Leo Trotzki: Stalin. Anhang
Portraits

Leo Trotzki
Lev Dawidowitsch Bronstein
Stalin
Eine Biographie
(Übersetzung N. N.)
Anhang.
Drei
Konzeptionen der russischen Revolution
Die Revolution von 1905 war nicht nur die
»Generalprobe« für 1917, sondern wurde auch zu dem Laboratorium, in dem alle
Hauptströmungen des russischen politischen Denkens geschaffen und alle
Tendenzen und Schattierungen innerhalb des russischen Marxismus vorgezeichnet
und ausgebildet wurden. Im Mittelpunkt der Argumentation und der
Meinungsverschiedenheiten stand selbstverständlich die Frage des
geschichtlichen Charakters der russischen Revolution und deren zukünftiger
Entwicklungsgang. Dieser Kampf der Konzeptionen und Voraussagen hat mit der
Biographie Stalins unmittelbar nichts zu tun, da Stalin an ihm keinen
selbständigen Anteil nahm. Die paar Propagandaartikel, die er zu diesem Thema
schrieb, haben nicht das mindeste theoretische Interesse. Dutzende von
Bolschewiki popularisierten, die Feder in der Hand, dieselben Ideen, und sie
taten es bedeutend besser als er. Eine kritische Darstellung der Konzeption des
Bolschewismus von der Entwicklung der Revolution gehört natürlich in die
Biographie Lenins. Theorien haben jedoch ihre Schicksale. Nahm Stalin in der
Periode der ersten Revolution und später bis 1923, als die revolutionären
Doktrinen ausgearbeitet und angewandt wurden, keinerlei selbständige Stellung
ein, so änderte sich das plötzlich im Jahre 1924. Eine Periode der
bürokratischen Revolution und der radikalen Revision der Vergangenheit begann.
Der Film der Revolution rollte nach rückwärts ab. Die alten Doktrinen wurden
neuer Einschätzung und neuer Interpretation unterworfen. In einer Weise, die
auf den ersten Blick gänzlich unerwartet erscheint, kam so die Konzeption der
»Permanenten Revolution«, dieser Urquell aller »Abweichungen« des Trotzkismus,
in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit. In den folgenden Jahren bildete die
Kritik dieser Konzeption den Hauptinhalt der theoretischen – sit venia verbo
– Arbeit Stalins und seiner Mitarbeiter. Man kann sagen, daß der ganze
»Stalinismus« in »theoretischer« Hinsicht aus der Kritik der Theorie der
permanenten Revolution, so wie sie im Jahre 1905 formuliert worden war,
hervorgegangen ist. Eine Darstellung dieser Theorie und dessen, was sie von
denen der Menschewiki und der Bolschewiki unterschied, darf deshalb in diesem Buche, sei es auch nur in Form eines Anhangs, nicht
fehlen.
Rußlands Entwicklung ist vor allem durch seine
Rückständigkeit gekennzeichnet. Eine historische Verspätung bedeutet indessen
nicht einfach eine Wiederholung der Entwicklung fortgeschrittener Länder mit
einem Unterschied von hundert oder zweihundert Jahren, sondern bewirkt eine
gänzlich neue, »kombinierte« gesellschaftliche Formation, in der die letzten
Errungenschaften der Technik und der kapitalistischen Struktur in feudale und
vorfeudale Gesellschaftsbeziehungen eingebaut werden, sie verändern, sie sich unterwerfen
und so ein originales gegenseitiges Verhältnis der Klassen zueinander schaffen.
Genau so geht es auf dem Gebiete der Ideen. Eben wegen seiner historischen
Verspätung war Rußland das einzige europäische Land, in dem der Marxismus als
Doktrin und die Sozialdemokratie als Partei sich vor der bürgerlichen
Revolution mächtig entwickelten. Auch ist es natürlich, daß in Rußland das
Problem der Beziehungen zwischen dem Kampf für die Demokratie und dem Kampf für
den Sozialismus seine tiefste theoretische Ausarbeitung, erfahren hat.
Die idealistischen Demokraten, besonders die
»Volkstümler«, weigerten sich abergläubisch, die kommende Revolution als
bürgerlich anzuerkennen. Sie nannten sie »demokratisch« und versuchten auf
diese Weise mittels einer neutralen politischen Formel den sozialen Inhalt der
Revolution nicht nur vor anderen, sondern auch vor sich selbst zu maskieren.
Doch hatte der Begründer des russischen Marxismus, Plechanow, in seinem Kampf
gegen die »Volkstümler« schon in den Jahren 1880-1890 nachgewiesen, daß Rußland
keinen Grund hatte, auf einen bevorrechteten Entwicklungsverlauf zu hoffen, daß
es, genau so wie die »profanen« Nationen, das Fegefeuer des Kapitalismus zu
durchschreiten habe und daß es eben in diesem Entwicklungsgange die dem
Proletariat bei seinem späteren Kampf für den Sozialismus notwendige politische
Freiheit erringen werde. Plechanow trennte nicht nur die bürgerliche
Revolution, als die erste Aufgabe, von der sozialistischen Revolution, die er
in eine unbestimmte Zukunft verwies, sondern sah für jede von ihnen ein
gänzlich verschiedenes Kräfteverhältnis voraus. Das Proletariat käme zur
politischen Freiheit im Bunde mit der liberalen Bourgeoisie; viele Jahrzehnte
später, auf einem höheren Niveau der kapitalistischen Entwicklung, würde das
Proletariat die sozialistische Revolution durchführen,
indem es direkt gegen die Bourgeoisie kämpfe.
»Dem russischen Intellektuellen ...«, schrieb
Lenin Ende 1904, »scheint es immer, daß die Anerkennung unserer Revolution als
einer bürgerlichen bedeutet, sie farblos zu machen, sie zu erniedrigen, ins
Vulgäre hinabzuziehen ... Für das Proletariat ist der Kampf für die politische
Freiheit und die demokratische Republik in der bürgerlichen Gesellschaft nur
eine notwendige Etappe im Kampf für die soziale Revolution.« »Die Marxisten«,
schrieb er 1905, »sind durchaus vom bürgerlichen Charakter der russischen Revolution
überzeugt. Was heißt das? Das heißt, daß die demokratischen Reformen ..., die
für Rußland eine Notwendigkeit geworden sind, nicht nur als solche noch keinen
Anschlag auf den Kapitalismus bedeuten, keinen Angriff auf die Vorherrschaft
der Bourgeoisie, sondern daß sie im Gegenteil zum erstenmal das Terrain
bereinigen für eine breite und schnelle europäische und nicht asiatische
Entwicklung des Kapitalismus, daß sie zum erstenmal die Herrschaft der
Bourgeoisie als Klasse möglich machen ...« »Wir können nicht aus dem
demokratisch-bürgerlichen Rahmen der russischen Revolution heraus«, unterstrich
er, »aber wir können diesen Rahmen in bedeutendem Maße erweitern«, das heißt,
in der bürgerlichen Gesellschaft günstigere Bedingungen für den späteren Kampf
des Proletariats schaffen. Innerhalb dieser Grenzen folgte Lenin den
Gedankengängen Plechanows. Der bürgerliche Charakter der Revolution war der
Ausgangspunkt beider Fraktionen der russischen Sozialdemokratie.
Unter solchen Bedingungen war es nur natürlich,
daß Koba bei seiner Propaganda nicht weiter als bis zu jenen populären
Formulierungen gegangen ist, die den gemeinsamen Fundus der Bolschewiki und der
Menschewiki bildeten. »Die Konstituierende Versammlung, die auf der Grundlage
der allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahl gewählt worden ist«,
schrieb er im Januar 1905, »dafür müssen wir jetzt kämpfen! Nur eine solche
Versammlung kann uns die demokratische Republik geben, die wir für unseren
Kampf für den Sozialismus äußerst notwendig brauchen.« Die bürgerliche
Republik, betrachtet als Arena eines langen Klassenkampfes mit dem Sozialismus
als Ziel, das war die Perspektive. 1907, das heißt nach zahllosen Diskussionen,
die in der im Ausland und in Petersburg erscheinenden Presse veröffentlicht
worden waren, und nach der ernstlichen Überprüfung der
theoretischen Voraussagen durch die Erfahrungen der ersten Revolution, hielt es
Stalin für möglich, zu schreiben: »Daß unsere Revolution bürgerlich ist, daß
sie enden muß mit der Zerstörung der Leibeigenschaft und nicht mit der
Zerstörung der kapitalistischen Ordnung, daß nur die demokratische Republik
ihre Krönung sein kann, darüber herrscht anscheinend völlige Übereinstimmung in
unserer Partei.« Stalin spricht nicht von dem Punkte, von dem die Revolution
auszugehen hat, sondern von dem, an dem sie enden soll, und er begrenzt sie in
ganz kategorischer Weise »nur« auf »die demokratische Republik«. Vergeblich
sucht man in seinen damaligen Schriften auch nur eine Bemerkung über die
Perspektive der sozialistischen im Zusammenhang mit der demokratischen
Revolution. Dieselbe Position nahm er noch zu Beginn der Revolution im Februar
1917 ein, als Lenin in Petrograd ankam.
