Katia Sophia Ditzler: Lieder der Dreistigkeit
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Andreas Hutt
Katia Sophia Ditzler: Lieder der Dreistigkeit. Nettetal (ELIF Verlag) 2022. 100 Seiten. Mit QR-Code für Performance- und Video-Material. 18,00 Euro.
Schattenwelt
Katia Sophia Ditzlers Lyrikprojekt „Lieder der Dreistigkeit“
Wer kennt nicht das Höhlengleichnis Platos? Im Inneren eines Berges befinden sich Gefangene, die so gefesselt sind, dass sie durch einen so angelegten Lichteinfall nur Schatten an einer Wand wahrnehmen können, eine Art reduzierte Realität. Befreite man einen der Gefangenen und könnte er aus der Höhle heraus gelangen, würde er nach einer Gewöhnungsphase die Dinge so sehen können, wie sie sind, als ob er körperlos wäre und die geistige Welt betreten hätte.
In etwa so kommt mir das Verhältnis von Gedichten und Gedichtvideos in Katia Sophia Ditzlers Projekt „Lieder der Dreistigkeit“ vor. Die Schatten an der Höhlenwand entsprechen den Texten, die schwarz auf weiß eine in sich geschlossene künstlerische Realität entfalten. Diese Entität wird durch die Videos aufgebrochen, indem im Medium Film andere Wahr-nehmungsebenen hinzukommen, Bild und Ton nebst ihren Verfremdungseffekten, ähnlich wie beim befreiten Gefangenen Formen und Farben das Gesehene um andere Dimensionen erweitert.
In den Gedichten Ditzlers ist ein lyrisches Ich dominant, das um sein Verhältnis zur Welt ringt. In locker über eine Querseite verteilten Versen beschreibt es metaphorisch seine eigenen Handlungen und seine Interpretation der Welt („ich ordne Junkfoodkomponenten in Ornamenten und Mandalas an“, S. 9 oder „die Kämpfenden und die Gelehrten habe ich gefoltert und befragt“, S. 15). In diesen Selbstbeschreibungen scheint die Frage einer Selbsterkenntnis enthalten zu sein, der Versuch, sich über sein Handeln zu definieren, in seinem Tun zu entdecken. Da eine echte Selbsterkenntnis nicht gelingen kann, bleiben die Versuche bei Ditzler hermetisch („ich synthetisiere die Stille“, S. 11 oder „ich bin verwurzelt in Erosion, S. 23)). Neben der Verwendung von Sprachbildern arbeitet die Autorin mit Vergleichen („wie diebischer Schnee“, S. 2), Antithesen („die verlassen und stark befahren sind“, S. 14 oder „es gibt keine Schuld, aber sie ist ein stilisiertes Blumenmuster“, S. 27) bzw. Ironie („dein Name hingegossenes Duschöl“, S. 26). Dabei nutzt sie häufig Abstrakta, Fremdwörter und technisch-wissenschaftliche Fachbegriffe (deviant, formstabil, Platinen, Erosion, Brigaden), so dass die Gedichte trotz ihres metaphysischen Gehaltes im Hier und Jetzt verankert sind. Häufiger wendend sich das lyrische Ich an ein lyrisches Du, das als Abgrenzungs- bzw. Projektionsfläche des lyrischen Ichs und damit ebenfalls zu dessen Positionsbestimmung dient. Jedes Gedicht ist mehrteilig und so komponiert, dass die einzelnen Teile, ähnlich wie bei einem Tryptichon, aufeinander Bezug nehmen.
In den
Gedichtvideos tritt die Lyrik in ihrer Bedeutung hinter den Film als
Gesamtkunstwerk zurück. Die Texte dominieren die Bilder nicht, werden teilweise
sogar technisch verfremdet vorgetragen oder mit Sound unterlegt. So erlangen
die Videos den Rang einer eigenständigen künstlerischen Arbeit. In den meisten
Filmen dominiert die Performerin Ditzler das Ge-schehen. Sie befindet sich in
Vororten, Großstädten oder am Strand und kostümiert sich mit Hilfe von
Accessoires wie Dildos, Plastikskeletten oder exzentrischer Kleidung. Ähnlich
wie in den Gedichten scheint es die Künstlerin über die Verfremdung um eine
Standortbestimmung zu gehen, im Sinne von Wo und wie befinde ich mich, wenn ich
in der Welt bin? Welches Verhältnis habe ich zu den Dingen? Über die Ab-grenzung
der Performerin von der Norm liegt die Frage, worin die Norm bestehen könnte.

In Platos
Höhlengleichnis sieht der ehemalige Gefangene nach seiner Befreiung das Wesen
der Dinge. Die Gedichte und die Gedichtvideos von Katia Sophia Ditzler sind als
Kunstwerke jeweils für sich wahr, streben aber natürlich unterschiedliche
ästhetische Wirkungen an. Die Möglichkeit, die Gedichte Wort für Wort
konzentriert lesen zu können, eine Vorstellung von dem zu entwickeln, was man
in sich aufgenommen hat, kompensiert die in den Videos vorhandenen Bild- und
Soundelemente vollauf. Katia Sophia Ditzlers Gedichte sind Schatten, die aus
sich selbst heraus eine Visualität entwickeln und damit an das Wesen einer
menschlichen Existenz rühren, ohne eine Wahrheit benennen zu können. Die in den
Gedichtband eingebetteten Stills aus den Gedichtvideos hätte es nicht
gebraucht.
Man kann nicht einmalmehr atmenIman kann nicht einmal mehr atmendie Luft ist voller Argon und Schwefelich ordne Junkfoodkomponenten in Ornamenten und Mandalas anich spekuliere auf Erdbebenwenn ich in Gebäude geheerstelle ich einen Plan aller Lüftungsschächte und ihrer Verzweigungenich teile Diademe an Jungbullen auswas mache ich mit Briefen von Leuten, die ich nicht kenne?der Raum zieht sich zusammenich schieße Fotos von Geisternals würde ich Alabaster zermalmen und Altlastenformstabile Ignoranz …