Katrin Pitz: auch solche tage waren immer schon da
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Andreas Hutt
Katrin Pitz:
auch solche tage waren immer schon da. Gedichte. Nettetal (Elif Verlag) 2022.
110 Seiten. 20,00 Euro. ISBN: 978-3-946989-49-3.
Zivilisierte
Schatten
In seinem 2020
erschienenen Essay „Beugung“ befasst sich Christian Metz mit der Verschränkung
von Fiktion und Wirklichkeit in der Literatur. Dabei schaue die Lyrik „auf eine
reiche Erfahrung an Erlebnisinszenierungen zurück mit authentischen oder in
ihrer Rhetorik der Nicht-Rhetorik nicht eindeutig als fiktional
identifizierbaren Darstellungen von Gefühlen, Gedanken, Wahrnehmungen,
Erfahrungen, Aussagen und Haltungen.“¹ Der
Dichtung gelinge wie keiner anderen Literaturgattung „die Darstellung des
Intimen.“² Im
weiteren Verlauf seines Essays greift Metz auf Theorien der US-amerikanischen Physikerin
Karen Barad zurück, in denen sie eine Synthese von realistischer und
konstruktivistischer Erfassung der Welt entwirft. „Für Barad ragen das
Asemiotische, sprachlich nicht gefasste Materiale (matter), die Leiblichkeit
der Körper, die Materialität der Dinge, in die symbolische Ordnung (des
Verstehens) hinein.“³ Ein
Mensch konstruiere sein Subjekt
„performativ in immer neuen Verschränkungen mit dem Außer-sprachlichen,
Materialen, das seinerseits mit eigenständiger Aktivität die
konstrukti-vistischen Fiktionen durchkreuzt.“⁴ Aufgrund
dieser Verschränkung werde ein neuer Dokumentarismus möglich, der konstruktivistische
Fiktion und Realismus miteinander verknüpfe.
Dieser
theoretische Ansatz scheint mir geeignet, um sich den Gedichten von Katrin Pitz
in ihrem Band „auch solche tage waren immer schon da“ anzunähern:
ich breche deinen rapportab an beliebiger stelleeine halbe bagatellein der tropfenden handmein angenehmster gesprächspartner kämeaus einem teekomsumierenden landwo man sich wegbewegt von den pfadenauffindbar bloß von spürkindernsich zuhause geschichten erzähltzivilisationsnahe schatten . in denen man döstdein bett trägt noch die wäschein der du schliefst . ich es versuchtenicht die bösen träume zu greifenzu lagern an rostigen ankerkettendoch unsere : ohne anker und rost
Man stellt sich
beim Lesen dieser Verse zwei Personen vor, von denen eine über einen längeren
Zeitraum spricht. In diese – offensichtlich durch ein reales Ereignis – angeregte
Beschreibung einer Alltagssituation schleicht sich eine Interpretation des
lyrischen Ichs. Der Redebeitrag des Gegenübers wird als Rapport aufgefasst,
also quasi als eine Art militärische, einseitige Berichterstattung, die vom
lyrischen Ich „an beliebiger stelle“ abgebrochen wird. Der Beitrag der zweiten
Person ist also vom Gehalt offensichtlich nicht so bedeutsam, dass man den
„rapport“ bis zu einem bestimmten Punkt anhören müsste. Im dritten Vers erwähnt
das lyrischen Ich, dass es einen Gegenstand in der Hand halte, also etwas
Reales. Dieses Materiale, um in der Sprache Barads zu bleiben, wird jedoch als
„halbe bagatelle“ bezeichnet und damit als weniger wichtig charakterisiert. „in
der tropfenden hand“ könnte bedeuten, dass der Gegenstand ein Pfirsich oder ein
saftiger Apfel ist, der tropft, oder etwa Geschirr, das abgewaschen wird. Es
fallen Tropfen von der Hand zu Boden, die vom lyrischen Ich interpretierend so
wahrgenommen werden, als tropfe die Hand.
In der zweiten
Strophe verfällt das lyrische Ich nach der misslingenden
Kommuni-kationssituation zuvor in eine Reflexion darüber, wie ein idealer
Gesprächspartner beschaffen sein müsse, der aus einem „teekonsumierenden land“
stammen solle, also aus einem Land der Behaglichkeit, Introspektion, inneren
und äußeren Wärme. Eine einseitige Kommunikation sei in diesem Land kein
„rapport“, sondern seien „geschichten“, die in den vier Wänden eines Heims
erzählt und als extrem defensiv in ihrer Wirkung („zivilisationsnahe schatten.
in denen man döst“) charakterisiert werden.
