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John Mateer: Drei Gedichte

Gedichte > Lyrik heute
Foto: Daniel Terkl
John Mateer

Drei Gedichte
aus The Ancient Capital of Images (2002)
aus dem Englischen übersetzt von Andreas Schachermayr


Der ferne Norden

Auf dem Asahi-dake

Der Fels ist groß genug, den Wind abzuschirmen, wenn ich mich hinkauere
wie ein Schutz suchender Ureinwohner. Ich tue es.

Und von hier auf dem Asahi-dake blicke ich auf den fernen Gebirgszug
und eine nahe Geröllhalde, wo mit aufsteigendem Rauch
die Erde in den grauen Himmel speit und unaufhörlich gellend laut
wie ein Düsenjet durch die Löcher ihrer Vulkanschlote, ihrer Auslässe heult.

Ganze Industriestädte könnten hier unter dem Schutt begraben liegen,
bis zu ihren Schornsteinspitzen hoch.

Warum lassen Berge das Menschliche immer so klein erscheinen,
uns zu einer Einbildung schwinden?

Ich warte dort, bis der Nebel sich senkt,
wandle dann auf den steinigen Wegen, bis ich mich im Weiß verliere.



Der ferne Norden: In seinem poetischen Reisetagebuch Oku no Hosomichi (Auf schmalen Pfaden in den fernen Norden) berichtet Matsuo Bashō von seiner Reise in den Norden des japanisches Kernlandes im Jahr 1689, bei der er ca. 2400 km zu Fuß zurücklegte.
Asahi-dake: höchster Berg Hokkaidōs mit 2291 m.
The Deepest North

On Asahi-dake

The rock is large enough to block the wind if I crouch down
like a primitive man inventing shelter. I do.

And from here on Asahi-dake my view is of the distant mountain range
and a nearby gravel slope where, with streaming smoke,
the Earth is pouring into the grey sky and howling endlessly
jet-engine harsh through the holes of its volcanic vents, its exhausts.

Whole industrial cities could be buried here under the rubble
right up to the tips of their smokestacks.

Why do mountains always miniaturize the human,
reduce us to an imagining?

I wait there until the mist descends,
then wander the stony paths until I am lost in the whiteness.



Osore-zan

Als ich mich dem Rand des Kratersees näherte, diesem toten Spiegel,
             beobachtete ich meine Existenz hier, dass ich in diesem Niemandsland,
diesem Bardo, auf diesem anderen Berg suchte, was ich verloren hatte.

             Inmitten der hingeworfenen Münzen,
der Jizō-Statuen, schäbig gewandet in der Kleidung totgeborener Kinder,
inmitten ihrer pinken Plastikwindmühlen und unfertiger Stupas
aus losem, grobem Kies

sah ich mein Spiegelbild über dem giftgelben Grund treiben,
über seinen dampfenden, rülpsenden Löchern,
die mit den blanken Bannern des Schwefeldampfs spukten.

Das ist es, was die Erde ungebeten ausgespeit hat:
ein Vorgeschmack auf die Hölle.

Doch in diesem beschwichtigenden Spiegel, der ich bin,
             ist all das bloß die niedergebrannte Ruine vom Haus meiner Mutter,
die Asche meines Vaters, in den Wind gestreut auf einem afrikanischen Berg
in Abwesenheit seiner Familie, das Ödland meiner Kindheit –
Fabriken, schlickig-gelbe Auffangbeckendämme und die einzigen Berge, die ich kannte,
mit Gras bewachsene Abraumhalden.

Was ich sehe ist die Hölle, nichts anderes als Abfall
und seine Geste: Aufgabe.



Osore-zan: „Furcht-Berg“; ein bis 879 m hohes Bergmassiv vulkani-schen Ursprungs auf der Shimokita-Halbinsel im Nordostteil der Präfektur Aomori auf der japanischen Hauptinsel Honshū.
Bardo: Bezeichnung für die nach der Lehre des Tibetischen Buddhis-mus möglichen Bewusstseinszustände, im Diesseits wie im Jenseits.
Jizō: eine besonders in Japan populäre Bodhisattva-Figur. Jizō begleitet die Seelen auf ihrem Weg in die Unterwelt. Jizō ist traditionell der Schutzgott der Kinder, insbesondere der Kinder, die vor ihren Eltern sterben.
Osore-zan

Nearing the edge of the crater lake, that dead mirror,
             I observed my existence here, that in this no-man’s land,
this Bardo, on this, another mountain, I was seeking my lost.

             Among the thrown coins,
the statues of Jizo shabby in still-born children’s clothes,
among their pink plastic windmills and incomplete stupas
of loose gritty stones,

I was watching my reflection drifting over the jaundiced ground,
over its steaming, burping holes,
ghosting through the blank banners of sulphurous smoke.

This is what the Earth has vomited up in unwelcome:
a foretaste of Hell.

Yet in the pacifying mirror that I am,
             all this is merely the melted ruin of my mother’s house,
my father’s ashes cast to the wind on an African mountain
in his family’s absence, the wasteland of my childhood –
factories, pasty yellow tailings’ dams and, the only mountains I knew,
grassed-over minedumps.

What I am seeing is Hell, nothing other than waste
and its gesture: abandonment.



DER HERBST IST ÜBERALL

                                                    Sogar in einer Explosion,
wenn man die richtige Belichtungszeit wählt: die Felssplitter

– