Nep im Jahre 1921 war ein Rückzug vor den bürgerlichen Forderungen.
Tatsächlich aber war der freie Handel so eingeschränkt, daß er die Grundlagen
des Regimes (die Nationalisierung der Produktionsmittel) nicht erschüttern
konnte; die Zügel der Herrschaft blieben in den Händen der russischen
Jakobiner, die die Oktoberrevolution geführt hatten. Selbst die spätere Ausdehnung
der Handelsfreiheit im Jahre 1925 veränderte die Basis des Regimes nicht,
obwohl die Bedrohung damals stärker wurde. Der Kampf gegen den Trotzkismus
wurde im Namen des Bauern geführt, hinter dem sich der gefräßige Nepmann und
der gierige Bürokrat versteckten. Sobald der Trotzkismus besiegt und die
Bodenverpachtung legal geworden war, wurde das Abgleiten der Macht auf der
ganzen Linie von der Linken zur Rechten offenbar – trotz der gelegentlichen
Linksschwenkungen, denen stets weiter nach rechts führende Schritte folgten. In
dem Maße, wie die Bürokratie ihre Linksschwenkungen dazu benützte, um jeden
folgenden Pendelschwung nach rechts weiter auszudehnen, verlief die
Zickzacklinie beständig zum Schaden der werktätigen Massen und im Interesse
einer privilegierten Minderheit; ihr thermidorianischer Charakter ist
unleugbar.
Jean-Jacques Rousseau lehrte, daß politische
Demokratie mit zu großer Ungleichheit unvereinbar sei. Die Jakobiner, Vertreter
der kleinbürgerlichen Masse, waren von dieser Lehre durchdrungen. Die
Gesetzgebung der jakobinischen Diktatur, besonders das
Maximalgesetz, beruhte auf dieser Grundlage. Gleicherweise die sowjetische
Gesetzgebung, die die Ungleichheit sogar aus der Armee verbannte. Unter Stalin
änderte sich das alles, und heute ist die Ungleichheit nicht nur sozial,
sondern ökonomisch. Sie ist von der Bürokratie zynisch im Namen der
revolutionären Doktrin des Bolschewismus gefördert worden. In ihrem Feldzug
gegen die trotzkistische Kritik des Regimes der Ungleichheit, in ihrer
Agitation zugunsten verschieden hoher Lohnsätze, beschwor die Bürokratie die
Schatten Marxens und Lenins herauf und suchte Deckung für ihre Privilegien
hinter dem schwer arbeitenden »mittleren« Bauern und dem qualifizierten
Arbeiter. Sie klagte die Linksopposition an, zu versuchen, der qualifizierten
Arbeit den höheren Lohn vorzuenthalten, auf den diese volles Anrecht hätte. Das
war dieselbe demagogische Tarnung, die der Kapitalist und Grundbesitzer
vornahm, wenn er Krokodilstränen vergoß im Namen des qualifizierten
Mechanikers, des unternehmungslustigen Kleinkaufmanns und des Bodenpächters,
dieses ewigen Märtyrers. Das war ein geschicktes Manöver Stalins, das natürlich
sofort von den privilegierten Beamten unterstützt wurde, die in ihm zum
erstenmal ihren auserwählten Führer sahen. Mit grenzenlosem Zynismus wurde die
Gleichheit als ein kleinbürgerliches Vorurteil hingestellt; die Opposition
wurde als Hauptfeindin des Marxismus und große Sünderin gegen das Evangelium
Lenins gebrandmarkt. Bequem in Autos sitzend, die technisch Eigentum des
Proletariats sind, und in ebenfalls dem Proletariat gehörende Badeorte fahrend,
lachten sich die Bürokraten ins Fäustchen: »Wofür haben wir gekämpft?« Dieser
ironische Satz war damals sehr populär. Die Bürokratie hatte Lenin respektiert,
aber seine puritanische Hand hatte sie immer etwas verdrossen. Ein um 1926-1927
häufig erzählter Witz charakterisierte ihre Haltung gegenüber der vereinten
Opposition: »Wir tolerieren Kamenew, aber wir respektieren ihn nicht. Wir
respektieren Trotzky, aber wir tolerieren ihn nicht. Sinowjew tolerieren und
respektieren wir nicht.« Die Bürokratie suchte nach einem Führer, der der Erste
unter Gleichen wäre. Stalins Hartnäckigkeit und Engstirnigkeit flößten ihr
Vertrauen ein. »Wir fürchten Stalin nicht«, sagte Jenukidse zu Serebrjakow.
»Wenn er sich zu breit macht, werden wir ihn ausschalten!« Zum Schluß jedoch
wurden sie von Stalin ausgeschaltet.
Der französische Thermidor, der von
Linksjakobinern ausgegangen war, schlug schließlich in eine Reaktion gegen alle
Jakobiner um. »Terrorist«, »Montagnard«, »Jakobiner« wurden
beleidigende Ausdrücke. In der Provinz wurden die Freiheitsbäume ausgerodet und
die trikolore Kokarde zertrampelt. Solche Praktiken waren in der Sowjetrepublik
undenkbar. In der totalitären Partei lagen alle für die Reaktion notwendigen
Elemente eingeschlossen, die sie unter der offiziellen Fahne der
Oktoberrevolution mobilisierte. Die Partei duldete keine Konkurrenz, selbst
nicht im Kampf gegen ihre Feinde. Der Kampf gegen die Trotzkisten verwandelte
sich nicht in einen Kampf gegen die Bolschewiki, weil die Partei diesen Kampf
gänzlich absorbiert, ihm bestimmte Grenzen gesetzt hatte und ihn im Namen des
Bolschewismus führte.
Für naive Augen schienen Theorie und Praxis der
»Dritten Periode« die Theorie der thermidorianischen Periode der russischen
Revolution zu widerlegen. In Wirklichkeit bestätigten sie diese nur. Die
Substanz des Thermidor war sozialen Charakters und konnte nur sozialen
Charakters sein. Sie war die Kristallisierung einer neuen privilegierten
Schicht, die Schöpfung eines neuen Unterbaus für die ökonomisch herrschende
Klasse. Zwei Anwärter auf diese Rolle waren vorhanden: das Kleinbürgertum und
die Bürokratie selbst. Sie kämpften Schulter an Schulter (in der Schlacht um
die Brechung) des Widerstands der proletarischen Avantgarde. Als diese Aufgabe
erfüllt war, brach ein wütender Kampf unter ihnen los. Die Bürokratie in ihrer
Isolierung und Trennung vom Proletariat bekam Angst. Allein war sie nicht
imstande, weder den Kulaken niederzuhalten, noch das Kleinbürgertum, das auf
der Basis der Nep gewachsen war und weiter wuchs. Sie brauchte die Hilfe des
Proletariats. Daher ihre planmäßigen Anstrengungen, den Kampf mit dem
Kleinbürgertum um das Überprodukt und die Macht als Kampf des Proletariats
gegen die kapitalistischen Restaurierungsversuche darzustellen.