Für Plechanow, für Axelrod und für die
menschewistischen Führer im allgemeinen hatte die Kennzeichnung der Revolution
als bürgerlich vor allem die politische Bedeutung, zu verhindern, daß die
Bourgeoisie vorzeitig mit dem roten Gespenst des Sozialismus geängstigt und ins
Lager der Reaktion »zurückgeworfen« würde. »Rußlands gesellschaftliche
Verhältnisse sind nur für die bürgerliche Revolution reif«, sagte der erste
Taktiker des Menschewismus, Axelrod, auf dem Vereinigungsparteitag. »Bei der
allgemeinen politischen Willkür, die bei uns herrscht, kann von einem
unmittelbaren Kampf des Proletariats für die Machteroberung und gegen die
anderen Klassen keine Rede sein ... Es kämpft, um die Bedingungen für eine
bürgerliche Entwicklung herzustellen. Die objektiven historischen Bedingungen
verweisen unser Proletariat auf eine unvermeidliche Zusammenarbeit mit der
Bourgeoisie im Kampfe gegen den gemeinsamen Feind.« Der Inhalt der russischen
Revolution wurde also von vornherein auf Reformen beschränkt, die mit den Interessen
und Ansichten der liberalen Bourgeoisie vereinbar waren.
Eben an diesem Punkte begann die grundlegende
Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Fraktionen. Der Bolschewismus
weigerte sich entschieden, anzuerkennen, daß die russische Bourgeoisie imstande
sei, ihre eigene Revolution zu Ende zu führen. Mit unvergleichlich größerer
Kraft und Konsequenz als Plechanow stellte Lenin die Agrarfrage als das
Zentralproblem der demokratischen Revolution in Rußland in den Vordergrund.
»Der Kern der russischen Revolution«, wiederholte er stets, »ist
die agrarische (die Land-)Frage. Auf Sieg oder Niederlage der Revolution ...
muß nach der Art und Weise geschlossen werden, in der die Situation der Massen
in ihrem Kampf um den Boden eingeschätzt wird.« Mit Plechanow hielt Lenin die
Bauernschaft für eine kleinbürgerliche Klasse und das bäuerliche Agrarprogramm
für das Programm des bürgerlichen Fortschritts. »Die Nationalisierung, das ist
eine Maßnahme der Bourgeoisie«, betonte er auf dem Vereinigungsparteitag. »Sie
wird der Entwicklung des Kapitalismus einen Impuls verleihen, indem sie den
Klassenkampf verschärft, eine vollständigere Ausnützung des Bodens ermöglicht,
Kapital in die Landwirtschaft einströmen macht und den Brotpreis senkt.« Trotz
des entschieden bürgerlichen Charakters der Agrarrevolution bliebe die
russische Bourgeoisie indes der Enteignung des Großgrundbesitzes gegenüber
feindlich gesinnt und bemühe sich aus eben diesem Grunde, mit der Monarchie auf
der Basis einer Verfassung nach preußischem Muster zu einem Kompromiß zu
gelangen. Plechanows Idee einer Allianz des Proletariats mit der liberalen
Bourgeoisie stellte Lenin die Idee eines Bündnisses des Proletariats mit der
Bauernschaft entgegen. Er proklamierte als Aufgabe der revolutionären
Zusammenarbeit der beiden Klassen die Errichtung einer »demokratischen Diktatur«
als des einzigen Mittels, um mit dem feudalen Gerümpel in Rußland radikal
aufzuräumen, eine neue Schicht freier Kleinlandwirte zu schaffen und den Weg
zur Entwicklung des Kapitalismus nicht auf preußische, sondern auf
amerikanische Weise zu eröffnen.
Der Sieg der Revolution, schrieb er, kann nur
erreicht werden, »durch die Diktatur, denn die Durchführung der Reformen, die
für das Proletariat und die Bauernschaft unbedingt und unmittelbar notwendig
sind, wird den verzweifelten Widerstand der Großgrundbesitzer, der
Großbourgeois und des Zarismus hervorrufen. Ohne Diktatur ist es unmöglich,
diesen Widerstand zu brechen und die konterrevolutionären Bestrebungen
niederzuhalten. Wohlverstanden, es handelt sich nicht um eine sozialistische,
sondern um eine demokratische Diktatur. Diese kann die Grundlagen des
Kapitalismus nicht angreifen (ohne eine ganze Serie von Zwischenetappen der
revolutionären Entwicklung). Sie kann bestenfalls eine radikale Neuverteilung
des Grundeigentums zugunsten der Bauernschaft durchführen, eine bis zur
Republik gehende konsequente und vollständige Demokratie errichten, alle
asiatischen Züge ausrotten, alle Überbleibsel der Leibeigenschaft
nicht nur auf dem Lande, sondern auch in den Fabriken, die Grundlage schaffen
für eine ernsthafte Besserung der Lage der Arbeiter und für eine Erhöhung ihrer
Lebenshaltung und schließlich, last but not least, den revolutionären
Brand nach Europa tragen.«
Lenins Auffassung stellte insofern einen
gewaltigen Schritt nach vorn dar, als sie nicht von konstitutionellen Reformen,
sondern von der bäuerlichen Erhebung ausging, die sie für die Hauptaufgabe der
Revolution hielt, und die einzige realistische Verbindung der sozialen Kräfte
anzeigte, die diese Erhebung erfolgreich durchführen konnten. Der schwache
Punkt der Leninschen Konzeption war jedoch der in sich widersprüchliche Begriff
der »demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft«. Lenin
selbst betonte die fundamentale Einschränkung dieser Diktatur, wenn er sie
offen »bürgerlich« nannte. Er wollte damit sagen, daß das Proletariat zur
Erhaltung seines Bündnisses mit der Bauernschaft gezwungen sein würde, darauf
zu verzichten, der unmittelbar bevorstehenden Revolution sogleich
sozialistische Aufgaben zu stellen. Das aber bedeutete den Verzicht des
Proletariats auf seine Diktatur. Es handelte sich infolgedessen im Grunde um
eine Diktatur der Bauernschaft unter Beteiligung der Arbeiter. Eben dies sagte
Lenin bei gewissen Gelegenheiten, so zum Beispiel auf dem Stockholmer
Parteitag, wo er Plechanow, der sich gegen die »Utopie« der Machtübernahme
gewandt hatte, antwortete: »Um welches Programm handelt es sich? Um das
Agrarprogramm. Wer soll diesem Programm nach die Macht übernehmen? Die
revolutionären Bauern. Verwechselt Lenin die Herrschaft des Proletariats mit
der Bauernherrschaft?« Nein, sagte er, von sich selbst sprechend: Lenin
unterscheidet klar die sozialistische Herrschaft des Proletariats von der
bürgerlich-demokratischen Herrschaft der Bauern. »Und«, rief er von neuem aus,
»wie wäre eine siegreiche Bauernrevolution möglich, ohne daß die revolutionäre
Bauernschaft die Macht übernähme?« Diese polemische Formulierung zeigt in
besonders klarer Weise die Verwundbarkeit seiner Position.
Die Bauernschaft war über die Weite eines
riesigen Landes verstreut, in dem die Städte die Kontaktstellen bildeten. Auf
sich allein gestellt, ist die Bauernschaft nicht imstande, ihre Interessen zu
formulieren, da sich diese in jeder Region in anderer Weise darstellen. Das
ökonomische Band zwischen den Provinzen wird vom Markte und von den Eisenbahnen
geschaffen, aber Markt und Eisenbahnen sind in den Händen
der Stadt. Versucht sie, sich aus der Enge des Dorfes zu befreien und das
Gemeinsame ihrer Ansprüche herauszustellen, so gerät die Bauernschaft
unvermeidlicherweise in politische Abhängigkeit von der Stadt. Schließlich
bildet die Bauernschaft ihren sozialen Verhältnissen nach keine homogene
Klasse: die Schicht der »Kulaken« will sie natürlich in ein Bündnis mit der
städtischen Bourgeoisie hineinziehen, die unteren Schichten des Dorfes
tendieren im Gegensatz dazu nach den städtischen Arbeitern. Unter diesen
Umständen ist die Bauernschaft als solche absolut unfähig, die Macht zu
übernehmen.
Gewiß, im alten China brachten die Revolutionen
die Bauernschaft an die Macht, genauer gesagt, die militärischen Führer der
bäuerlichen Aufstände. Das führte jedesmal zu einer Neuverteilung des Bodens
und zur Errichtung einer neuen »bäuerlichen« Dynastie, worauf die Geschichte
von vorn begann: neue Konzentration des Bodens, neues Blühen des Wuchers, neuer
Aufstand. Solange die Revolution ihren rein bäuerlichen Charakter bewahrt,
kommt die Gesellschaft nicht aus diesen ausweglosen Selbstumdrehungen heraus. Solcherart
ist die Grundlage der Geschichte des alten Asiens, mit Einschluß der Geschichte
des alten Rußlands. In Europa brachte vom Ausgang des Mittelalters an jede
siegreiche Bauernerhebung nicht eine Bauernregierung, sondern eine
linksbürgerliche Partei an die Macht. Genauer gesagt: der Bauernaufstand siegte
genau in dem Maße, in dem es ihm gelang, die Stellung des revolutionären Teils
der städtischen Bevölkerung zu befestigen. Im bürgerlichen Rußland des
zwanzigsten Jahrhunderts konnte von einer Machtübernahme durch die
revolutionäre Bauernschaft keine Rede mehr sein.
Die Einstellung gegenüber der liberalen
Bourgeoisie war, wie gesagt, der Prüfstein für die Abgrenzung der Revolutionäre
von den Opportunisten unter den Sozialdemokraten. Wieweit konnte die russische
Revolution gehen, welchen Charakter würde die zukünftige provisorische
Revolutionsregierung haben, welche Aufgaben würden sich stellen und in welcher
Reihenfolge? Diese Fragen konnten in ihrer ganzen Bedeutung nur korrekt
gestellt werden, wenn sie auf die des Grundcharakters der Politik des
Proletariats bezogen wurden, welchen vor allem die Haltung zur liberalen
Bourgeoisie bestimmte. Plechanow schloß entschieden und hartnäckig die Augen
vor der grundlegenden Schlußfolgerung aus der politischen Geschichte des
neunzehnten Jahrhunderts: dort, wo das Proletariat als
selbständige Kraft auftritt, geht die Bourgeoisie ins Lager der
Konterrevolution. Je kühner der Kampf der Massen, um so rapider geht die
reaktionäre Entartung des Liberalismus vor sich. Niemand hat noch die Mittel
erfunden, um die Wirkung des Gesetzes des Klassenkampfes aufzuheben.
»Wir müssen die Unterstützung der
nichtproletarischen Parteien hervorheben«, sagte Plechanow wiederholt in den
Jahren der ersten Revolution, »und sie nicht durch taktlose Ausfälle vor den
Kopf stoßen.« Mit solch monotonen Moralpredigten zeigte der Philosoph des
Marxismus, daß ihm die lebendige Dynamik der Gesellschaft verschlossen
geblieben war. »Mangelnder Takt« kann einen einzelnen hypersensiblen
Intellektuellen zurückstoßen. Klassen und Parteien werden von sozialen
Interessen angezogen oder abgestoßen. »Man kann mit Sicherheit sagen«, wurde
Plechanow von Lenin erwidert, »daß die Grundeigentümer, die Liberale sind,
Ihnen Millionen von Handlungen verzeihen werden, die des Taktes ermangeln, aber
daß sie Ihnen den Aufruf zur Beschlagnahme des Bodens nicht verzeihen werden.«
Und nicht nur die Großgrundbesitzer: die Spitzen der Bourgeoisie, die mit den
Grundbesitzern durch die Interessen verbunden sind, die alle Besitzenden
vereinen, und besonders eng durch das Bankensystem; die Oberschichten des
Kleinbürgertums und der Intelligenz, die materiell und moralisch von den großen
und mittleren Besitzern abhängen – sie alle fürchten die selbständige Bewegung
der Massen. Um aber den Zarismus zu schlagen, mußten Dutzende und aber Dutzende
von Millionen von Unterdrückten zur heroischen revolutionären Offensive geführt
werden, zur kühnen, vor nichts zurückschreckenden Opferbereitschaft. Die Massen
in den Aufstand zu führen, das war nur möglich unter der Fahne ihrer eigenen
Interessen und demzufolge im Geiste unversöhnlicher Feindschaft gegenüber den
ausbeutenden Klassen, vor allem gegenüber den Großgrundbesitzern. Die
oppositionelle Bourgeoisie »vor den Kopf zu stoßen«, sie von den revolutionären
Arbeitern und Bauern wegzustoßen, das also war das immanente Gesetz der Revolution
selbst, und das konnte nicht durch Diplomatie und »Takt« vermieden werden.
Jeder neue Monat bestätigte die leninistische
Einschätzung des Liberalismus. Allen frommen Wünschen der Menschewiki zum Trotz
machten die Kadetten nicht nur keine Anstalten, sich »an die Spitze der
»bürgerlichen« Revolution zu stellen, sondern fanden ihre
geschichtliche Mission mehr und mehr im Kampfe gegen sie. Nach der
Niederschlagung des Dezemberaufstandes versuchten die Liberalen, die dank der
kurzlebigen Duma den Vordergrund der politischen Bühne beherrschten, mit allen
Kräften vor dem Zarismus ihr ungenügend konterrevolutionäres Auftreten im
Herbst 1905 zu rechtfertigen, als die heiligsten Grundlagen der »Kultur« in
Gefahr gewesen waren. Der Führer der Liberalen, Miljukow, der hinter den
Kulissen mit dem Winterpalais verhandelte, wies in der Presse ganz richtig
darauf hin, daß sich die Kadetten Ende 1905 vor den Massen überhaupt nicht
zeigen durften. »Diejenigen«, schrieb er, »die jetzt der (Kadetten-)Partei
vorwerfen, daß sie damals nicht durch Abhaltung von öffentlichen Versammlungen
gegen die revolutionären Illusionen des Trotzkismus protestiert habe...
verstehen den Geisteszustand des demokratischen Publikums nicht, das zu solchen
Versammlungen kam, oder erinnern sich einfach nicht an ihn.« Unter den
»Illusionen des Trotzkismus« verstand der liberale Führer die unabhängige
Politik des Proletariats, die den Sowjets die Sympathie der unteren Klassen der
Stadtbevölkerung einbrachte, der Soldaten, der Bauern, aller Unterdrückten, und
die eben dadurch die »kultivierte« Gesellschaft abstieß. Die Entwicklungslinie
der Menschewiki verlief parallel dazu. Sie mußten sich immer öfter vor den
Liberalen rechtfertigen, daß sie sich nach dem Oktober 1905 in einem Block mit
Trotzky befunden hatten. Die Erklärungen Martows, dieses talentierten
Publizisten der Menschewiki, liefen darauf hinaus, daß es nötig gewesen sei,
den »revolutionären Illusionen« der Massen Konzessionen zu machen.