Nach diesen
Versen der Reflexion gelangt das lyrische Ich (durch einen Blick?) wieder im
Alltag an, indem es die Bettwäsche des Gesprächspartners aus Strophe Eins thematisiert.
Diese Bettwäsche wiederum induziert ein Nachdenken über Träume im Allgemeinen
und die Träume von lyrischem Ich und lyrischem Du im Speziellen. Auf diese
Weise verschränken die Gedichte von Katrin Pitz Realität und
konstruktivistische Fiktion. Erlebtes wird der inneren Realität des lyrischen
Ichs eingemeindet, scheint aber im Gedicht so durch, dass es für den Leser bzw.
die Leserin erahnbar bleibt.
Die Autorin arbeitet
in ihren Gedichten gern mit Wortneuschöpfungen („fledermaushände“, S. 9,
„tageslichtschneisen“, S. 8 oder „unlaufbar“, S. 10). Ihre Metaphern sind
eindringlich, und sie scheut bei deren Konstruktion nicht vor der Verwendung
von Abstrakta zurück („schon lange dehnt sich unsere havarie/ aus über
seeuntüchtige gefährte/ bis unter die augenbrauenbögen“, S. 12 oder „schutzraum
aus vernunft“, S. 18). Viele der Texte, z.B. in den Zyklen „versprechungen“
oder „naturwissenschaften“, sind stark rhythmisiert, leben von refrainartigen
Wiederholungen von Versen und scheinen vor allem für den mündlichen Vortrag
geschrieben zu sein.
Den Höhepunkt
des Bandes stellt sicherlich der Zyklus „naturwissenschaften“ dar, für den die
Autorin 2021 mit dem Leonce-und-Lena-Preis ausgezeichnet wurde. Das
übergreifende Thema der Gedichte besteht in einem Ausloten des Verhältnisses
von Natur, Mensch und Naturwissenschaft/ Technik. Das lyrische Ich rekurriert
in seinen Reflexionen auf die existenzielle Schuld des Menschen in einer
hochentwickelten Gesellschaft, Natur zu zerstören, sich untertan zu machen,
Ressourcen zu verbrauchen. Das lyrische Ich scheint sich dieser Schuld bewusst
zu sein, indem es weitgehend elliptisch auf die Verwendung des
Personalpronomens „ich“ verzichtet, sich selbst quasi aus den Gedichten
wegradiert. Jeder der fünfzehn Texte wird durch eine thematische Klammer
zusammengehalten, indem das lyrische Ich sein Verhältnis zum Sujet des
Gedichtes in impressionistischer Detailtreue ausbuchstabiert.
habe immer gewusst, ich wisse, was tun. habe gewusst, es gibt sol-che pflanzen, die wurzeln in sehr feuchtem grund. sind immer imfeuchten. sind regelrecht nass. quellen bis an die lichtschicht heran.heißen moose und ziehen blättrige finger. gibt gewächse, denenwachsen tausende gar. Habe mich immer vor solcher berührunggeekelt. muss man ruhe bewahrn. wenn man einmal hineinkommt,muss man sich selbst eine ruhe bewahrn. sagten mir zahlreiche trai-ner. dreh den rücken aufs wasser und dann kraul mit den beinen.habe zahlreiche trainer gehört. hat nicht einer die ruhe erklärt. amgrund sind die stämmchen starrsinnig nackt. möchte sie gründlichverbannen. möchte sie schlingmoose schelten und die füße augen-blicklich verliern.
Blickt man
insgesamt auf die in Katrin Pitz‘ Band versammelten Texte, so kann man sicher
nicht von „geschichten“ sprechen, die „zivilisationsnahe schatten“ werfen, aber
doch von Gedichten als zivilisierte Schatten des Materialen, die mit Hilfe
lyrischer Reflexion vom Alltag als konstruierte Realität hervorgebracht werden.
Eine Leseempfehlung.
¹ Vgl. Christian Metz: Beugung. Essay. Verlagshaus
Berlin, Berlin 2020. S. 8.
² Ebenda S. 8.
³ Ebenda S. 11.
⁴ Ebenda S. 11.
² Ebenda S. 8.
³ Ebenda S. 11.
⁴ Ebenda S. 11.