Hier hört die Analogie mit dem französischen
Thermidor auf. Die neue soziale Basis der Sowjetunion wurde vorherrschend. Die
Nationalisierung der Produktionsmittel und des Bodens aufrechtzuerhalten, das
ist für die Bürokratie eine Frage von Leben und Tod, denn sie ist die soziale
Quelle ihrer Vormachtstellung. Das war der Grund für ihren Kampf gegen den
Kulaken. Die Bürokratie konnte diesen Kampf nur führen und zu einem Ende
bringen mit Unterstützung des Proletariats. Daß es ihr gelang, diese
Unterstützung zu erhalten, wird durch nichts besser bewiesen, als
durch die Lawine von Kapitulationen der Vertreter der neuen Opposition. Der
Kampf gegen den Kulaken und der Kampf gegen die Rechtsfraktion – das waren die
offiziellen Losungen jener Periode – erschienen den Arbeitern und vielen
Linksoppositionellen als die Wiedergeburt der Diktatur des Proletariats und der
sozialistischen Revolution. Wir warnten sie damals: es geht nicht nur darum, was
getan wird, sondern auch darum, wer es tut. Unter den Bedingungen der Sowjetdemokratie,
das heißt der Arbeiterregierung, hätte der Kampf gegen die Kulaken nicht die
Form angenommen, die er damals annahm: konvulsivisch, panikartig und
bestialisch; er hätte zu einer allgemeinen Hebung des ökonomischen und
kulturellen Niveaus der Massen auf der Grundlage der Industrialisierung
geführt. Aber der Kampf der Bürokratie gegen den Kulaken war nur ein Kampf auf
dem Rücken der Arbeiter, und da die Kämpfenden kein Vertrauen in die Massen
hatten, denn alle beide fürchteten sie, bekam er einen krampfartigen und
mörderischen Charakter. Dank der Unterstützung durch das Proletariat endete er
mit dem Sieg der Bürokratie, einem Sieg, der das spezifische Gewicht des
Proletariats im politischen Leben des Landes nicht erhöhen konnte.
Um den russischen Thermidor zu verstehen, ist es
nötig, sich eine richtige Vorstellung von der Rolle der Partei als politischen
Faktors zu machen. In der französischen Revolution gab es nichts, was der
bolschewistischen Partei auch nur von ferne ähnelte. In der Periode des
Thermidors gab es in Frankreich verschiedene soziale Gruppen (unter den
verschiedensten) politischen Benennungen, die sich untereinander im Namen
bestimmter gesellschaftlicher Interessen bekämpften. Die Thermidorianer griffen
die Jakobiner an und bezeichneten sie als Terroristen. Die Goldene Jugend
unterstützte die thermidorianische Rechte und bedrohte sie gleichzeitig. In
Rußland deckte alle die verschiedenen Prozesse, Konflikte und Bündnisse der
Name der einzigen Partei.
Äußerlich war es ein und dieselbe Partei, die die
Etappen ihrer Existenz am Anfang der Sowjetregierung und zwanzig Jahre später
mit denselben Methoden und im Namen derselben Ziele feierte: im Namen der
Erhaltung ihrer politischen Reinheit und ihrer Einheit. In der Tat aber waren
die Rolle der Partei und die Rolle der »Säuberungen« radikal andere geworden.
In den Anfangszeiten der Sowjetmacht schüttelte die alte revolutionäre Partei
ihre Emporkömmlinge ab, und die Komitees setzten sich aus
revolutionären Arbeitern zusammen. Die Abenteurer oder Emporkömmlinge oder
einfachen Kanaillen, die versuchten, Regierungsposten zu erhalten, gingen über
Bord. Die Säuberungen der letzten Jahre waren im Gegensatz dazu ausschließlich
gegen die alten Revolutionäre gerichtet. Die Organisatoren dieser Säuberungen
waren die schlimmsten Bürokraten und die minderwertigsten Parteifunktionäre.
Die Opfer der Säuberungen waren die loyalsten Elemente, die den revolutionären
Traditionen am meisten ergeben waren und vor allem die Generation der ältesten
Revolutionäre, die echten proletarischen Elemente. Der soziale Inhalt der
Säuberungen hat sich grundlegend geändert, aber diese Änderung ist durch die
Tatsache verdeckt, daß die Säuberungen von derselben Partei vorgenommen werden.
In Frankreich sehen wir unter ähnlichen Umständen die verspätete Bewegung der
Kleinbürger- und Arbeiterbezirke gegen die Häupter der kleinen und mittleren
Bourgeoisie, geführt von den Thermidorianern unter Mithilfe der Goldenen
Jugend.
Diese Banden der Goldenen Jugend sind heute in
der Partei und im Kommunistischen Jugendverband. Sie sind die Kampfabteilungen,
die sich aus den Söhnen der Bourgeoisie rekrutieren, junge Privilegierte, die
entschlossen sind, ihre Privilegien und die ihrer Familie zu verteidigen. Es
genügt, auf die Tatsache hinzuweisen, daß sich an der Spitze des
Kommunistischen Jugendverbands während langer Jahre Kossarew befand, allgemein
als moralisch degeneriert bekannt, der seine hohe Stellung für seine
persönlichen Zwecke ausnützte; sein ganzer Apparat setzte sich aus Männern
gleichen Typus zusammen. Das war die Goldene Jugend des russischen Thermidors.
Daß sie mit der Partei eins machte, maskierte ihre soziale Funktion als
Sturmtrupp der Privilegierten gegen die Arbeiter und Unterdrückten. Die
sowjetische Goldene Jugend rief: »Nieder mit dem Trotzkismus! Es lebe das
leninistische Zentralkomitee!«, genau so, wie die Goldene Jugend des
französischen Thermidors gerufen hatte: »Nieder mit den Jakobinern! Es lebe die
Convention!«
Die Jakobiner hielten sich vor allem infolge des
Drucks der Straße auf den Konvent. Die Thermidorianer, das heißt die Deserteure
des Jakobinertums, wandten dieselbe Methode, aber zu entgegengesetzten Zwecken
an. Sie begannen, die gut angezogenen Söhne der Bourgeoisie, ehemaliger
Sansculotten, zu organisieren. Diese Angehörigen der Goldenen Jugend, oder
einfach die »Jungen«, wie sie die konservative Presse
nachsichtig nannte, wurden ein so bedeutender Faktor der nationalen Politik,
daß sie die Plätze der aus der Verwaltung ausgeschiedenen Jakobiner einnahmen.
Der gleiche Prozeß geht noch jetzt in der Sowjetunion vor sich. Ja, er geht
unter Stalin sogar noch bedeutend weiter.