In Tiflis hatten sich die politischen Gruppen
nach denselben Prinzipien gebildet wie in Petersburg. »Die Reaktion
vernichten«, schrieb der kaukasische Menschewikenführer Jordania, »eine
Verfassung erhalten und sie praktisch wirksam machen, das hängt von der
bewußten Vereinigung der Kräfte von Proletariat und Bourgeoisie ab und von
ihrer Richtung auf ein einziges Ziel... Gewiß wird die Bauernschaft an dieser
Bewegung teilnehmen und wird ihr den Charakter einer elementaren Naturkraft
verleihen, aber es sind trotzdem diese beiden Klassen, die die entscheidende
Rolle spielen werden, und die Bauernbewegung wird Wasser auf ihre Mühlen sein.«
Lenin machte sich über Jordanias Befürchtungen lustig, für den eine
intransigente Politik gegenüber der Bourgeoisie die Arbeiter zur Ohnmacht
verurteilen konnte. Jordania »untersucht die Frage einer
möglichen Isolierung des Proletariats in der demokratischen Revolution und
vergißt ... die Bauernschaft! Unter den möglichen Verbündeten des Proletariats
sieht er nur die Grundeigentümer und findet nur sie nach seinem Geschmack, und
die Bauern sieht er nicht. Und das im Kaukasus!« Der Begründung nach richtig,
vereinfachte Lenins Replik die Frage in einem Punkte. Jordania »vergaß« die
Bauernschaft nicht und, wie es aus Lenins eigener Bemerkung hervorgeht, niemand
im Kaukasus konnte sie vergessen, wo sie sich damals unter dem Banner des
Menschewismus stürmisch emporreckte. Jordania jedoch sah in der Bauernschaft
weniger einen politischen Verbündeten als einen politischen Sturmbock, den die
mit dem Proletariat verbündete Bourgeoisie benützen könnte und müßte. Er
glaubte nicht, daß die Bauernschaft imstande sei, eine führende oder gar
selbständige Kraft in der Revolution zu werden, und darin täuschte er sich
nicht, aber er glaubte ebensowenig, daß das Proletariat als führende Kraft
imstande sei, dem Bauernaufstand den Sieg zu sichern, und das war sein
folgenschwerer Irrtum. Die menschewistische Idee vom Bündnis des Proletariats
mit der Bourgeoisie bedeutete in Wirklichkeit sowohl die Unterordnung der
Arbeiter als auch der Bauern unter die Liberalen. Der utopische und reaktionäre
Charakter dieses Programms rührte daher, daß die schon weit vorgeschrittene
Differenzierung der Klassen die Bourgeoisie von vornherein als revolutionären
Faktor lahmlegte. In dieser grundlegenden Frage war die Wahrheit ganz auf
Seiten des Bolschewismus: die Fortsetzung einer Allianz mit der liberalen
Bourgeoisie mußte unvermeidlicherweise die Sozialdemokratie in Gegensatz zu der
revolutionären Bewegung der Arbeiter und Bauern bringen. 1905 hatten die
Menschewiki noch nicht den Mut, alle unausweichlich aus ihrer Theorie der
»bürgerlichen« Revolution hervorgehenden Schlußfolgerungen zu ziehen; 1917
gingen sie bis ans Ende ihrer Auffassungen und brachen sich den Hals.
In der Frage der Haltung gegenüber den Liberalen
befand sich Stalin in den Jahren der ersten Revolution auf Seiten Lenins.
Freilich standen zu dieser Zeit sogar die meisten der führenden Menschewiki in
der Frage der oppositionellen Bourgeoisie näher bei Lenin als bei Plechanow.
Eine verächtliche Haltung gegenüber den Liberalen gehörte zur literarischen
Tradition des intellektuellen Radikalismus. Es wäre allerdings verlorene Mühe,
bei Koba einen selbständigen Beitrag zu dieser Frage zu suchen, eine Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse im Kaukasus,
neue Argumente oder auch nur neue Ausdrucksformen für die alten Argumente. Der
Führer der Menschewiki des Kaukasus, Jordania, hatte eine unvergleichlich
selbständigere Haltung gegenüber Plechanow als Stalin gegenüber Lenin. »Umsonst
bemühen sich die Herren Liberalen«, schrieb Koba nach dem 9. Januar, »den
stürzenden Zarenthron zu retten. Umsonst strecken sie dem Zaren ihre hilfreiche
Hand hin ... Die Volksmassen sind in Bewegung und bereiten sich auf die Revolution
vor und nicht auf ein Abkommen mit dem Zaren ... Ja, meine Herren, Ihre
Anstrengungen sind umsonst! Die russische Revolution ist unvermeidlich, ebenso
unvermeidlich wie der Sonnenaufgang. Können Sie die Sonne verhindern
aufzugehen? Das ist die Frage!« Und so weiter in diesem Stil. Über so etwas
kommt Koba nicht hinaus. Zweieinhalb Jahre später schrieb er, Lenin fast Wort
für Wort wiederholend: »Die liberale russische Bourgeoisie ist
konterrevolutionär, sie kann nicht der Motor und noch weniger der Führer der
Revolution sein; sie ist die geschworene Feindin der Revolution und muß
unerbittlich bekämpft werden.« Aber gerade in dieser grundlegenden Frage machte
Stalin in den folgenden zehn Jahren eine vollständige Wandlung durch, so daß er
die Februarrevolution von 1917 als Fürsprecher eines Blocks mit der liberalen
Bourgeoisie und infolgedessen als Herold der Vereinigung mit den Menschewiki in
einer und derselben Partei begrüßen konnte. Erst der aus dem Ausland
zurückkommende Lenin war es, der Stalins selbständiger Politik ein brüskes Ende
machte und sie als eine Karikatur auf den Marxismus bezeichnete.
Die »Volkstümler« sahen in den Arbeitern und
Bauern nur gleichermaßen am Sozialismus interessierte »Werktätige« und
»Ausgebeutete«. Die Marxisten hielten den Bauern für einen Kleinbürger, der nur
in dem Maße zum Sozialisten werden konnte, wie er geistig oder materiell
aufhörte, Bauer zu sein. Mit der ihnen eigenen Sentimentalität faßten die
»Volkstümler« diese soziologische Charakterisierung als eine Beleidigung auf.
Auf dieser Linie spielte sich während zweier Generationen der Hauptkampf
zwischen den revolutionären Tendenzen in Rußland ab. Für das Verständnis des
späteren Konfliktes zwischen Stalinismus und Trotzkismus ist es notwendig, noch
einmal hervorzuheben, daß Lenin, der ganzen marxistischen Tradition nach, die
Bauernschaft nicht einen Augenblick lang für einen sozialistischen Verbündeten
des Proletariats hielt; im Gegenteil, er schloß auf die Unmöglichkeit
der sozialistischen Revolution in Rußland gerade wegen der gewaltigen Übermacht
der Bauernschaft. Diese Auffassung kehrt in allen seinen Artikeln wieder, die
sich direkt oder indirekt mit der Agrarfrage befassen.
»Wir unterstützen die Bauernbewegung«, schrieb
Lenin im September 1905, »soweit sie revolutionär-demokratisch ist. Wir
bereiten uns vor (selbst jetzt sofort bereiten wir uns vor), gegen sie zu
kämpfen, insofern sie sich als reaktionär und antiproletarisch herausstellt.
Das ganze Wesen des Marxismus liegt in dieser doppelten Aufgabe ...« Einen
sozialistischen Verbündeten sah Lenin im westlichen Proletariat und zum Teil in
den halbproletarischen Elementen des russischen Dorfes, aber keinesfalls in der
Bauernschaft als solcher. »Im Anfang«, wiederholte er mit der ihn
kennzeichnenden Hartnäckigkeit, »werden wir bis zu Ende mit allen Mitteln, auch
dem der Bodenübernahme, den Bauer im allgemeinen gegen den Grundeigentümer
unterstützen und werden ferner (und keineswegs nur ferner, sondern zu gleicher
Zeit) das Proletariat gegen den Bauer im allgemeinen unterstützen.«
»Die Bauernschaft wird in der
bürgerlich-demokratischen Revolution siegen«, schrieb er im März 1906, »und
damit endgültig ihre revolutionäre Kraft als Bauernschaft aufbrauchen. Das
Proletariat wird in der bürgerlich-demokratischen Revolution siegen und damit
nur beginnen, seine authentische, sozialistische revolutionäre Kraft wirklich
zu entfalten.« – »Die Bauern-bewegung«, wiederholte er im Mai desselben Jahres,
»ist die Bewegung einer anderen Klasse. Ihr Kampf geht nicht darum, die
Grundlagen des Kapitalismus zu beseitigen, sondern darum, aus ihnen alle
Überbleibsel der Leibeigenschaft auszumerzen.« Diese Art, die Dinge zu sehen,
läßt sich bei Lenin von Artikel zu Artikel verfolgen, von Jahr zu Jahr, von
Buch zu Buch. Die Ausdrücke und die Beispiele wechseln, die Grundidee bleibt
dieselbe. Das konnte nicht anders sein. Hätte Lenin in der Bauernschaft einen
sozialistischen Verbündeten gesehen, hätte er nicht den mindesten Grund gehabt,
auf dem bürgerlichen Charakter der Revolution zu bestehen und die
»Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft« auf rein demokratische
Aufgaben zu beschränken. Als Lenin mir vorwarf, ich »unterschätzte« die
Bauernschaft, hatte er durchaus nicht meine Weigerung im Auge, die
sozialistischen Tendenzen der Bauernschaft anzuerkennen, sondern im Gegenteil
die Tatsache, daß ich seiner Meinung nach die
bürgerlich-demokratische Selbständigkeit der Bauernschaft nicht genügend
anerkannte, ihre Fähigkeit, ihre eigene Herrschaft zu errichten und so
der Errichtung der sozialistischen Diktatur des Proletariats Widerstand zu
leisten.
