Katharina Kohm: Schmerz und Ironie - Humor und krasse Trauer. Der doppelte Horizont mit Simone Lappert und Sirka Elspaß
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Schmerz und Ironie - Humor und krasse Trauer
Der doppelte Horizont mit Simone Lappert und Sirka Elspaß
Eindrücke vom Abend von Katharina Kohm
Es war ein doppeltes Debut im Rahmen der Reihe »Der doppelte
Horizont« im Lyrik Kabinett, das zwei aktuelle Stimmen der Gegenwartslyrik am
Mittwochabend, den 13. September, in den Dialog treten ließ.
Im Rahmen der Lyrik Empfehlungen 2023 begegneten sich zwei »neue
Sounds«, wie es Holger Pils auf den Punkt brachte, die zum ersten Mal im Lyrik
Kabinett zu Gast waren und ihre jeweiligen Lyrikdebuts präsentierten und
miteinander ins Gespräch kamen.
Der Titel der Veranstaltung »ich föhne meine längst fällige
verwilderung« führte die jeweiligen Titel der 2022 erschienen Bände zusammen.
Diese Titelei wirkt zunächst gewagt, setzt sie doch eine harmonische
Schnittmenge mit harmonischen Übergängen von dem einen Horizont in den anderen
voraus. Dass sich die beiden sehr unterschiedlichen »Sounds« aber genau in
dieser Weise wohlwollend ergänzen, einander hörend zugewandt gestalten würden,
war auch im Publikum an diesem ersten Abend nach der Sommerpause deutlich
wahrnehmbar.
Die Schlüsselbegriffe Sound, Stimme und Wahrnehmung, wozu auch
die Unmittelbarkeit der Erfahrung von Mündlichkeit der Dichtung gehört und
Hörende in das Erlebnis explizit mit einbezieht, zogen sich durch den gesamten
Abend, der von Lisa Jeschke, die im Gespräch auf poetologische und inhaltliche
Fragen Bezug nahm, moderiert wurde. Eine wohlwollende Zugewandtheit ging auch
von dieser behutsamen und sachlichen Moderation aus.
In beiden Bänden geht es um Existenzielles, um Krisen, um
Zerbrechlichkeit, was aber gerade einer großen Stärke und Mut zu verdanken ist,
sprachlich einen Raum zu öffnen, in dem zunächst Sprachlosigkeit und
Sprachkrisen provozierender Ereignisse abgetastet werden. Dabei werden ganz
unterschiedliche sprachkünstlerische Wege gesucht, diese existenziellen Themen
individuell und ästhetisch anzugehen.
Der Band von Sirka Elspaß, die 1995 in Oberhausen geboren wurde
und deren Band von Christian Metz für 2023 empfohlen wurde, trägt den, wie Lisa
Jeschke es bezeichnete, »verheißungsvollen Titel« »ich föhne mir meine wimpern«
und ist im Suhrkamp Verlag erschienen. Schon das erste Gedicht führt auf die
poetologisch existenzielle Frage der Geburt, bzw. des erstmaligen Vernehmens
der eigenen Stimme. Dieser Geburtsprozess bildet den Anfang ihres Debutbandes
und spannt sogleich den tradierten Rahmen bzw. die kafkaische Analogie von
Geburtsprozess und Schreibprozess auf. In den ersten beiden Versen des ersten
Gedichts von Elspaß heißt es nämlich:
als ich geboren werde erschrecke ich michvor meiner eigenen stimme
Mit diesen ersten Versen wird aber auch der inhaltliche Prozess
oder Spannungsbogen des Bandes offeriert; es geht, wie Elspaß selbst es
bezeichnet, um die eigene Menschwerdung im »In die Welt geworfen Sein«. Dieses
universelle Thema, mit dem jeder Mensch neu anfängt, sich in der Welt, wie sie
gerade zu Lebzeiten sich gestaltet, neu umzugehen, sich zurechtzufinden und
reifen zu können, wird bei Elspaß umso mehr mit aktuellen Alltäglichkeiten
konfrontiert.
Nun ist aber gerade in der Lyrik interessant, wie dieser Prozess
zur Sprache kommt. Bei Elspaß‘ Gedichten zeigt sich dieser Prozess als ein
schmerzhafter und dennoch ironischer, der einen pathetischen Ton konterkariert
und sich selbst und die Außenwelt demaskiert. Die Bewegung zwischen Pathos und
Ironie, zwischen Fragilität und Stärke setzt eine Spannung ins Gedicht und ins
Sprachbild, die berührbar macht, ohne in einen zu schwermütigen Ton zu
fallen.
Die popkulturellen expliziten Verweise und das Aufgreifen von
Themen der digitalen Welt bei Google, Netflix und Instagram zeichnen eine
Außenwelt, die verwendet wird, aber nie wirklich bei dem Finden einer Lösung
oder dem Finden von Gemeinschaft oder sich selber hilft. Die Suchbewegungen
einer jungen Generation im Digitalen entpuppt sich als einsames Verlaufen,
hinterlässt auf wiederum ironische Weise vor allem Einsamkeit und Verwirrung.