Die thermidorianische Bourgeoisie war durch einen
tiefen Haß gegen die Montagnards gekennzeichnet, denn ihre eigenen Führer
stammten aus den Reihen der Männer, die an der Spitze der Sansculotten
gestanden hatten. Die Bourgeoisie und mit ihr die Thermidorianer fürchteten
nichts so sehr wie eine neue Volkserhebung. Eben deshalb bildete sich in jener
Periode in der französischen Bourgeoisie das Klassenbewußtsein voll aus. Die
Bourgeoisie haßte die Jakobiner und Halbjakobiner mit wildem Haß – als Verräter
an ihren heiligsten Interessen, als zum Feinde übergelaufene Deserteure, als
Renegaten. Der Ursprung des Hasses der Sowjetbürokratie gegen die Trotzkisten
hat denselben sozialen Charakter. Wir sehen hier Angehörige derselben Schicht,
derselben führenden Gruppe, derselben bevorrechteten Bürokratie, die auf ihre
Posten verzichten, um ihr Schicksal mit dem der Sansculotten zu verbinden, der
Enterbten, der Proletarier, der armen Bauern. Immerhin liegt ein Unterschied in
der Tatsache, daß die französische Bourgeoisie schon vor der großen Revolution
bestand. Sie zerbrach ihre politischen Eierschalen mittels der
Nationalversammlung; sie mußte aber durch die Periode der Convention und der
jakobinischen Diktatur hindurch, um mit ihren Feinden zusammensitzen zu können,
als sie in der thermidorianischen Periode ihre historischen Traditionen
erneuerte. Die leitende Sowjetkaste ihrerseits setzte sich gänzlich aus
thermidorianischen Bürokraten zusammen, die sich nicht nur aus den
bolschewistischen Reihen rekrutierten, sondern auch aus denen der
kleinbürgerlichen und bürgerlichen Parteien und diese letzteren hatten mit den
»Fanatikern« des Bolschewismus eine Rechnung zu begleichen.
Der Thermidor ruhte auf einer sozialen Grundlage.
Er war eine Frage des Brotes, des Fleisches, der Behausung und, wenn möglich,
des Luxus. Die jakobinische bürgerliche Gleichheit in Form der Maximal-Regelung
behinderte die Entwicklung der bürgerlichen Ökonomie und die Erhöhung des
bürgerlichen Wohlstands. In diesem Punkte wußten die Thermidorianer ganz genau,
was sie wollten. Aus der Erklärung der Menschenrechte strichen sie den
Hauptparagraphen: »Alle Menschen sind von Natur aus frei
und gleich.« Denen, die die Wiederaufrichtung dieses wichtigen jakobinischen
Grundsatzes verlangten, antworteten die Thermidorianer, er sei zweideutig und
deshalb gefährlich, natürlich seien die Menschen gleich, aber nicht in ihren
Fähigkeiten und nicht nach ihrem Besitz. Der Thermidor war ein direkter Protest
gegen den spartanischen Zug und das Streben nach Gleichheit.
Dieselbe soziale Begründung findet sich im
Sowjetthermidor. Die Hauptaufgabe war, mit den spartanischen Einschränkungen
der ersten Revolutionsperiode Schluß zu machen. Aber es handelte sich auch
darum, die steigenden Privilegien der Bürokratie zu festigen. Es handelte sich
keineswegs darum, ein liberales Wirtschaftssystem einzuführen; in dieser
Richtung wurden nur zeitweise Konzessionen gemacht, die sehr viel weniger lange
dauerten, als vorgesehen war. Ein liberales System auf der Grundlage des
Privateigentums hätte die Konzentration des Reichtums in den Händen der
Bourgeoisie, vor allem der Spitzen der Bourgeoisie, bedeutet. Die Privilegien
der Bürokratie haben einen anderen Ursprung. Die Bürokratie schreibt sich den
Teil des Nationaleinkommens zu, den sie sich durch ihre Kraft oder durch
Ausübung ihrer Autorität verschaffen kann oder durch direkten Eingriff in die
Wirtschaftsverhältnisse. Wegen des Überschusses der nationalen Produktion
wurden die Bürokratie und das mit ihr verbündete Kleinbürgertum bald zu
Feinden. Die Kontrolle des Überproduktes eröffnete für die Bürokratie den Weg
zur Macht.
II. Ein Kinto
an der Macht
Bevor er in Israel König wurde, hütete David die
Schafe und spielte die Flöte. Sein außergewöhnlicher Aufstieg wird
verständlich, wenn man in Betracht zieht, daß alle Söhne der halbnomadischen
Israeliter Schafe hüteten und daß in jenen Zeiten die Kunst, Menschen zu
regieren, kaum komplizierter war als die Kunst, eine Herde zu betreuen.
Inzwischen hat sich jedoch sowohl die Gesellschaft als die Kunst des Regierens
gewaltig kompliziert. Wenn ein moderner Monarch seinen Thron verlassen muß, so
ist es nicht mehr nötig, seinen Nachfolger unter den
Schafhirten zu suchen. Solch heikle Frage wird auf der Grundlage der
automatisch funktionierenden dynastischen Erbfolge gelöst.
Meteorenhaften Aufstieg hat es in der
menschlichen Geschichte des öfteren gegeben. Julius Cäsar, durch Geburtsrecht
Angehöriger einer wenig zahlreichen Oligarchie, erhob als natürlicher Kandidat
Anspruch auf die Macht. Nicht so Napoleon I. Doch war auch er nicht im selben
Grade ein Emporkömmling wie die vornehmlichsten Diktatoren unserer Zeit. Er
war, was man auch sonst von ihm halten mag, ein glänzender Soldat und gehörte
als solcher derselben alten Tradition an wie Julius Cäsar, das heißt, er hatte
als Krieger auf dem Schlachtfelde seine Fähigkeit erwiesen, Männer zu
befehligen, und war also um so eher imstande, eine waffen- und wehrlose
Bevölkerung zu beherrschen. An diese uralte Tradition hielt man sich weniger
strikt im Falle jener Napoleon-Imitation, allgemein unter dem Namen Napoleon
der Kleine oder der Dritte bekannt, dem militärische Gaben völlig fehlten. Aber
schließlich war auch er kein einfacher Parvenu. Er war der Neffe seines großen
Onkels – überdies war er zu Großem bestimmt durch den gezähmten Adler, der über
seinem Haupte schwebte.
Am Vorabend des ersten Weltkriegs erschien denn
auch die Karriere Napoleons III. nur noch als ein phantastisches Echo aus
vergangenen Zeiten. Die Demokratie hatte sich fest etabliert – zumindest in
Europa, in Nordamerika und in Australien; in Lateinamerika machte sie eher
lehrreiche als ernsthafte Fortschritte. Sie hatte Eroberungen in Asien gemacht,
sie erweckte die Völker Afrikas. Der konstitutionelle Mechanismus schien die
einzige für die zivilisierte Menschheit akzeptable Methode, das einzige Regierungssystem
zu sein. Und da die Zivilisation weiterhin wuchs und sich ausdehnte, schien die
Zukunft der Demokratie gesichert.
Die Ereignisse in Rußland am Ende des Krieges
versetzten dieser historischen Konzeption den ersten Schlag. Nach acht Monaten
der Stagnation und des demokratischen Chaos kam es zur Diktatur der
Bolschewiki. Jedoch war das wohl im Grunde lediglich eine »Episode« der
Revolution, die selbst bloß das Produkt des zurückgebliebenen Zustands zu sein
schien, in dem sich Rußland befand, eine Wiederholung der Konvulsionen, denen
England in der Mitte des siebzehnten und Frankreich am Ende des achtzehnten
Jahrhunderts ausgesetzt gewesen waren. Lenin erschien als
ein moskowitischer Cromwell oder Robespierre. Jedenfalls war es möglich, das
neue Phänomen zu klassifizieren und darin lag ein Trost.
Dann kam die »Neurose des gesunden
Menschenverstandes«, wie Schmalhausen den Faschismus definiert, diese
Herausforderung für jeden Historiker. Es war nicht leicht, eine geschichtliche
Analogie für Mussolini und elf Jahre später für Hitler zu finden. Man beschränkte
sich auf vage Anspielungen auf Cäsar und Siegfried – und Al Capone. In
zivilisierten, demokratischen Ländern, die durch eine lange Schule des
Vertretungssystems gegangen waren, kamen plötzlich mysteriöse Fremde an die
Macht, deren Beschäftigung in der Jugend fast ebenso bescheiden gewesen war wie
die der David und Josua. Mit Kriegslorbeeren konnten sie nicht prunken, neue
Wahrheiten hatten sie der Welt nicht zu verkünden, der Schatten eines großen
Ahnen im Dreispitz stand nicht hinter ihnen; Roms Löwin war nicht Mussolinis
Großmutter und das Hakenkreuz nicht Hitlers Wappenzeichen, sondern nur ein den
Ägyptern und Indern gemaustes Symbol. Die liberale Demokratie glaubte, sich dem
Faschismus gegenüber behaupten zu können; wie Genies sahen ja Mussolini und
Hitler schließlich nicht aus. Wie aber erklärte sich dann ihr
schwindelerregender Erfolg?
Die beiden Führer des Faschismus sind Vertreter
des Kleinbürgertums, das in der gegenwärtigen Epoche unfähig ist, originale
Ideen oder eine schöpferische Führung zu erzeugen. Hitler und Mussolini haben
praktisch alles und jeden plagiiert und imitiert. Mussolini stahl bei den
Bolschewiki und bei Gabriele d'Annunzio und holte sich seine Inspirationen im
Lager des big business. Hitler ahmte die Bolschewiki und Mussolini nach.
So sind die Führer der Kleinbourgeoisie, die von den Magnaten des Kapitals
abhängt, typische Persönlichkeiten zweiten Ranges – wie denn das Kleinbürgertum
selbst von oben bis unten zweitrangig ist und in den Klassenkämpfen ausnahmslos
eine zweitrangige Rolle spielt.
Eine Diktatur des Kleinbürgertums war am Ende des
achtzehnten Jahrhunderts noch möglich. Selbst da konnte sie sich nicht lange
halten. Robespierre stürzte nach kurzer Zeit in den Abgrund.
Die pathetische Leere Kerenskys war nicht ganz
persönlichem Unvermögen geschuldet, auch ein so habiler und
unternehmungslustiger Mensch wie Paltschinsky stand hilflos da. Kerensky war
nur der charakteristischste Vertreter dieser sozialen Ohnmacht, Wenn sich die Bolschewiki nicht der Herrschaft bemächtigt
hätten, hätte die Welt fünf Jahre vor dem Marsch auf Rom ein russisches Wort
für Faschismus kennengelernt. Warum Rußland sich nicht von der Reaktion
isolieren konnte, die während der zwanziger Jahre über das Nachkriegseuropa
hinwegfegte, das ist ein Thema, das der Verfasser an anderer Stelle behandelt
hat. Hier möge es genügen, darauf hinzuweisen, daß die Übereinstimmung der
Daten zwischen der Bildung des ersten faschistischen Ministeriums durch
Mussolini am 30. Oktober 1922 in Italien, dem Staatsstreich Primo de Riveras am
13. September 1923 in Spanien und der Verurteilung der »Erklärung« der 46
Bolschewiki durch die Vollsitzung des Zentralkomitees und der Zentralen
Kontrollkommission am 15. Oktober 1923 keine zufällige ist. (Solche Zeichen der
Zeit verdienen ernste Beachtung.)
Immerhin bewies Mussolini im Rahmen der
historischen Möglichkeiten große Initiative, Geschicklichkeit im Bluff,
Hartnäckigkeit und Einsicht. Er blieb innerhalb der Tradition der langen Reihe
italienischer Improvisatoren. Improvisationsgabe gehört zum Charakter der
italienischen Nation. Geschmeidig und außergewöhnlich ehrgeizig, brach er in
seiner Erfolgssucht mit seiner sozialistischen Karriere. Seine Wut gegen die
Partei wurde für ihn zur Haupttriebkraft. Er schuf und zerstörte theoretische
Konstruktionen. Er ist die echte Personifizierung des zynischen Egoismus und
der sich hinter Großmäuligkeit versteckenden Feigheit. Was einem bei Hitler
zuerst auffällt, sind seine fixen Ideen und sein Messianismus. Verletzte
Eitelkeit spielte eine bedeutende Rolle in seiner Entwicklung. Er war ein
deklassierter Kleinbürger, der sich weigerte, Arbeiter zu sein. Der normale
Arbeiter akzeptiert seine Stellung als normal. Hitler war ein prätentiöser
Entgleister mit psychischen Störungen. Er erhob sich, indem er auf Juden und
Sozialdemokraten verächtlich hinabsah. Sozialer Aufstieg um jeden Preis, das
war sein verzweifelter Entschluß. Im Laufe seiner Karriere fabrizierte er für
sich selbst eine »Theorie« voller Widersprüche und Vorbehalte eine Mischung aus
deutschen imperialen Wünschen und den gehässigen Tagträumen eines deklassierten
Kleinbürgers. Versuchen wir, eine historische Parallele für Stalin zu finden,
müssen wir nicht nur Cromwell, Robespierre, Napoleon und Lenin zurückweisen,
sondern auch Mussolini und Hitler. Wir kommen dem Verständnis Stalins näher,
wenn wir Mustafa Kemal Pascha oder vielleicht Porfirio Diaz zum Vergleich
heranziehen.
Als ich mich
auf einer der Sitzungen des Zentralkomitees erhob, um eine Erklärung der
Linksopposition zu verlesen, wurde ich ständig durch Schreien, Pfeifen,
Drohungen und Beleidigungen unterbrochen – genau so wie zehn Jahre früher, als
ich die Tribüne bestieg, um auf der Eröffnungssitzung des Kerenskyschen
Vorparlaments die Erklärung der Bolschewiki zu verlesen. Ich erinnere mich noch
daran, daß Woroschilow rief: »Er führt sich auf wie im Vorparlament!« Der
Schreier selbst ahnte nicht, wie recht er hatte.
Im Jahre 1927 wurden die offiziellen Sitzungen
des Zentralkomitees zu widerlichen Schaustellungen. Keine Frage wurde um ihrer
selbst willen diskutiert. Alles war im vorhinein hinter den Kulissen auf
Privatsitzungen mit Stalin geregelt, der damals seinen politischen Kuhhandel
mit der Rechten abschloß, mit Rykow, Bucharin und Tomski. In Wirklichkeit
fanden jedesmal mindestens zwei Sitzungen des Zentralkomitees statt. Die
Angriffslinie gegen die Opposition wurde vorher festgelegt, die Reden wurden
besprochen und die Rollen verteilt. War die Komödie im Gange, so ging sie immer
mehr in die obszöne Posse über. Die unverschämtesten Mitglieder des
Zentralkomitees, die erst kürzlich ausschließlich als Dank für die
Schamlosigkeit, die sie der Opposition gegenüber bewiesen hatten, ins
Zentralkomitee aufgenommen worden waren, unterbrachen andauernd die Reden von
Veteranen der Revolution mit stupiden Wiederholungen sinnloser Anschuldigungen
und mit Zwischenrufen von unerhörtester Rohheit und Vulgarität. Der Regisseur war
Stalin. Er ging auf der Präsidententribüne auf und ab, fixierte von Zeit zu
Zeit diejenigen, die eine Rede zu halten hatten, und machte aus seiner
Zustimmung kein Hehl, wenn ein Oppositioneller in besonders schamloser Weise
beleidigt worden war. Es war schwer, sich vorzustellen, daß man sich auf einer
Sitzung des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei befand, so gemein war
der Ton, so vulgär die Teilnehmer und so widerwärtig der eigentliche
Drahtzieher dieser entfesselten Bande. Auf diese Weise wurden im Zentralkomitee
der Partei die Umgangsformen der Tifliser Rowdys eingeführt. Bei einer solchen
Gelegenheit erinnerte sich jemand daran, wie Philipp Macharadse, einer der
alten Mitarbeiter Stalins, diesen einmal charakterisiert hatte: »Er ist einfach
ein ›Kinto‹!« »Kintos« heißen die Angehörigen der Tifliser Unterwelt; siehe das
1. Kap. (Anm. d. Übers.)
Ein anderer
alter Kampfkamerad Stalins im Kaukasus, Budu Mdiwani, schilderte mir damals
eine Unterredung, die er mit Stalin im Kreml gehabt hatte. Mdiwani hatte sich
bemüht, Stalin davon zu überzeugen, daß es nötig sei, zu irgendeinem
Übereinkommen mit der Opposition zu gelangen, da sonst die Partei von einer
Krise in die andere taumeln würde. Stalin hörte schweigend, aber ungeduldig und
mit sichtbarem Unbehagen zu, indem er im Zimmer auf und ab ging, wandte sich
dann, nachdem er bis in die äußerste Ecke gegangen war, um, ging auf Mdiwani zu
und machte brüsk vor ihm Halt, wobei er sich, alle Muskeln gespannt, auf die
Fußspitzen stellte und einen Arm in die Luft reckte. »Sie müssen vernichtet
werden!«, schrie er mit schrecklicher Stimme. Er habe, sagte Mdiwani, wahrhaft
zum Fürchten ausgesehen.
Persönliche physische Grausamkeit, das, was man
Sadismus nennt, ist zweifellos für Stalin kennzeichnend. Während seines
Aufenthaltes im Bakuer Gefängnis sprach einer seiner Zellennachbarn eines Tages
von der Revolution. »Ist Blut deine Leidenschaft?«, fragte Stalin ihn
unerwarteterweise, zog ein Messer hervor, das er im Schaft seines Stiefels
versteckt hatte, streifte ein Hosenbein hoch und ritzte sich tief ins Fleisch:
»Da hast du Blut!« Als er sowjetischer Würdenträger geworden war, vergnügte er
sich in seinem Landhaus damit, Schafe zu schlachten und Ameisenhügel mit
Petroleum zu übergießen und in Brand zu stecken. Zahlreiche ähnliche Vorfälle
werden von vertrauenswürdigen Leuten berichtet. Individuen mit solchen Anlagen
sind ziemlich selten. Dafür, daß diese dumpfen Instinkte der menschlichen Natur
sich so monströs entwickeln konnten, bedurfte es besonderer historischer
Umstände.
All seine Ressentiments, all die Wunden, die
seiner Eigenliebe geschlagen worden waren, seinen Neid und seine Verbitterung
übertrug er vom provinzlerischen Kleinmaßstab auf den großen des ganzen Landes.
Nichts vergißt er. Sein Gedächtnis besteht vor allem aus Verachtung. Er stellte
sich seinen Fünfjahresplan der Rache auf, und sogar seinen Zehnjahresplan.
Die Chewsuren – die Sitte der Blutrache. Wenn
sich der Chewsure rächen will, wirft er eine tote Katze auf das Grab seines
Feindes.
»›Auf das Grab des Toten‹, würde Stalin sagen,
›werft eine tote Katze!‹«, meint Sinaida Ordschonikidse.
Sein Bündnis
mit Hitler befriedigte seinen Rachedurst. Vor allem wollte er die Regierungen
Englands und Frankreichs beleidigen, die Beleidigungen rächen, denen der Kreml
ausgesetzt war, bevor Chamberlain darauf verzichtete, Hitler
zufriedenzustellen. Es machte ihm ein persönliches Vergnügen, heimlich mit den
Nazis zu verhandeln, während er öffentlich mit den befreundeten Botschaftern
Englands und Frankreichs zu unterhandeln schien; es machte ihm Vergnügen,
London und Paris zu täuschen und dann plötzlich mit der Überraschung eines
Paktes mit Hitler aufzuwarten. Er ist tragisch kleinlich.
Wenn es möglich wäre, den allmächtigen und
glaubenslosen Mystizismus zu verbannen, den schrillen Haß gegen Sozialismus und
Revolution – wenn sozusagen das Gedicht säkularisiert werden könnte – das
Gedicht vom »Großinquisitor« – das Gedicht von der Tragödie des Epigonen –. Die
Idee der Degeneration – in anderem Maßstab; das XV. Jahrhundert –. Die letzten
Verse des Dostojewskischen Gedichtes zeigen Christus, wie er den Inquisitor
schweigend auf die Lippen küßt. Der Abschied eines der bürokratischen Epigonen
der Christenheit. Bei all seiner Reserve, Lenin hätte ihm ins Gesicht gespuckt.
Der alte Soltz. Die Engstirnigkeit des
Philisters.
Moros. Das Gewissen der Partei, aber ohne
Gewissen.
Schkirjatow. Ein leicht betrunkener Arbeiter,
ausgehöhlt, resigniert. Klein-Schkirjatow würde zu Lenin sagen: »Geh, langweile
uns nicht, sonst verbrennen wir dich!«
Alexander und Wladimir. Die Blüte der russischen
Intelligenz. In Alexander hat die Intelligenz mit ihrer tragischen
Vergangenheit Schluß gemacht, in Wladimir hat sie eine Brücke zur Zukunft
geschlagen.
Man kann sagen, daß alle Männer von Genie, deren
Namen die Geschichte bewahrt, alle schöpferischen Menschen, alle Erneuerer, das
Wesentliche dessen, was sie zu sagen hatten, in den ersten fünfundzwanzig oder
dreißig Jahren ihres Lebens sagten. Später entwickelten sie, vertieften sie,
wandten sie an. In der ersten Periode von Stalins Leben hören wir nur die
vulgarisierte Wiederholung fertiger Formeln.
Stalin erklomm
den Stand des Genies erst, nachdem die von ihrem Generalsekretär angeführte
Bürokratie alle Gefährten Lenins umgebracht hatte.
Nach Nikolajewsky sagte Bucharin von Stalin, er
sei »ein Verteiler von Genie«. Der Ausdruck ist gut, obwohl auch hier »Genie«
zu viel ist. Ich hörte das zum erstenmal von Kamenew. Er wollte damit Stalins
besondere Fähigkeit bezeichnen, seine Pläne Schritt für Schritt zu realisieren,
auf Raten. Diese Möglichkeit setzt ihrerseits das Vorhandensein eines
hochzentralisierten politischen Apparats voraus. Die Aufgabe besteht darin,
sich nach und nach in der Maschine einzunisten, dann in der öffentlichen Meinung
des Landes. Den Prozeß beschleunigen und die durch-zuführende Änderung mit einem
Schlage vornehmen, hieße Unwillen und Widerstand erwecken.