Die Revision in dieser Frage begann erst in den
Jahren der thermidorianischen Reaktion, deren Beginn ungefähr mit der Krankheit
und dem Tode Lenins zusammenfiel. Von da an wurde das Bündnis der russischen
Arbeiter und Bauern an sich zur genügenden Garantie gegen die Gefahr einer
Restauration erklärt und als sicheres Unterpfand der Verwirklichung des
Sozialismus innerhalb der Grenzen der Sowjetunion. Nachdem er die Theorie von
der internationalen Revolution durch die Theorie des Sozialismus in einem Lande
ersetzt hatte, ging Stalin dazu über, die marxistische Einschätzung der
Bauernschaft als »Trotzkismus« zu bezeichnen, und das nicht nur für die
Gegenwart, sondern auch für die ganze Vergangenheit.
Natürlich kann man fragen, ob sich die klassische
marxistische Auffassung von der Bauernschaft nicht als irrtümlich
herausgestellt hat. Dieses Thema würde weit über die Grenzen der vorliegenden
Studie hinausführen. Hierzu möchte ich nur sagen, daß der Marxismus seiner
Einschätzung der Bauernschaft als einer nichtsozialistischen Klasse niemals
einen absoluten und unabänderlichen Charakter beigelegt hat. Marx selbst sagt,
daß der Bauer nicht nur Vorurteile, sondern auch Urteilsfähigkeit hat. Bei
wechselnden Umständen verändert sich auch die Natur der Bauernschaft selbst.
Das Regime der proletarischen Diktatur eröffnete weite Möglichkeiten, auf die
Bauernschaft einzuwirken und sie umzuerziehen. Die Geschichte hat noch nicht
alle Grenzen dieser Möglichkeiten vollständig durchmessen. Nichtsdestoweniger
ist es jetzt schon klar, daß die steigende Bedeutung des staatlichen Zwangs in
der UdSSR die Konzeption von der Bauernschaft, die die russischen Marxisten von
den »Volkstümlern« unterschied, nicht nur nicht eingeschränkt, sondern im
Grunde bestätigt hat. In welcher Weise immer sich heute, nach zwanzig Jahren
des neuen Regimes, die Frage stellen möge, so bleibt es doch unbezweifelbar,
daß bis zur Oktoberrevolution, genauer gesagt bis 1924, niemand im
marxistischen Lager, und Lenin weniger als irgendwer sonst, in der Bauernschaft
einen Faktor des sozialistischen Fortschritts sah. Ohne Unterstützung durch die
proletarische Revolution im Westen, betonte Lenin, ist die Restauration in
Rußland unvermeidlich. Er täuschte sich nicht: die
stalinistische Bürokratie stellt nichts anderes dar als die erste Etappe der
bourgeoisen Restauration.
Der theoretische Ausgangspunkt der beiden
Hauptfraktionen der russischen Sozialdemokratie ist oben dargestellt worden.
Ihnen stellte sich ein dritter Standpunkt zur Seite, noch in der
Morgendämmerung der ersten Revolution formuliert und in jenen Tagen kaum
anerkannt, von dem wir aber hier ausführlicher sprechen müssen, nicht nur, weil
er 1917 von den Ereignissen bestätigt worden ist, sondern hauptsächlich
deshalb, weil er sieben Jahre nach der Revolution – und nachdem man sie auf den
Kopf gestellt hat – eine ganz unvorhergesehene Rolle in der politischen
Entwicklung Stalins und der gesamten Sowjetbürokratie spielen sollte.
Anfang 1905 veröffentlichte ich in Genf eine
Broschüre, die die politische Situation analysierte, wie sie sich im Winter
1904 darstellte. Ich kam zu dem Schluß, daß die unabhängige Kampagne der
liberalen Bittschriften und Bankette ihre Möglichkeiten erschöpft hatte; daß
die fortschrittliche Intelligenz, die ihre Hoffnung auf die Liberalen gesetzt
hatte, mit diesen zusammen in eine Sackgasse geraten war; daß die
Bauernbewegung günstige Voraussetzungen für den Sieg schaffen, aber nicht
imstande sein würde, ihn zu erringen; daß nur der bewaffnete Aufstand des
Proletariats die Entscheidung herbeiführen könne; daß der nächste Schritt auf
diesem Wege der Generalstreik sein müsse. Diese Broschüre hieß » Vor dem
Neunten Januar«; sie war vor dem Blutigen Sonntag von Petersburg
geschrieben worden. Die mächtige Streikwelle, die zu jener Zeit einsetzte, und
die ersten bewaffneten Zusammenstöße, von denen sie begleitet war, lieferten
eine unzweideutige Bestätigung der strategischen Voraussagen der Broschüre.
Das Vorwort zu meiner Schrift war von Parvus
verfaßt worden, einem russischen Emigranten, der zu jener Zeit schon ein
prominenter deutscher Schriftsteller geworden war. Parvus war eine
schöpferische Persönlichkeit, gleicherweise imstande, die Ideen anderer
aufzunehmen, wie andere durch eigene Ideen zu bereichern. Ihm fehlten aber das
innere Gleichgewicht und der nötige Fleiß, um sein Talent als Denker und
Schriftsteller für die Arbeiterbewegung fruchtbar zu machen. Er hat zweifellos
einen bedeutenden Einfluß auf meine persönliche Entwicklung ausgeübt, besonders
im Hinblick auf das sozialrevolutionäre Verständnis unserer Epoche. Einige
Jahre vor unserer ersten Begegnung hatte Parvus
leidenschaftlich die Idee eines Generalstreiks in Deutschland vertreten, aber
Deutschland befand sich in einer längeren Periode industriellen Aufschwungs,
die Sozialdemokratie paßte sich dem Hohenzollernregime an, und die
revolutionäre Propaganda des Ausländers war nur ironischer Gleichgültigkeit
begegnet. Als Parvus am Tage nach den blutigen Ereignissen von Petersburg das
Manuskript meiner Broschüre las, war er begeistert von dem Gedanken, daß das
Proletariat des rückständigen Rußland eine außergewöhnliche Rolle zu spielen
bestimmt war. Die wenigen Tage, die wir in München zusammen verlebten, waren
angefüllt mit Gesprächen, die viel zu unserer gegenseitigen Klärung beitrugen
und uns persönlich einander näher brachten. Das Vorwort, das Parvus daraufhin
zu meiner Broschüre schrieb, ist für immer in die Geschichte der russischen Revolution
eingegangen. Einige Seiten genügten ihm, um die sozialen Eigentümlichkeiten des
rückständigen Rußland, die gewiß schon vorher bekannt gewesen waren, aus denen
aber vor ihm niemand alle notwendigen Schlußfolgerungen gezogen hatte, in neuem
Lichte erscheinen zu lassen.
