Jürgen Brôcan: Gottesdeponie
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Marcus Neuert
Jürgen Brôcan: Gottesdeponie. Eine Passacaglia.
München (Aphaia Verlag) 2023. ISBN 978-3-946574-32-3. 72 Seiten. 110 Seiten.
18,00 Euro.
Vom „Wörtern“ des zweiten Körpers
Jürgen Brôcan ist kein Schreibender, der eine Scheu
vor langwierigen und profunde Sachkenntnis erfordernden Literaturprojekten an
den Tag legt. Das galt schon für sein bisheriges Schaffen – man denke etwa an
die erste komplette Übertragung der Leaves of Grass von Walt Whitman mit
ihren annähernd neunhundert Seiten ins Deutsche, die 2009 bei Hanser erschien,
oder seine Neuübersetzung der Offenbarung des Johannes aus dem Altgriechischen,
die bei ihm zu einer Enthüllung wird. Doch der soeben bei Aphaia
vorgelegte eigene Lyrikband Gottesdeponie verstärkt diesen Eindruck
nochmal beträchtlich: hier kommt im besten Sinne Wort-Gewaltiges aus Dortmund,
wo der 1965 in Göttingen geborene Jürgen Brôcan seit zwanzig Jahren lebt.
Angesichts der Fülle und des Umfangs seiner literarischen Aktivitäten als
Lyriker, Übersetzer, Essayist, Literaturkritiker und nicht zuletzt auch als
Herausgeber der edition offenes feld, in welcher vorrangig das
qualitätvoll Unkonventionelle und Randständige aus Lyrik und Prosa seinen Platz
findet, liegt die Vorstellung nahe, dass Jürgen Brôcan seinen Schreibtisch kaum
je verlässt.
Nun
ist die Gottesdeponie aber so randvoll mit Welt, dass sie nicht nur am
Dichterpult entstanden sein kann. Oder eben gerade doch? Das eine Motto,
welches dem Band vorangestellt ist, reflektiert diese Frage auf ganz eigene
Art: „Wir sehen, daß die Neigung zur Darstellung und die Neigung zur
Abstraktion von Anfang an und einander ebenbürtig auftreten“, zitiert Brôcan
den österreichischen Kunsthistoriker Werner Hofmann. Ist also die Gottesdeponie
nicht vielleicht doch mindestens ein Zwitter aus dem leiblichen
Sein-in-der-Welt und den mäandernden Reflexionen des in sich zurückgezogenen
Geistes? Das zweite Motto weist dagegen in eine ganz andere Richtung: „I'm so
happy that I'm alive / at the same time as you“, heißt es in einem Song von
Coldplay. Die dem Band vorangestellte Widmung „Allen, die wir lieben. // Für
K.“ flankiert dieses Zitat auf eine Weise, die eher an Liebesgedichte denken
lässt. Und das „wir“ impliziert in diesem Zusammenhang auch das Diktum
Rimbauds, wonach das Ich ohnehin ein Anderer ist.
Auf
jeden Fall stößt die Lesegemeinde Jürgen Brôcans auf Schritt und Tritt auf das
angesprochenes Du in den Texten. Doch darin einfach ein klar zu benennendes
menschliches Gegenüber zu sehen, erscheint schon problematischer. Der Bezug
changiert, meint mitunter offensichtlich eine geliebte Bezugsperson: „die
straßen besprüht mit dem parfum deiner stimme“. An anderer Stelle wiederum
erscheint die Sprache als solche als Adressat der Anrede (und dies gleich schon,
mit dem entsprechenden Gewicht für den ganzen Band, gleich im ersten Gedicht):
„ohne dich stimmlos, mein anderes ich, nicht aus mir, doch teil von mir
werdend“. Auch das selbstbezügliche Du, die verkappte Ansprache des eigenen
Ich, scheint an einigen Stellen eine plausible Einordnung zu sein, so als
spräche das Ich mit sich selbst in der zweiten Person Singular: „denke dir,
wörtere dir einen zweiten körper“. Doch eine relationale Uneindeutigkeit bleibt
auch in diesen Beispielen bestehen, und der Reiz dieser immer wieder neu zu
lesenden Ambivalenzen erstreckt sich in ähnlicher Weise auch auf das häufig
gebrauchte Wir.