Von den zwölf Aposteln Christi war nur Judas ein
Verräter. Hätte dieser aber die Macht übernommen, so würde er die elf andern zu
Verrätern erklärt haben und ebenso die übrigen Apostel, deren es nach Lukas
siebzig gab.
Am 19. November 1924 erklärte Stalin in seiner
Rede vor der bolschewistischen Gewerkschaftsfraktion: »Nachdem man den Genossen
Trotzky gehört hat, könnte man glauben, daß die Partei der Bolschewiki während
der ganzen Vorbereitungsperiode von März bis Oktober nichts anderes getan
hätte, als auf der Stelle zu treten, daß sie von inneren Gegensätzen zerfressen
war und daß sie Lenins Aktion in jeder Hinsicht hemmte. Und wenn da nicht ein
Genosse Trotzky gewesen wäre, dann hätte die Oktoberrevolution einen ganz anderen
Verlauf genommen. Es ist ziemlich amüsant, solche Sachen vom Genossen Trotzky
zu hören, der in dem Vorwort des dritten Bandes seines Werkes sagt: ›Das
Hauptwerkzeug der proletarischen Revolution ist die Partei.‹«
Natürlich hatte ich nichts von einer Unfähigkeit
oder Unwürdigkeit der Partei und besonders nicht des Zentralkomitees gesagt.
Ich hatte nur von den inneren Reibungen gesprochen. Was aber wirklich ein
Geheimnis bleibt, ist, wie eine Partei, von deren Zentralkomiteemitgliedern
zwei Drittel Volksfeinde und Agenten des Imperialismus waren, die Revolution
zum Siege führen konnte. Über dies Mysterium hat man uns noch nicht aufgeklärt.
Von 1918 ab hatten die »Verräter« die überwiegende Mehrheit
im Politbüro und im Zentralkomitee. Mit anderen Worten, die Politik der
bolschewistischen Partei wurde in den kritischen Revolutionsjahren
ausschließlich von Verrätern bestimmt. Unnütz zu sagen, daß Stalin im Jahre
1924 nicht voraussehen konnte, daß ihn die innere Logik seiner Methode zu einer
so ungeheuerlichen Absurdität führen würde. Typisch für Stalin ist seine
Fähigkeit, jede Spur der Vergangenheit auszulöschen alles, ausgenommen
persönliche Verstimmungen und seinen unersättlichen Rachedurst.
Ist es möglich, Schlußfolgerungen zu ziehen aus
dem Jahre 1924, auf der Basis der Jahre 1936-38, einer Zeit also, zu der es
Stalin schon gelungen war, alle Eigenschaften eines Tyrannen zu entwickeln?
1924 tat er noch nichts als für die Macht kämpfen. War er damals schon eines
solchen Komplotts fähig? Seine ganze Biographie zwingt uns, hierauf bejahend zu
antworten. Schon in der Zeit des Tifliser Seminars ließ er einen Rattenschwanz
schwerster Verdächtigungen und Beschuldigungen hinter sich. Tinte und Papier
sind für ihn zu unbedeutende Mittel in der Politik. Nur die Toten wachen nicht
wieder auf. Nachdem Sinowjew und Kamenew 1925 mit Stalin gebrochen hatten,
hinterlegten sie an einem sicheren Ort Briefe, in denen sie schrieben:
»Sollten
wir plötzlich sterben, so wißt, daß das Stalins Werk ist.«
Sie rieten mir, das gleiche zu tun. »Sie bilden
sich ein«, sagte Kamenew eines Tages zu mir, »daß Stalin sich damit
beschäftigt, Antworten auf ihre Argumente zu suchen; dem ist nicht so; er denkt
nur daran, ein Mittel zu finden, Sie straflos zu liquidieren.« »Entsinnen Sie
sich«, fuhr Kamenew fort, »der Verhaftung Sultan-Galijews, des ehemaligen
Vorsitzenden des tatarischen Rates der Volkskommissare? Das war die erste
Verhaftung eines hervorragenden Parteimitglieds, die auf Stalins Veranlassung
vorgenommen wurde. Unglücklicherweise gaben Sinowjew und ich unsere Zustimmung.
Da schmeckte Stalin zum erstenmal Blut. Sobald wir mit ihm gebrochen hatten,
machten wir so etwas wie ein Testament, worin wir darauf hinwiesen, daß im
Falle unseres ›zufälligen‹ Todes Stalin dafür verantwortlich gemacht werden
müßte. Bei diesem Asiaten müssen Sie auf alles gefaßt sein!«
Sinowjew fügte hinzu: »Mit Ihnen hätte er schon
1924 Schluß gemacht, wenn er nicht Vergeltungsmaßnahmen gefürchtet hätte,
terroristische Akte von Seiten der Jugend. Deshalb beschloß er,
damit zu beginnen, die Kader der Opposition zu dezimieren und mit Ihrer
Ermordung bis zu dem Augenblick zu warten, wo er sicher wäre, sie straflos
durchführen zu können. Der Haß, mit dem er uns verfolgt, besonders Kamenew,
kommt vor allem daher, daß wir zu viel wissen. Er ist aber noch nicht so weit,
uns verschwinden lassen zu können.« Es handelt sich hier nicht um bloße
Vermutungen. In den Honigmonden des Triumvirats drückten sich dessen Mitglieder
untereinander sehr frei aus.
Die ununterbrochenen Erfolge Stalins begannen
1923, als er nach und nach zu der Überzeugung kam, daß man den historischen
Prozeß nasführen könne. Die »Moskauer Prozesse« sind der Kulminationspunkt
dieser Politik aus Lüge und Gewalt. Gleichzeitig begann er voller Beunruhigung
zu fühlen, daß ihm der Boden unter den Füßen wegglitt. Jedes neue
Täuschungsmanöver machte, um es zu untermauern, ein doppeltes Täuschungsmanöver
nötig, jeder Gewaltakt erweiterte den Aktionsradius notwendiger Gewalt.
Stalins List ist im wesentlichen simpel und für
primitive Geister bestimmt. Untersucht man beispielsweise die »Moskauer
Prozesse« in ihrer Gesamtheit, so ist man frappiert von ihrer
Grobschlächtigkeit in Konzeption und Ausführung.
Im April 1925 wurde ich meines Postens als
Kriegskommissar enthoben. Mein Nachfolger, Frunse, war ein alter Revolutionär,
der viele Jahre als Zwangsarbeiter in Sibirien zugebracht hatte. Es war ihm
nicht bestimmt, den Posten lange Zeit inne zu haben – nur sieben Monate. Im
November 1925 starb er unter dem Skalpell eines Chirurgen. In den
voraufgegangenen Monaten hatte er allzuviel Unabhängigkeit in der Verteidigung
der Armee gegen die Überwachung durch die GPU gezeigt, welches eben das
Verbrechen war, wofür Tuchatschewsky zwölf Jahre später füsiliert wurde.
Bajanow hat angegeben, Frunse hätte eine Militärverschwörung geleitet; das ist
hanebüchener Unsinn. In dem Konflikt Sinowjews und Kamenews mit Stalin war
Frunse gegen Stalin. Die Opposition des neuen Kriegskommissars war voller
gewaltiger Risiken für den Diktator. Woroschilow, ein beschränkter Kopf und
gefügig, schien ihm ein weitaus sichereres Werkzeug. Gerüchte kamen auf in der
Partei, daß Stalin Frunses Verschwinden wünsche: daher der schnelle Tod.