»Der politische Radikalismus in Westeuropa«,
schrieb Parvus, »stützte sich, wie jedermann weiß, hauptsächlich auf das
Kleinbürgertum. Es waren die Handwerker und im allgemeinen alle diejenigen
Teile der Bourgeoisie, die von der industriellen Entwicklung aufgesogen, aber
gleichzeitig von der Kapitalistenklasse zurückgedrängt wurden ... Im Rußland
der vorkapitalistischen Periode entwickelten sich die Städte eher nach
chinesischem als nach europäischem Muster. Sie waren Verwaltungszentren rein
amtlich-bürokratischen Charakters, ohne die mindeste politische Bedeutung;
wirtschaftlich spielten sie die Rolle von Basaren für die Gutsbesitzer und
Bauern der Umgebung. Ihre Entwicklung war noch höchst bescheiden, als sie vom
kapitalistischen Prozeß aufgehalten wurde, der die für ihn typischen Großstädte
schuf, das heißt Fabrik- und Welthandelsstädte ... Eben das, was die
Herausbildung der kleinbürgerlichen Demokratie verhindert hatte – die schwache
Entwicklung der handwerklichen Produktionsform –, kam in Rußland dem Klassenbewußtsein
des Proletariats zugute. Das Proletariat sammelte sich unmittelbar in den
Fabriken ...«
»Immer größere Massen von Bauern werden in diese
Bewegung hineingezogen. Alles, was sie tun können, ist jedoch nur, die im Lande
überhandnehmende politische Anarchie noch zu verschlimmern und
die Regierung zu schwächen; eine geschlossene revolutionäre Armee können sie
nicht formieren. Aus diesem Grunde wird mit dem Fortschreiten der Revolution
dem Proletariat ein immer größerer Anteil an der politischen Arbeit zufallen;
im gleichen Maße wird sich der politische Horizont des Proletariats erweitern
und seine politische Energie wird zusehends wachsen ...«
»Die Sozialdemokratie wird sich einem Dilemma
gegenüber sehen: die Verantwortung für die provisorische Regierung zu
übernehmen oder abseits der Arbeiterbewegung zu stehen. Welche Haltung die
Sozialdemokratie auch immer einnehmen wird, die Arbeiter werden diese Regierung
als die ihre betrachten ... In Rußland können nur die Arbeiter einen
revolutionären Aufstand durchführen. In Rußland wird die revolutionäre
provisorische Regierung eine Regierung der Arbeiterdemokratie sein.
Diese Regierung wird sozialdemokratisch sein, wenn die Sozialdemokratie die
Führung der revolutionären Bewegung des russischen Proletariats übernimmt ...«
»Die sozialdemokratische provisorische Regierung kann in Rußland keine
sozialistische Revolution durchführen, aber die Beseitigung der Autokratie und
die Errichtung der demokratischen Republik werden ganz von selbst einen
fruchtbaren Boden für ihre politische Aktivität abgeben.«
Im Herbst 1905, in den Sturmtagen der
revolutionären Ereignisse, begegnete ich Parvus von neuem, diesmal in
Petersburg. Organisatorisch von beiden Fraktionen unabhängig, gaben wir
gemeinsam eine Zeitung für die arbeitenden Massen heraus: »Russkoje Slowo«
(»Das Russische Wort«), und, zusammen mit den Menschewiki, die bedeutende
politische Zeitung »Natschalo« (»Der Beginn«). Die Theorie der permanenten
Revolution wurde gewöhnlich mit den Namen »Parvus und Trotzky« verbunden. Das
war nur zum Teil berechtigt. Parvus' revolutionäre Reifezeit lag zu Ende des
vorigen Jahrhunderts, als er an der Spitze des Kampfes gegen den sogenannten
»Revisionismus« gestanden hatte, der opportunistischen Entstellung der
Marxschen Theorien. Doch die Erfolglosigkeit des Bemühens, die deutsche
Sozialdemokratie in die Richtung einer kühneren Politik zu lenken, untergrub
seinen Optimismus. Parvus machte mehr und mehr Reserven in bezug auf die
Perspektive einer sozialistischen Revolution im Westen. Gleichzeitig glaubte
er, daß »die sozialdemokratische provisorische Regierung in Rußland nicht die sozialistische Revolution durchführen« könne. Seine
Prognose ging also nicht auf den Übergang der demokratischen in die
sozialistische Revolution aus, sondern auf die Errichtung einer
Arbeiterdemokratie in Rußland, ungefähr wie in Australien, wo sich die von den
Kleinbauern gestützte erste Arbeiterregierung nicht über die Grenzen des
bürgerlichen Regimes hinauswagte.
Ich teilte diese Auffassung nicht. Die
australische Demokratie, die auf dem jungfräulichen Boden eines neuen Erdteils
organisch heranreifte, erhielt unmittelbar konservativen Charakter und
unterwarf sich ein junges, aber ziemlich privilegiertes Proletariat. Im
Gegensatz dazu konnte die russische Demokratie nur im Anschluß an einen
großangelegten revolutionären Aufstand entstehen, dessen Dynamik einer
Arbeiterregierung niemals gestatten würde, im Rahmen der bürgerlichen
Demokratie zu bleiben. Unsere Meinungsverschiedenheiten, die gleich nach der
Revolution von 1905 begonnen hatten, führten bei Ausbruch des Krieges zum
vollständigen Bruch, als sich Parvus, in dem der Skeptiker endgültig den
Revolutionär niedergerungen hatte, an der Seite des deutschen Imperialismus
wiederfand und später Ratgeber und Einflüsterer Eberts, des ersten Präsidenten
der deutschen Republik, wurde.
Nachdem ich meine Broschüre » Vor dem Neunten
Januar« geschrieben hatte, habe ich mich öfter als einmal darangemacht, die
Theorie von der permanenten Revolution zu entwickeln und ihre Grundlagen zu
festigen. Die Bedeutung, die sie später in der ideologischen Entwicklung des
Helden dieser Biographie erlangen sollte, macht es notwendig, sie hier in Form
von präzisen Zitaten aus meinen Schriften der Jahre 1905 und 1906 darzulegen.
»Der Kern der Bevölkerung einer Stadt der
heutigen Zeit, zumindest einer Stadt von ökonomisch-politischer Bedeutung, ist
eine sich von den übrigen klar unterscheidende Klasse, im Grunde noch unbekannt
während der französischen Revolution, die in unserer Revolution eine
entscheidende Rolle zu spielen bestimmt ist ... In einem ökonomisch
zurückgebliebenen Lande kann das Proletariat eher an die Macht kommen als in
den kapitalistisch fortgeschritteneren Ländern. Die Vorstellung von irgendeiner
automatischen Abhängigkeit der proletarischen Diktatur von den technischen
Kräften und Mitteln des Landes bildet ein Vorurteil des bis zum äußersten
versimpelten ›ökonomischen‹ Materialismus. Mit Marxismus
hat diese Ansicht nichts gemein ... Obwohl die Produktivkraft der Industrie in
den Vereinigten Staaten zehnmal so groß ist wie bei uns, ist die politische
Rolle des russischen Proletariats, seine Einwirkung auf die Politik des eigenen
Landes und die Möglichkeit, daß es bald auch die Weltpolitik beeinflußt,
unvergleichlich höher als die Rolle und die Bedeutung des amerikanischen
Proletariats ...«
»Die russische Revolution schafft unserer Ansicht
nach solche Bedingungen, unter denen die Macht an das Proletariat übergehen
kann (und bei einer siegreichen Revolution übergehen muß), bevor
noch die Politik des bürgerlichen Liberalismus die Möglichkeit erhalten wird,
dessen Staatsgenie zur vollen Entfaltung zu bringen ... Die russische
Bourgeoisie tritt dem Proletariat alle revolutionären Positionen ab. Sie wird
ihm auch die revolutionäre Hegemonie über die Bauernschaft überlassen müssen.
Das Proletariat an der Macht wird der Bauernschaft gegenüber als befreiende
Klasse auftreten ... Das Proletariat, auf die Bauernschaft gestützt, wird alle
Kräfte in Bewegung setzen, um das kulturelle Niveau des Dorfes zu heben und das
politische Bewußtsein der Bauernschaft zu entwickeln ...«
»Vielleicht aber wird die Bauernschaft das
Proletariat verdrängen und dessen Platz selbst einnehmen? Das ist unmöglich.
Die gesamte historische Erfahrung protestiert gegen eine solche Annahme. Diese
Erfahrung beweist, daß die Bauernschaft zu einer selbständigen
politischen Rolle völlig unfähig ist ...«
»Das Voraufgegangene zeigt klar, wie ich die Idee
von der ›Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft‹ auffasse.