Ein erster Eindruck dieser Gedichte ist zweifelsohne
von Schwere und Tiefgründigkeit geprägt, gleichzeitig von einer gewissen
Hermetik, die den allzu leichtem Zugang zu diesen Texten verwehrt. Dazu passt
der Untertitel Eine Passacaglia insofern, als es sich dabei per
definitionem um einen ursprünglich spanischen Volkstanz im Dreiertakt handelt,
eher langsam, gravitätisch, mit ostinaten Bassfiguren, meist in Molltonarten
und von sanfter, melancholischer Beschaf-fenheit. In der europäischen
Barockmusik war die Passacaglia eine beliebte Variationsform. Anders als etwa
beim Ritornell gibt es zur Passacaglia keine literarische Definition, sondern
nur eine musikalische; doch lassen sich in den Texten durchaus etliche dieser
wesentlichen musikalischen Bestandteile finden, um dem Untertitel gerecht zu
werden. Formal fällt hierbei auf, dass es sich um neunundneunzig Gedichte
handelt, die jeweils aus neun Versen zu je neun Worten bestehen, was man
durchaus als Potenz der vorgegebenen Dreiviertel- bzw. Sechsachtel-Metren der
musikalischen Form sehen kann. Die wiederkehrenden Bassfiguren korrespondieren
in gewisser Weise mit den immer wieder auftauchenden thematischen Strängen: dem
Atem, der Stimme, der Sprache, der Natur, dem Weltall, der Liebe, der
Auferstehung – die Reihe ließe sich fortsetzen, denn in diesen Texten spiegelt
sich nicht weniger als die ganze Geistesgeschichte des Abendlands: zahllose
Fußnoten verweisen auf Schriftsteller, Künstler, Philosophen und andere Denker
aus vier Jahrtausenden und verraten gleichzeitig nicht wenig über den
Schaffensprozess am jeweiligen Gedicht. Vielen Bezügen wird man erst beim
wiederholten Studium und bei der eigenen Recherche näherkommen, doch sind sie
für ein persönliches Leseverständnis natürlich nicht notwendig: wie letztlich
fast alle guten Gedichte kommen auch die Texte der Gottesdeponie ohne
auktoriale „Führung durchs Werk“ aus.
Auf den erwähnten ostinaten Grundthemen oszillieren
die verschiedenen damit verbundenen Motive, erinnern an Durchführungen in Fugen
oder Sonaten. Man kann also definitiv von einer ans Musikalische gemahnenden
Verwebung der semantischen Textketten sprechen – was eine Gesamtwürdigung
zunächst natürlich umso vertrackter macht: kann es so etwas wie Leichtigkeit in
einer solch strengen Bauform geben? Das erscheint problematisch, selbst ohne
festes metrisches Korsett wie im vorliegenden Fall. Ein Eindruck von
Leichtigkeit wird auch durch den gefühlten Anspruch, semantisch die ganze
Schöpfung zu integrieren oder doch wenigstens neu zu porträtieren,
konterkariert; eher zeigt sich der Dichter als „ein schöpfer im gefängnis /
vielleicht: aber einen schritt neben sonnen, du, das reicht.“
Aber geht es Jürgen Brôcan überhaupt um ein
beflügeltes, leichtes Schreiben? Ursprünglich liegen der ins Italienische
gewandelten Passacaglia das spanische pasar (vorbeigehen) und calle (die Straße)
zugrunde. Ein lockeres, unverbindliches Die-Straße-entlanggehen, im Wortsinn, sind
diese Gedichte nun wirklich nicht, jedoch ein beobachtendes und gleichzeitig
reflektierendes Einherschreiten, immer wieder zu Staunen und Jubel fähig,
allerdings – auch hier wieder dem Geist der Passacaglia entsprechend – in einem
gezügelten Ton: ein Ausloten des Seins, des eigenen Ichs und seiner Teilmengen
und Verbundenheiten im Gehen.
Überhaupt sollte man Leichtigkeit nicht mit dem
grundsätzlichen Element des Spielerischen verwechseln, wenn man Brôcans Verse
liest. Das Spiel mit der Drei, der Neun oder mit zahllosen Dichotomien (Himmel
– Hölle, Ich – Du, Ruhe – Aufruhr, Leibestod – Auferstehung, Realität – Traum
etc.) gipfelt denn auch mit dem ersten und dem letzten Zeichen der
neunundneuzig Gedichte, die nämlich gar keine Buchstaben sind, auch wenn sie so
gelesen werden wollen. Das Anfangs-O im ersten Gedicht, mit seinem Punkt in
seiner Mitte auch als astronomisches Symbol der Sonne oder gar als weibliche
Brust deutbar, wie auch das Schluss-A im letzten Text, welches in seiner
kalligrafischen Doppelung an eine kryptische Signatur oder ein japanisches
Schriftzeichen erinnert, verkehren gar das Alpha und das Omega miteinander –
als sei das alles so etwas wie ein Hinweis-Spiel um Austauschbarkeiten, Trigger
eines Sich-hermeneutisch-Ausprobierens beim Lesepublikum.
Jürgen Brôcans Gedichte in Gottesdeponie sind
denn auch, abgesehen vom ersten und vom letzten, in anderer Reihenfolge denk-
und lesbar. Sie verknüpfen auf anrührende Weise das Wissen, das Fühlen und die
Traditionen der Kultur(en), ohne mit einem Anspruch an letzten Weisheiten
aufzutrumpfen: „ich weiß noch lange nicht, was es heißt, / an der erde
teilzunehmen. [...] mein weg ist lauter anfänge.“
©
Marcus Neuert, April/Mai 2023