Nach den verfügbaren Daten zu urteilen, stellen
sich die Dinge folgendermaßen dar: Frunse litt an Magengeschwüren. Da seine privaten Ärzte aber davon überzeugt waren, daß sein
Herz die Wirkungen des Chloroforms nicht vertragen würde, war Frunse
entschieden gegen eine Operation. Stalin beauftragte daraufhin einen Arzt des
Zentralkomitees, das heißt einen seiner Leute, die Ärzte zu einer Konsultation
zu versammeln; die Ärzte befürworteten natürlich einen chirurgischen Eingriff;
das Politbüro bestätigte diesen Beschluß. Frunse mußte sich unterwerfen, das
heißt, in der Narkose sterben.
Die Umstände seines Todes fanden ein Echo in der
Literatur (in Boris Pilnjaks »Geschichte des nicht untergegangenen Monds«)
Souvarine faßt Pilnjaks Schilderung folgendermaßen zusammen: »In der Moskauer
literarischen Zeitschrift ›Krasnaja Nov.‹ hat der sowjetische Schriftsteller B.
Pilnjak unter dem geheimnisvollen Titel ›Geschichte des nicht untergegangenen
Monds‹ und mit dem klareren Untertitel ›Die Ermordung des Kommandeurs‹ einen
vieldeutigen Bericht veröffentlicht, in dem die Anspielungen auf Stalin recht
präzise sind. Er schildert dort zwei Hauptpersonen, einen hohen Militär, der an
einem Geschwür leidet und der Heilung entgegengeht, und einen allmächtigen
Politiker, Mitglied einer ›Troika‹, die das Land regiert. Der letztere hat
insgeheim die Operation befohlen, deren der erstere keineswegs bedarf und die
keiner der herbeigerufenen großen Ärzte für nötig hält. Ein dunkles Vorgefühl
warnte den Kommandeur, er wagt aber nicht, dem Befehl seines politischen
Vorgesetzten entgegenzuhandeln und stirbt unter der Cloroformmaske.«
(»Staline«, Seite 371.). Stalin befahl die sofortige Beschlagnahme der
Dichtung, deren Verfasser damals in Ungnade fiel. Pilnjak mußte später
öffentlich seinen »Irrtum« bekennen. Außerdem hielt es Stalin für angebracht,
Dokumente zu veröffentlichen, die indirekt seine Unschuld beweisen sollten. Es
ist schwer zu sagen, was sich wirklich zutrug, aber die Tatsache des Verdachts
ist bezeichnend. Sie zeigt, daß Stalins Macht Ende 1925 schon so groß war, daß
er auf eine Gruppe gefügiger Mediziner zählen konnte, die über Chloroform und
Skalpell verfügten. Und doch kannte damals kaum ein Russe von hundert seinen
Namen.
Gelegentlich meiner Ausweisung in die Türkei im
Februar 1929 schrieb Bajanow: »Das ist nur eine halbe Maßnahme. Ich kenne
Stalin nicht wieder ... Wir haben einen gewissen Fortschritt gemacht seit den
Tagen Cäsar Borgias. Damals schüttete man geschickt ein wirksames Pulver in
einen Becher Falerner, oder der Feind starb, nachdem er in einen Apfel gebissen
hatte. Die gegenwärtigen Methoden sind von ganz anderen wissenschaftlichen
Errungenschaften eingegeben. Kochsche Bazillen, mit dem Essen vermischt und
systematisch verabfolgt, rufen allmählich eine galoppierende Schwindsucht und
den plötzlichen Tod hervor ... Ich sehe nicht klar ... warum Stalin diese
Methode nicht befolgt hat, die so sehr seinen Gewohnheiten und seinem Charakter
entspricht.«
Als Bajanows
Buch 1930 erschien, hielt ich es für bloße Literatur. Nach den »Moskauer
Prozessen« nahm ich es ernster. Wer hat dem jungen Manne derartige
Spekulationen eingeflößt? Wo ist die Quelle für das alles zu suchen? Bajanow
ist im Vorzimmer Stalins herangebildet worden, wo die Fragen der Kochschen
Bazillen und der Vergiftungsmethoden der Borgias natürlich schon vor 1926
diskutiert wurden, dem Jahr, in welchem Bajanow Stalins Sekretariat verließ.
Zwei Jahre danach ging er ins Ausland und wurde später ein reaktionärer
Emigrant.
Als Jeschow GPU-Chef wurde, änderte er die
Giftmischermethoden, als deren Schöpfer gerechterweise Jagoda anerkannt werden
muß. Aber er erzielte gleiche Resultate. In dem Prozeß vom Februar (2.–13.
März) 1938, wurde Jagodas Sekretär Bulanow unter anderem beschuldigt, ein
Giftmischer zu sein, und er wurde deswegen erschossen. Daß Bulanow das
Vertrauen Stalins genoß, wird durch die Tatsache bewiesen, daß er mit der
Mission betraut wurde, uns, meine Frau und mich, von unserem Exil in
Mittelasien nach unserem Exil in der Türkei zu eskortieren. Ich versuchte,
meine beiden ehemaligen Sekretäre Sermoux und Posnansky zu retten und
verlangte, daß sie mit mir zusammen deportiert würden. Da er zweifellos einen
unangenehmen Auftritt an der türkischen Grenze befürchtete und unsere
Deportation ohne Skandal durchführen wollte, setzte sich Bulanow telegrafisch
mit Moskau in Verbindung. Eine halbe Stunde später überbrachte er mir das
Originaltelegramm, damit ich selbst lesen könne, daß der Kreml Sermoux und
Posnansky zu erlauben versprach, mir zu folgen. Ich konnte das nicht glauben.
»Sie täuschen mich, dessen bin ich sicher«, sagte
ich zu Bulanow.
»Dann können Sie mich einen Schurken nennen.«
»Ein magerer Trost!« erwiderte ich.
Der Sekretär Maxim Gorkis, Krjutschkow, sagte
aus, daß ihm Jagoda gesagt habe: »Es ist nötig, Gorkis Tätigkeit zu hemmen,
weil sie sich gegen die ›großen Führer‹ wendet.« Diese Anspielung auf die
»großen Führer« wurde mehrmals wiederholt. Vor dem Tribunal wurde sie so
ausgelegt, als handle es sich um Rykow, Bucharin, Kamenew und Sinowjew. Doch
ist das eine offensichtliche Ungereimtheit, denn diese Männer wurden zu jener
Zeit selbst von der GPU verfolgt. »Große Führer«, das war das Pseudonym der
Herren des Kreml und vor allem Stalins selbst. Vergessen
wir nicht, daß Gorki gerade am Vorabend des Prozesses gegen Sinowjew starb.
Stalin hatte die Konsequenzen des ersten
Prozesses nicht vorausgesehen. Er hoffte, daß sich die Angelegenheit auf die
Vertilgung einiger seiner verhaßtesten Feinde beschränken würde vor allem
Sinowjews und Kamenews, an deren Beseitigung er seit zehn Jahren arbeitete. Er
hatte aber schlecht gerechnet: die Bürokratie war erschrocken und erschüttert.