Ausschlaggebend ist nicht, ob ich eine solche Form der politischen
Zusammenarbeit für grundsätzlich zulässig halte, noch ob ich sie ›will‹ oder
›nicht will‹. Sondern ich halte sie für undurchführbar, wenigstens nicht für im
direkten und unmittelbaren Sinne durchführbar.«
Obige Zitate zeigen, wie unrichtig es ist, von
der hier dargelegten Konzeption zu behaupten, sie wolle »die bürgerliche
Revolution überspringen«, wie man später immer wiederholt hat. »Der Kampf für
die demokratische Erneuerung Rußlands ...«, schrieb ich damals, »ist ganz und
gar aus dem Kapitalismus hervorgegangen; er wird von Kräften geleitet, die sich
auf der Basis des Kapitalismus gebildet haben und ist unmittelbar, an erster
Stelle gegen die vom Feudalismus und der Leibeigenschaft überkommenen
Hindernisse gerichtet, die sich auf dem Wege zur Herausbildung der
kapitalistischen Gesellschaft vorfinden.« Die Hauptfrage war aber, welche
Kräfte und Methoden diese Hindernisse beseitigen könnten. »Man kann den Rahmen
aller Probleme der Revolution mit der Behauptung verengern, daß unsere
Revolution ihren objektiven Zielen und infolgedessen ihren unvermeidlichen
Resultaten nach bürgerlich ist, und man kann dann auch vor der Tatsache
die Augen verschließen, daß die aktive Hauptkraft dieser Revolution das
Proletariat ist, das vom ganzen Verlauf der Revolution dazu gestoßen werden
wird, selbst die Macht zu übernehmen ... – Man kann sich bei der Idee
beruhigen, daß die sozialen Bedingungen in Rußland noch nicht für die
sozialistische Wirtschaft reif sind und kann dann auch ganz übersehen, daß das
Proletariat, einmal an der Macht, einfach durch die Logik der Situation
unvermeidlich dazu wird übergehen müssen, die Wirtschaft für Rechnung des
Staates zu betreiben ... In die Regierung nicht als ohnmächtige Geiseln,
sondern als führende Kraft eingetreten, löschen die Vertreter des Proletariats
eben dadurch die Grenze aus zwischen Minimal- und Maximalprogramm, das heißt,
sie setzen den Kollektivismus auf die Tagesordnung. An welchem Punkte
wird das Proletariat in dieser Richtung aufgehalten werden? Das hängt vom
Kräfteverhältnis ab, aber keineswegs von den ursprünglichen Absichten der
Partei des Proletariats ...«
»Man kann sich aber jetzt schon die Frage
stellen: muß die Diktatur des Proletariats unvermeidlicherweise am Rahmen der
bürgerlichen Revolution zerschellen, oder kann sie sich, nachdem sie diesen
Rahmen durchbrochen hat, auf der Basis der aktuellen historischen Weltsituation
eine Perspektive des Sieges eröffnen? ... Eins kann man mit Sicherheit sagen:
ohne die direkte staatliche Unterstützung des europäischen Proletariats kann
sich die russische Arbeiterklasse nicht an der Macht halten und nicht aus ihrer
zeitweisen Vorherrschaft eine dauerhafte sozialistische Diktatur machen ...«
Das führte keineswegs zu einer pessimistischen Voraussage: »Die von der
Arbeiterklasse Rußlands geführte politische Befreiung wird ihren Lenker auf
eine Höhe heben, die in der Geschichte nicht ihresgleichen hat; sie wird ihm
kolossale Mittel und Kräfte in die Hand geben und ihn zum Initiator der
Beseitigung des Kapitalismus auf der ganzen Welt machen, für die die Geschichte
alle objektiven Voraussetzungen geschaffen hat ...«
Zu der Frage,
in welchem Maße die internationale Sozialdemokratie imstande sein würde, ihre
revolutionäre Aufgabe zu erfüllen, schrieb ich im Jahre 1906: »Die europäischen
sozialistischen Parteien, und in erster Linie die mächtigste unter ihnen, die
deutsche Partei, haben ihre konservative Seite entwickelt, die um so stärker
ausgebildet ist, je größer die Massen sind, die der Sozialismus umfaßt und je
stärker der Sinn dieser Massen für Organisation und Disziplin. Aus diesem
Grunde kann die Sozialdemokratie, als diejenige Organisation, die die
politischen Erfahrungen des Proletariats verkörpert, während eines offenen
Konfliktes zwischen den Arbeitern und der bürgerlichen Reaktion an einem
bestimmten Zeitpunkt zum unmittelbaren Hindernis werden ...« Ich beschloß
jedoch meine Analyse, indem ich die Überzeugung ausdrückte, daß »die Revolution
im Osten auf das westliche Proletariat den revolutionären Idealismus übertragen
und in ihm den Wunsch erwecken wird, mit dem Feinde ›russisch‹ zu reden ...«
Fassen wir zusammen. Die »Volkstümler« wie die
Slawophilen gingen von ihren Illusionen über die völlig originalen Wege aus,
die die Entwicklung in Rußland einschlagen würde, wo sie den Kapitalismus und
die bürgerliche Republik vermeiden würde. Der Marxismus Plechanows richtete
seine Bemühungen auf den Nachweis, daß die geschichtlichen Wege Rußlands und
des Westens im Prinzip identisch seien. Das daraus entstandene Programm
berücksichtigte nicht die tatsächlichen und keineswegs mystischen
Besonderheiten der gesellschaftlichen Struktur und der revolutionären
Entwicklung Rußlands. Die menschewistische Konzeption von der Revolution, wenn
von gelegentlichen Hinzufügungen und individuellen Abweichungen gereinigt,
reduzierte sich hierauf: der Sieg der bürgerlichen russischen Revolution ist
nur vorstellbar unter der Führung der liberalen Bourgeoisie und muß dieser die
Macht übermitteln. Das demokratische Regime wird dann dem russischen
Proletariat ermöglichen, mit unvergleichlich größerem Erfolge als vorher seine
älteren Brüder im Westen auf dem Wege des Kampfes für den Sozialismus
einzuholen.
Lenins Perspektive kann kurz in folgenden Worten
ausgedrückt werden: die rückständige russische Bourgeoisie ist unfähig, ihre
eigene Revolution bis zu Ende durchzuführen! Der vollständige Sieg der
Revolution mittels der »demokratischen Diktatur des
Proletariats und der Bauernschaft« wird alles Mittelalterliche hinwegfegen, der
Entwicklung des russischen Kapitalismus einen amerikanischen Rhythmus
verleihen, das Proletariat in der Stadt und auf dem Dorf festigen und dem Kampf
für den Sozialismus weite Möglichkeiten eröffnen. Andererseits wird der Sieg
der russischen Revolution der sozialistischen Revolution im Westen einen
starken Impuls verleihen, und letztere wird Rußland nicht nur vor der Gefahr
einer Restauration bewahren, sondern darüber hinaus dem russischen Proletariat
erlauben, die Machteroberung in einer verhältnismäßig kurzen geschichtlichen
Zeitspanne ins Auge zu fassen.
Die Perspektive der permanenten Revolution kann
folgendermaßen wiedergegeben werden: der vollständige Sieg der demokratischen
Revolution in Rußland ist vorstellbar nur unter der Form der Diktatur des
Proletariats, das sich auf die Bauernschaft stützt. Die Diktatur des
Proletariats, die unvermeidlich nicht nur demokratische, sondern auch
sozialistische Aufgaben auf die Tagesordnung setzt, wird gleichzeitig der
internationalen sozialistischen Revolution einen starken Impuls verleihen. Nur
der Sieg des Proletariats im Westen wird Rußland vor der bürgerlichen
Restauration schützen und ihm die Möglichkeit geben, den sozialistischen Aufbau
bis zu Ende durchzuführen.
Diese konzentrierte Sprache läßt mit gleicher
Genauigkeit die Ähnlichkeit der beiden letzten Konzeptionen in ihrer
unversöhnlichen Opposition gegen die liberale und menschewistische Perspektive,
wie ihren grundlegenden Unterschied in der Frage des sozialen Charakters und
der Aufgaben der »Diktatur«, die aus der Revolution hervorgehen sollte,
hervortreten. Der Einwand, der in den Schriften der gegenwärtigen Theoretiker
von Moskau nicht selten auftaucht, das Programm einer Diktatur des Proletariats
wäre 1905 »verfrüht« gewesen, entbehrt jeder Grundlage. Das ungünstige
Kräfteverhältnis zur Zeit der ersten Revolution machte nicht die Diktatur des
Proletariats als solche unmöglich, sondern die Revolution im allgemeinen. Alle
revolutionären Tendenzen jedoch gingen von der Hoffnung auf einen vollständigen
Sieg aus: ohne eine solche Hoffnung war ein rückhaltloser revolutionärer Kampf
unmöglich. Die Meinungsverschiedenheiten drehten sich um die allgemeine
Perspektive der Revolution und die daraus sich ergebende Strategie. Die
Perspektive des Menschewismus war entschieden falsch: sie zeigte dem
Proletariat in keiner Weise den richtigen Weg. Die Perspektive des
Bolschewismus war unvollständig: sie zeigte richtig den allgemeinen Gang des
Kampfes an, aber sie kennzeichnete dessen Etappen in unrichtiger Weise. Wenn
sich der Fehler der bolschewistischen Perspektive 1905 nicht zeigte, so nur,
weil sich die Revolution selbst nicht weiterentwickelte. Im Gegensatz dazu
mußte Lenin Anfang 1917 in direktem Konflikt mit den alten Kadern der Partei
seine Perspektive ändern.
