Konrad Paul Liessmann: Alle Lust will Ewigkeit
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Bernd Lüttgerding
Konrad Paul Liessmann: Alle Lust
will Ewigkeit. Mitternächtliche Versuchungen. Wien (Paul Zsolnay Verlag) 2021.
320 Seiten. 26,00 Euro.
Ewige Lust
Allein, dass Konrad Paul Liessmann
hier auf rund 300 Seiten ein elfzeiliges Gedicht interpretiert, nämlich
Nietzsches titelloses Oh-Mensch!-Gieb-acht!-Gedicht aus dem Zarathustra,
hat mir Lust auf das Buch gemacht.
Weit entfernt von den Formalien
eines Forschungsbeitrags ist seine Interpretation vielmehr ein forsches Experiment,
eine flânerie, assoziativ, die sich auf ihren Wegen mitunter selbst zu
überraschen scheint.
Zu jedem Wort von Nietzsches
Gedicht, selbst zum Oh hat Liessmann etwas zu sagen. Jedes der zwölf
Kapitel ist einem Vers (bzw. dem letzten der dazugehörigen Glockenschläge)
gewidmet. - Und dann lotet er aus: den Menschen, das Achtgeben (und was es mit
Achtsamkeit und woke sein zu tun hat), die verschiedenen Tiefen im
Antlitz der Welt (um hier mal eben der Versuchung zu erliegen, Weischedels
Metaphysik der Kunst ein bisschen anklingen zu lassen...). Mitternacht, Schlaf,
Traum und das Erwachen daraus werden vielfältig erkundet. Daneben ventiliert
er, gewissermaßen im Vorbeigehen Freiheit, den Tod und wendet auch Tag und
Nacht hin und her und betrachtet sie von allen Seiten. Wo es um Kunst geht und
um das Böse, ist der Essay übrigens ein schönes Seitenstück zu Liessmanns, vor
20 Jahren erschienenen Philosophie des verbotenen Wissens: Friedrich
Nietzsche und die schwarzen Seiten des Denkens. Er scheut sich nicht, kühn
von Gott auf die Digitalisierung zu kommen, auf Identität und Überwachung und
schließt weitere Gegenwartsphänomene, die grade erst über unseren Köpfen
zusammengeschlagen sind oder als noch kaum abschätzbare Wellen auf uns zu
rollen, mit Analysen Nietzsches kurz, KI etwa und das (im Moment noch
chinaspezifische) SCS, die Pandemie und die Klimakatastrophe.
Manchmal wird der Bogen in unsere
akuteste Gegenwart etwas hart geschlagen, aber wenn so ein Brückenbogen
krachend auf ein gegenüberliegendes Ufer fällt, womöglich gar ein Stück der
Betonbrüstung absplittert und Wasser aufspritzen lässt, das erhebt und amüsiert
einen ja auch.
Besonders freue ich mich an dem
Gedanken, das berühmte Auge umb auge / Zan umb zan aus dem 2. Buch Mose
fordere nicht unbedingt zur Rache auf, sondern rege an zur Nachhilfe in
Vorstellungskraft, denn wer ein Auge auswischt, einen Zahn ausschlägt, scheint
sich ja nicht richtig vorstellen zu können, wie unangenehm so etwas ist, soll
es also aus eigener Erfahrung lernen, damit er künftig solche Sachen nicht mehr
tut und versteht, warum. Auch die Überlegungen zur Ewigen Wiederkehr als Ethik
finde ich sehr erhellend.
Meistens führt Liessmann uns dicht
an Nietzsches Werk heran, besonders an den Zarathustra, der jedem, dem er nicht
ohnehin nah ist, hier nähergebracht wird. Er nimmt sich dieses Gedichtes an und
folgt ihm; und indem er sich gehen lässt, reißt er mich mit. Er mutet mir
wohltuende Ambiguitäten zu, und ihm ist nicht bange - besonders dies ist leider
selten bei einem derart zeitgenössischen Text - irgendwo anzuecken.
Das alles ist nicht nur
interessant, sondern wirkt obendrein sympathisch.
Und zu allem Überfluss bekommen wir
auch noch Lust, mehr Günther Anders zu lesen.
Und apropos Lust... !
-
Aber ich breche hier ab mit der Empfehlung, diesen Mitternächtlichen
Versuchungen unbedingt mal zu erliegen.*
__________
*
Eins!
Oh Mensch! Gib Acht!
Zwei!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
Drei!
„Ich schlief, ich schlief-,
Vier!
„Aus tiefem Traum bin ich erwacht: -
Fünf!
„Die Welt ist tief,
Sechs!
„Und tiefer als der Tag gedacht.
Sieben!
„Tief ist ihr Weh -,
Acht!
„Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Neun!
„Weh spricht: Vergeh!
Zehn!
„Doch alle Lust will Ewigkeit -,
Elf!
‘– will tiefe, tiefe Ewigkeit“
Zwölf!
Oh Mensch! Gib Acht!
Zwei!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
Drei!
„Ich schlief, ich schlief-,
Vier!
„Aus tiefem Traum bin ich erwacht: -
Fünf!
„Die Welt ist tief,
Sechs!
„Und tiefer als der Tag gedacht.
Sieben!
„Tief ist ihr Weh -,
Acht!
„Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Neun!
„Weh spricht: Vergeh!
Zehn!
„Doch alle Lust will Ewigkeit -,
Elf!
‘– will tiefe, tiefe Ewigkeit“
Zwölf!
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Kritische Studienausgabe, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Das Gedicht kommt im dritten Teil („Das andere Tanzlied“) und im vierten Teil („Das Nachtwandler-Lied“) vor. Die Glockenschläge („Eins!...Zwei!...Drei!...“) sind nur im dritten Teil zu finden.