Zum erstenmal sah sie in Stalin nicht den Ersten unter Gleichen, sondern einen
asiatischen Despoten, einen Tyrannen – Dschingis Khan, wie Bucharin eines Tages
sagte. Stalin begann, für seine Sonderstellung als höchste Autorität bei den
Alten der Sowjetbürokratie zu fürchten. Er konnte die Erinnerungen, die sie an
ihn hatten, nicht auslöschen, konnte sie nicht der Hypnose von seiner
Ober-Schiedsrichter-Rolle unterwerfen, die er sich selbst gegeben hatte. Furcht
und Schrecken wuchsen parallel zur Anzahl der bedrohten Köpfe und der bedrohten
Interessen. Niemand unter den Alten konnte der Anklage glauben. Die erzielte
Wirkung war nicht die, die er erhofft hatte. Er war gezwungen, über seine
ursprünglichen Absichten hinauszugehen.
Während der Vorbereitungen zu den
Massensäuberungen von 1936 legte Stalin das Projekt einer neuen Verfassung vor,
»der demokratischsten Verfassung der Welt«. Die Duranty und Louis Fischer
sangen laut das Lob der neuen demokratischen Ära. Der Zweck dieses schändlichen
Reklamerummels für die Stalinsche Verfassung war, die Geneigtheit der
demokratischen öffentlichen Meinung in der Welt zu gewinnen, um dann von dieser
vorteilhaften Grundlage aus jeden Opponenten gegen Stalin als faschistischen
Agenten niederknüppeln zu können. Charakteristisch ist, daß sich Stalin in
seiner geistigen Kurzsichtigkeit mehr mit persönlicher Rache befaßte, als
damit, die Drohung unwirksam zu machen, die der Faschismus für die Sowjetunion
und die Weltarbeiterschaft darstellte. Während er die »demokratischste
Verfassung der Welt« vorbereitete, beschäftigte sich die Bürokratie mit der
Veranstaltung von Banketten, auf denen endlos über das »neue und glückliche
Leben« gesprochen wurde. Auf diesen Banketten wurde Stalin inmitten von Arbeitern
und Arbeiterinnen fotografiert, ein Kind auf den Knien. Sein krankes Ego
bedurfte dieses Balsams. »Es ist klar«, bemerkte ich damals, »daß etwas
Fürchterliches in Vorbereitung ist.« Andere, die den
Mechanismus des Kreml gut kannten, waren ebenso beunruhigt wie ich über diese
plötzliche Freundlichkeit und Gemütlichkeit bei Stalin.
Ein gewisser Typus Moskauer Korrespondenten
schreibt immer wieder, daß die Sowjetunion nach den Säuberungen monolithischer
sei denn je. Diese Herrschaften sangen das Lob des Stalinschen Monolithismus
schon vor den Säuberungen. Nichtsdestoweniger ist es schwer verständlich, wieso
jemand, der sich im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte befindet, glauben kann,
es hätte erwiesen werden können, daß die bedeutendsten Vertreter der Regierung
und der Partei, des diplomatischen Korps und der Armee, Agenten des Auslands
gewesen wären, ohne darin die Vorzeichen einer tiefgehenden Unzufriedenheit mit
dem Regime zu erblicken. Die Säuberungen waren die Anzeichen schwerer
Krankheit. Die Beseitigung der Symptome kann nicht als Krankheitsbehandlung
angesehen werden. Ein Präzedenzfall unter dem autokratischen Regime der
zaristischen Regierung ist die während des Krieges erfolgte Verhaftung des
Kriegsministers Suchomlinow unter der Anklage des Hochverrats. Die alliierten
Diplomaten bemerkten damals Sasonow gegenüber: »Ihre Regierung ist stark, wenn
sie es wagt, ihren eigenen Kriegsminister in Kriegszeiten zu verhaften.« In
Wirklichkeit stand diese starke Regierung vor dem Zusammenbruch. Die
Sowjetregierung hat nicht nur ihren Kriegsminister Tuchatschewsky verhaftet und
hingerichtet, sondern noch viel mehr getan: sie hat den ganzen Generalstab der
Armee, der Marine und der Luftwaffe ausgerottet. Von dienstfertigen
ausländischen Korrespondenten unterstützt, hat die Stalinsche Propaganda die
öffentliche Meinung der ganzen Welt systematisch über die wirkliche Situation
in der Sowjetunion täuschen können.
Mit seinen Monsterprozessen hat Stalin mehr
bewiesen als er wollte, oder, genauer gesagt, es ist ihm mißlungen zu beweisen,
was er beweisen wollte. Es gelang ihm nur, sein Geheimlaboratorium bekannt zu
machen; er zwang hundertfünfzig Menschen, Verbrechen zu bekennen, die sie nicht
begangen hatten. Aber diese Geständnisse in ihrer Gesamtheit wurden zum eigenen
Schuldgeständnis Stalins.
In einem Zeitraum von zwei Jahren hat Stalin alle
Stellvertreter und Bundesgenossen Woroschilows hinrichten lassen, seine nächsten Mitarbeiter, seine Vertrauensleute. Wie ist das
zu verstehen? Ist es möglich, daß Woroschilow angefangen hätte, in seiner
Haltung Stalin gegenüber eine gewisse Unabhängigkeit zu zeigen?
Wahrscheinlicher ist, daß Woroschilow von ihm nahestehenden Leuten vorgeschoben
wurde. Der Militärapparat stellt große Anforderungen und ist gefräßig, er
erträgt die Beschränkungen nicht leicht, die ihm die Politiker, Zivilisten,
auferlegen wollen. Da er die Möglichkeit zukünftiger Konflikte mit diesem
mächtigen Apparat voraussah, beschloß Stalin, Woroschilow zuvorzukommen, bevor
dieser sich seiner Kontrolle entziehen könnte. Mit Hilfe der GPU, das heißt
durch Jeschow, ließ Stalin die Beseitigung der nächsten Mitarbeiter
Woroschilows hinter dessen Rücken vorbereiten, und zwar ohne daß dieser etwas
ahnte. Als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, stellte er ihn vor die Wahl.
Durch Stalins Furcht und Stalins Hinterlist in die Falle gelockt, wirkte
Woroschilow schweigend an der Vernichtung der Elite des Kommandostabs mit. Von
da an war er ohnmächtig und unfähig, sich jemals gegen Stalin zu erheben.
Stalin versteht meisterhaft die Kunst, sich eines
Mannes zu versichern, nicht, indem er seine Bewunderung erwirbt, sondern indem
er ihn zwingt, sein Komplice in schändlichen und unverzeihlichen Verbrechen zu
werden. Das sind die Steine der Pyramide, deren Spitze Stalin ist.
»Der Staat bin ich« ist fast eine liberale
Formulierung im Vergleich mit der Wirklichkeit des totalitären Regimes Stalins.
Ludwig der Vierzehnte identifizierte sich nur mit dem Staat. Die Päpste von Rom
identifizierten sich sowohl mit dem Staat als auch mit der Kirche – aber nur in
den Zeiten der weltlichen Macht. Der totalitäre Staat geht weit über den
Cäsaro-Papismus hinaus, da er die ganze Wirtschaft des Landes umfaßt. Zum
Unterschied vom Sonnenkönig könnte Stalin mit gutem Rechte sagen: »Die Gesellschaft
bin ich!«