So war es sehr passend, dass ihr Leseblock innerhalb der
Veranstaltung mit einem Track begann, der einer Playlist zum Gedichtband
entnommen ist, die von Sirka Elspaß begleitend zum Buch erstellt und auf
youtube vom Suhrkamp Verlag veröffentlicht wurde*
Das Video zum Song »L`ènfer« von Stromae beginnt mit einer
Zoomeinstellung auf die geschlossenen Augen des Künstlers. Man sieht deutlich
den Wimpernkranz. Im Laufe des Videos öffnet sich Schritt für Schritt die
Kamera. Der Sänger befindet sich mehr und mehr in einem fast leeren, hellblauen
Raum, in dem er sich zunehmend verliert. Ikonisch und musikalisch wird an
dieser Stelle schon in den Kosmos des Bandes eingeführt.
Elspaß las im ersten Block Gedichte aus den Abschnitten 1 und 3,
die sich mit den Alltäglichkeiten und Absurditäten einer jungen Generation im
Prozess der Adoleszenz (der vielleicht nie ganz aufhört) beschäftigen und auch
mit Trends in social media und bei netflix zu tun haben. Beispielsweise
entlarvt sie die Oberflächlichkeit der Aufräum-Weisheiten von Marie Kondo, die
auf Netflix im Zeichen eines angeblich heilsamen Minimalismus das Aussortieren
preist:
eine netflix-serie bringt mir bei was es heißt aufzuräumenmarie kondos regel istget rid of anything that doesn’t spark joyich schaue mir sehr lange meine socken anund dannauch dein gesichtich weißich hatte kein glück aber hätte ich es gehabtich hätte es behalten(ich föhne meine wimpern, S. 25)
Die Besonderheit der Poetizität liegt hier nicht in erster Linie
in kulminierter Wortmetaphorik, sondern in der Brechung durch eine doppelte
Bewegung im Denkbild. Mit Ironie und der nochmaligen Wendung in den Schmerz
eines Verlusts wird hier die eigentliche Kälte eines Aufräum-Prinzips
vorgeführt, das im Gegensatz zu diesen Gedichten eben nicht hilft.
In einem zweite Leseblock las Elspaß aus dem, wie sie es selbst
nannte, »Herzstück« ihres Bandes, Teil 2 und 4, Mutter I und Mutter II. Die
Menschwerdung des lyrischen Ichs führt unweigerlich durch den
Abnabelungsprozess von der Mutter, in Form einer Auslotung von
Positionierungsversuchen, Konflikten und der Fragilität dieser ersten und wohl
prägendsten Beziehung zweier Menschen. Die Mutter-Tochter-Beziehung wird zum
Prüfstein einer eigenen Stimme, einer nötigen Konfrontation und führt durch die
Krise erst zur Souveränität: ein Prozess, der so abgeschlossen vielleicht nie
ist und immer wieder durchlaufen wird. Mutter I besteht aus sechs
Teilgedichten, Episoden und ist somit das längste Gedicht im Band. Am Ende
dieses Gedichts heißt es:
[…]ich kann uns nicht behaltenes ist zeit zu gehenden abschied wie eine ausfahrtnehmen aber dass ich alleinenicht ausreichediese angst bleibtmutterkommes wird dunkelhol michheim
dann stößt mit der alte zahn durchs fleischmutterrufe ichmutterichwerde(ich föhne mir meine wimpern, S. 49)
Man könnte an Hedwig Dohms abgewandelten Ausspruch um 1900
denken: »Werde, die Du bist!«. Dass hier eine weibliche Emanzipation und
Menschwerdung im Fokus steht, muss auch heute noch betont werden, da dieser Weg
durch viele Selbstfindungs- und Reflexionsprozesse und durch viele »Trotzdems«
hindurchmuss, um sich zu behaupten. Der Fokus auf die Beziehung zwischen Mutter
und Tochter aus der Perspektive der Tochter ist im Band ein ehrlicher, ein
unmittelbarer, der durch die Lesung ganz direkt erfahrbar war.
Auch Simone Lapperts Gedichte aus ihrem Gedichtband »längst
fällige verwilderung«, der 2022 im Diogenes Verlag erschienen ist, lotet die
Frage des eigenen Wachstums, der eigenen Stimme, ein Mündig-Werden aus, das
immer wieder neu und prozessual erkämpft, errungen, angesprochen werden will.
Ihr Band wurde in Bezug auf 2023 von Joachim Sartorius empfohlen.
Die Schweizer Dichterin arbeitet sehr stark mit Klang und
Rhythmus, mit dem Text als Klangkörper und trägt ihre Gedichte bei Lesungen
frei vor; begleitet wird sie dabei von der Bassistin Martina Berther. Gemeinsam
wurde parallel zum Band auch ein Hörbuch aufgenommen, das dieses
Sich-aufeinander-Einlassen in beiden Künsten festhält. Lappert spricht dabei
von Übersetzungsarbeit, wie sich Stille, Schnee, Wortbilder vertonen lassen, wie
darauf reagiert werden kann. Diese besondere Performance intensiviert das
Körperliche, den Begegnungsraum, der durch Wort und Klang erzeugt und verstärkt
werden.
Auch Lapperts Band beschreibt eine Reise, die aus einer Krise durch
Verlust herausführt. Dabei arbeitet sie sehr konzentriert an Sprachbildern, die
immer mit einer Arbeit an Klang- und Sprachreflexion einhergehen. Nur selten
kommt ein konkreter Ort oder eine explizite Referenz auf aktuelle
gesellschaftliche Fixpunkte vor. Das innere Wachstum vollzieht sich parallel zur
Außenwelt, vielleicht im Raum der Lyrik, der, wie im Gespräch mit Lisa Jeschke
deutlich wurde, ein Schutzraum ist, aber auch nach innen stechen kann. Aus
dieser Verkapselung »stiller« Wandlungsprozesse, die einen Rückzug erfordern, wird
jedoch ausgebrochen durch Versprachlichung: Motive wie Vögel, Früchte, das
Hören, Konservieren, Pflanzen schaffen dabei sprachlich ganz neue Bildwelten,
die sich verdichten. So heißt es in dem kurzen Gedicht »weit weg genug«:
in der prallen pampa, kurz vor albany,knacken gedanken an dich auf: angedellte wunschkonserven.ortswind oxidiert diesen heimlichen sommer,in dem alles nach innen wuchs, was mich an dich verraten hätte,schüttelt möglichkeiten ab: prekäres fallobst,for the birds, sagt man hier, wenn etwas vergeblich ist.die vögel in der zahmen pampa, kurz vor albany,sagt man, sie fressen alles.(längst fällige verwilderung, S. 14)
Dieses Wachstum, das nach innen hin zugleich ein Verwildern und
Verwuchern bedeutet, ein Schreiben »for the birds«, markiert genau die Stärke, sich
in der Wandlung nach außen zu kehren, nach neuen Wortwelten des Umschwungs zu
suchen. In einem solchen Rückzug oder der Beschränkung liegt Lapperts reiche
fast körperliche Sprache, die sich im Band immer wieder aufs Neue ihren Weg
sucht. Es scheint, als würde das vorige Gedicht ein nächstes bedingen oder
rufen, und so hat man es in diesem Band mit Schlaufenbewegungen zu tun, die
immer einen Schritt weiterkommen, ohne die vorige Entwicklung fallen zu lassen.
Mit dieser Möglichkeit eines selbst erkämpften und wild umhegten Raumes, in dem
die Sprache auch wuchern darf, wird im letzten Gedicht des Bandes ein
Selbstportrait gezeichnet:
selbstportrait (w)ist ein knirschen in den wimpern,ein krachen in den nackenhaaren,ist ein reissen und bröselnum den mund, der schweigt,der so mühsam zweifel unterzungt,ist ein schiefes im dastehn,ein sich beugen hin zum brennenden bauch,ist ein fletschen der sinne,in den knochen ien knurren,ist ein bersten und buckeln und beissen,ist eine längst fällige verwilderung.(längst fällige verwilderung, S. 66)
In diesem letzten Gedicht wird nicht nur der Titel des Buchs
offenbar, sondern der letzte Vers schlägt auch den motivischen Bogen zu Elspaß’
»ich föhne mir meine wimpern«. Beiden Bänden geht es um eine Selbstermächtigung
und eine Positionierung der eigenen Stimme, um einen Emanzipationsprozess durch
Krisen hindurch, denen schonungslos, wunderschön und ironisch in die Augen
geblickt wird.
Obgleich beide Dichterinnen sehr unterschiedlich mit Sprache
umgehen und auch Örtlichkeiten und Zeitlichkeit ganz unterschiedlich
einflechten, hatte man das Gefühl, dass sich hier Wesentliches überschneidet
und so der doppelte Horizont des Lyrik Kabinetts diesmal ein außergewöhnlich
gelungener gewesen ist, der auch im Gespräch mit Lisa Jeschke diesen Schirm,
den Lyrik aufspannen kann, bis ins Publikum reichen ließ.
* (Link: https://www.youtube.com/watch?v=DO8NSL5Wyeg&list=PLUBsLQZqCEYdmr6crJAOe7_6rpa6r-px6&index=8).
Sirka Elspaß: ich föhne meine wimpern. Gedichte. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2022. 80 Seiten.
20,00 Euro.
Simone Lappert: längst fällige verwilderung. Gedichte und Gespinste. Zürich (Diogenes) 2022.
80 Seiten. 22,00 Euro.