Klaus Anders: Wellrath
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Stefan Hölscher
Klaus Anders: Wellrath. Frankfurt a.M. (Klaus Anders Privatdruck) 2022. 154 Seiten. 14,00 Euro. (Zu beziehen über andersk@posteo.de)
Die Determinanten der
Schicksale an einem (un-)wirklichen Ort
Fast klingt der erste Absatz des neuen Buches von Klaus Anders wie der
Beginn eines Wikipedia-Artikels: „Wellrath
an der Sieg, heute eine Kleinstadt, war vor 70 Jahren noch ein Dorf. Eine
Stunde Bahnfahrt bis Köln, eine halbe bis Siegen, hatten sich dort in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts moderne Eisenverhüttung und Stahlindustrie angesiedelt
und waren nach rund hundert Jahren wieder verschwunden.“ Irritation auslösen
könnte dann allerdings der diesem Einstieg direkt folgende zweite Absatz: „Die Leute, die auf den folgenden Seiten
sprechen, leben und lebten nicht zur selben Zeit. Die einen waren bereits 50
Jahre tot, als die Jüngsten geboren wurden. Sie stehen hier alle beisammen,
lebendig und für einen Augenblick alterslos, sprechen aus ihrer Zeit und
springen in das Vergessen.“
Die Menschen aus Wellrath sind also Gestalten, die sich nur auf
Buchseiten bewegen (solange sie nicht wieder „in das Vergessen“ gesprungen
sind). Und auch wenn ihr Ort Wellrath so klingt, also könnte man direkt mit
Rad, Bahn oder Auto dort hinfahren: es gibt ihn nicht. Wellrath ist eine
Erfindung von Klaus Anders, der seinem neuen Buch auch genau diesen Namen
gegeben hat. Die Menschen darin, die Wellrather und Wellratherinnen, werden
jedoch erstaunlich lebendig, und das jeweils mit wenigen Pinselstrichen, die
sie von sich selbst malen. Auf fast jeder der gut 150 Seiten des Buches tritt
uns eine andere Person, ein anderes Schicksal entgegen, auf das aus der
Ich-Perspektive beleuchtet ein Spot fällt, bevor die Person in der Menge der
anderen wieder zurück- und vielleicht auch „in das Vergessen“ oder in die
Sprachlosigkeit des Erinnerungs-dunkels (zurück-)fällt:
Arthur SeelbachHühnerkönig! rufen die Jungsmir nach. Weil ich mich umdie Hühner kümmer? Oder stetsdie schönste Schwanzfeder des Hahns,den ich grad köpfte, mir an den Hut steck?Wo sie im Wind schwirlt, leise knatternd?Meinen Fuß haben die Burschender SS mir zertrümmert, bevor siemich ins KZ brachten wie vieleandere Genossen. Seitdem hinke ich,arbeitete noch lang nach dem Kriegin der Sägemühl. Jetzt hock ich den halben Tag
zu Haus im Schuppen, hacke Holz,schichte es zu runden Stapeln.Ein Junge kommt oft zu mir und will,dass ich erzähle. So stopf ich mein altes,müdgebranntes Pfeifchen mit Landewyck Silber,und wenn es schmaucht, kommen die Wortevon selbst. Doch es gibt andere Worte,die kommen nicht, sie liegenzu tief in zu kalten Kellern, starrwie im Winterschlaf unsere Schildkröt.
Die in den wenigen Zeilen aufblitzenden Schicksale der Menschen von
Wellrath stehen zunächst für sich: jedes Schicksal eine Seite, dann gut
abgesetzt davon mit dem nächsten Seitenanfang das nächste Schicksal. Gleichwohl
geraten die einzelnen Wellrather:innen, obwohl jede/r nur von sich selbst berichtet,
in ein Gespräch miteinander, vor allem aber in ein durch die Zeit, ihre
Ereignisse, ihre Veränderungen, Fortschritte und Schrecknisse entstehendes
Gewebe, in dem die einzelnen Fäden gleichermaßen für sich wie als unlösbare
Teile eines eng verwobenen Ganzen erscheinen – ein von der Natur wie vom
Menschen ge- und verformtes Ganzes, zu dem die Lesenden im Laufe der Lektüre
immer wieder auch gleichsam lexikalische Informationen erhalten.