Eine politische Voraussage kann nicht auf
astronomische Präzision Anspruch erheben. Es genügt, wenn sie in korrekter
Weise die allgemeine Entwicklungslinie aufzeigt und erlaubt, sich im wirklichen
Fortgang der Ereignisse zu orientieren, der unvermeidlich von der Grundlinie
nach links und nach rechts abweicht. In diesem Sinne ist es unmöglich, nicht zu
sehen, daß die Konzeption der permanenten Revolution die Prüfung durch die
Geschichte mit vollständigem Erfolg bestanden hat. In den ersten Jahren des Sowjetregimes
hat das niemand geleugnet; im Gegenteil, diese Tatsache wurde in einer gewissen
Anzahl offizieller Veröffentlichungen festgestellt. Als aber auf den
ruhiggewordenen und erkalteten Gipfeln der sowjetischen Gesellschaft die
bürokratische Revolution gegen den Oktober begann, wendete sie sich von ihrem
Anbeginn an gegen die Theorie, die am vollständigsten die erste proletarische
Revolution widerspiegelte und zugleich offen deren unvollendeten, begrenzten,
teilstückhaften Charakter bloßlegte. So entstand durch Rückstoß die Theorie vom
Sozialismus in einem Lande, die das grundlegende Dogma des Stalinismus ist.
Verzeichnis
der Schriften Leo Trotzkys laut New York Public Library
(Die kleineren Artikel, die in Zeitschriften
erschienen, sind zum größten Teil verlorengegangen. Für die trotzkistische
Presse geschriebene Artikel wurden nicht aufgenommen. Einige Schriften
erschienen in verschiedenen Sprachen, was jeweils vermerkt wurde.)
In deutscher Sprache
Fragen des Alltagslebens. Die Epoche der
»Kulturarbeit« und ihre Aufgaben.
Grundfragen der Revolution.
Die Internationale Revolution und die
Kommunistische Internationale.
Der Krieg und die Internationale.
Literatur und Revolution (auch in englischer
Sprache).
Mein Leben, Versuch einer Autobiographie.
Was nun? Schicksalsfragen des deutschen
Proletariats.
Die permanente Revolution.
Die wirkliche Lage in Rußland.
Verratene Revolution. (Was ist die UdSSR und
wohin treibt sie?)
Zwischen Imperialismus und Revolution.
Wer leitet heute die Kommunistische
Internationale?
Geschichte der russischen Revolution.
In russischer Sprache
Sotschinenija. Nascha
perwaja rewoluzija. Polititscheskaja chronika. Kommunistitscheski
International. Sowjetskaja respublika i kapitalistitscheski mir. ( Sammelband.
Unsere erste Revolution. Politische Chronik. Die Kommunistische Internationale.
Die Sowjetrepublik und die kapitalistische Welt.)
N. Trotzky, Do 9go janwarija, s predislowijem
Parwusa. (Vor dem 9. Januar. Mit einem Vorwort von Parvus. 1905 verwandte
Trotzky das Pseudonym N. Trotzky.)
Woprosy byta. Epocha »kulturnitschestwa« i jego
sadatschi. (Fragen des Alltagslebens.)
K sozialismu ili k kapitalismu (analis
sowjetskogo chosjaistwa i tendenzii jego raswitija.) (Zum Sozialismus oder zum
Kapitalismus? [Eine Analyse der Sowjetwirtschaft und ihrer
Entwicklungstendenzen.]) Kak wooruschalas rewoluzija (na wojennoi rabotje). Materiali i dokumenti po istorii krasnoi armii. T. I
– 1918g, T. II – 1919-1922.
(Wie die Revolution bewaffnet wurde [Über die
Militärarbeit]. Materialien und Dokumente zur Geschichte der Roten Armee. Band
I – 1918, Band II – 1919-1922.)
Kommunistitscheskoje dwischenije wo Franzii. (Die
kommunistische Bewegung in Frankreich.)
Permanentnaja rewoluzija. »Granit«.
Woina i rewoluzija. Kruschenije wtorogo
internazionale i podgatowka tretjiego. (Krieg und Revolution. Der Niedergang
der II. und die Vorbereitung der III. Internationale.)
Istorija Sowjeta rabotschich deputatow g. S.
Peterburga. Statii: N. Trotzkogo, Kosowlewa, Chrustalewa-Nosarija i dr.
(Geschichte des Sowjets der Arbeiterabgeordneten der Stadt Petersburg. Artikel
von Trotzky, Kosowlew, Chrustalew-Nosari u. a.)
Kuda idjot Anglija? (Wohin treibt England? Auch
in englischer Sprache.)
Tuda i obratno. (Hin und zurück.)
Njemjezkaja rewoluzija i Stalinskaja
bjurokratija. (Die deutsche Revolution und die Stalinische Bürokratie.)
Nowy kurs. (Der neue Kurs.)
Osnownije woprosy rewoluzii (enthält: Terrorism i
kommunism, Meschdu imperialismom i rewoluzii. Nowaja ekonom. politika
sowjetskoi Rossei, Mirowaja rewoluzija). (Grundfragen der Revolution [enthält:
Terrorismus und Kommunismus, zwischen Imperialismus und Revolution, Die neue
ökonomische Politik Sowjetrußlands, Die Weltrevolution]).
In englischer Sprache
Between Red and White (A study of some
fundamental questions of revolution with particular reference to Georgia).
The Bolsheviki and World Peace (auch in
ukrainischer Sprache: »Bolschevikite i swetskia mir«).
The case of Leon Trotsky (Transcript of
proceedings in the hearings of the preliminary commission of inquiry into the
charges made against Leon Trotsky in the Moscow trials).
Communism and syndicalism; on the trade-union
question.
Dictatorship versus democracy (a reply to Karl
Kautsky).
The Draft Program of the Communist International.
The first five years of the Communist
International (auch in russischer Sprache – Pjat Let Kominterna).
The German
Catastrophe.
History of the Russian Revolution.
I Stake my Life. Trotsky's address in the N. Y.
Hyppodrome meeting.
Diese Ansprache sollte von Mexiko City aus über
eine spezielle Radiosendung zu einem Meeting in New York gesprochen werden.
Infolge der stalinistischen Sabotage in Mexiko City konnte die Sendung nicht
durchgeführt werden, und die Ansprache wurde der Versammlung vorgelesen. Sie
war Leo Trotzkys Antwort auf die Anklagen des Moskauer Prozesses: in ihr bot er
sich an, nach Rußland zu kommen, um auszusagen.
In defense of Marxism.
The Third International after Lenin.
Whither England?
Lenin.
Leon Sedoff, Son – Friend – Fighter. Dedicated to
the proletarian youth by Leon Trotsky.
Lessons of October.
My flight from Siberia.
The new course.
The only road.
Whither France?
Our revolution; essays on working-class intern.
revolution 1904-1917.
The permanent revolution.
Problems of Chinese revolution.
The real situation in Russia.
The Revolution Betrayed. What is the Soviet Union
and where is it going?
The revolution in Spain.
Shall fascism really be victorious.
Germany the key to the international situation.
The Soviet Union and the Fourth International;
the class nature of the soviet state.
Stalin. An apprizal of the man and his influence.
The Stalin school of falsification.
The strategy of the world revolution.
Our morals and Theirs.
What Hitler wants.
The suppressed
testament of Lenin. Im Anhang: On Lenin's Testament by Leon Trotsky.
The Spanish revolution in danger.
In französischer Sprache
L'avènement du bolshevisme. Paris
La bureaucratie Stalinienne et l'assassinat de
Kirov (pamphlet)
De la révolution d'octobre à la paix de
Brest-Litovsk (auch in englischer Sprache)
Défense du terrorisme. Paris
Europe et Amérique. Paris
L'Internationale Communiste après Lenine.
Editions Rieder
Ou va la France?