EisenerzSpateisenstein wurde im Siegerland mehr als 2500 Jahre langabgebaut. Zunächst im Tagebau, sehr viel später im Tiefbau. 1965wurde die Eisenerzgewinnung in dieser Region eingestellt. NebenEisenerz waren in geringerem Maße auch Blei, Kupfer, Zink,Kobalt und Nickel abgebaut worden.Namen von Gruben in Wellrath und Umgebung
Blumengarten, Bügeleisen, Fauler Hund, Feuer und Flamme,Krebs, Himmelsgärtchen, Neu-Sebastopol, Grüne Wiese, ZurGelegenheit, Hinterstes Hühnchen, Georg und Sonne,Apfelbaum, Zöllershoffnung, Altglück, Zampa, Alwine,Donnersglück, Goldene Morgenröthe, San Fernando,Hymensgarten, Wawiawa, Gottesgabe, Junge Nachtigall,Kutschwagen, Junger Eisengarten, Omer Pascha, Kupferhammer,Paradies, Übergangsbestimmung, Unverhofft, Luftgrube,Nördliches Breimehl, Vereinigtes Pützkorn, Oberster Specht,Rother Adler, Glanzrippe, Armuth, Schutzengel.
Die einzelnen Lebensstücke ähnlich wie die „Namen von Gruben“
changieren dabei zwischen fast spröder Faktizität und poetischem Schwingen.
Manche der Skizzen beschränken sich auf die Nennung der Eckpunkte der Vita,
andere erscheinen wie „im Flirren der Blätter“:
Alexandra GeringhoffZuweilen fühlst du dich sicherin der gestriegelten Welt, dochder Ring in deinen Händen,fest, ohne Anfang noch Ende,ist nur eine Kette aus brüchigenGliedern, die sich auf dem Sandwegverlieren. Bittere Lehre: die Herzpfadeführen immer ins Irrsal, endenin finsteren Wäldern, im Stechginsterauf einer Klippe. Wenn du nicht mehrweiter weißt, und der Schritt hinausdir als Erlöser aufscheint, dann istder Grund erreicht, aus dem neueWege sprießen, wie Zaunrübenrankenfinden sie durch verzwicktestesDickicht, und da du noch zweifelst undsuchst, trifft dich das Licht in der Krone,wo, im Flirren der Blätter,der Pirol ruft und ruft.
Man sollte die Vielzahl der individuellen Geschichten in Wellrath peu à
peu, nicht am Stück lesen, sonst wird einem schwindelig vor so viel Leben, Verflechtung,
Wirrniss, Zufall, Glücks-moment und Niedergang. Klaus Anders ist als Lyriker wie
als Prosaautor Miniaturist; aber aus den Miniaturen von Wellrath entsteht mehr:
Man kann das Buch als eine Art Experiment verstehen, das Experiment mit einem
Ensemble von in Versen geformten Biographieskizzen an einem Ort miteinander
verbundene Lebenslinien entstehen zu lassen, wie sie genau so hätten sein
können – vielleicht mit unserer eigenen als einer von ihnen – wobei wir als
Lesende gleichzeitig wissen und doch immer wieder vergessen, dass die ganze
Welt von Wellrath bloß eine Erfindung ist – scheinbar so viel weniger wirklich als
unser eigene Welt und unser eigenes Sein, das uns zumindest manchmal so frei
und so offen erscheint, weil wir den Abstand nicht haben, die Determinanten und
Verkettungen der Schicksale wahrzunehmen, – in die uns Klaus Anders als
poetisch-historischer Chronist von Wellrath gelassen Einblick nehmen lässt.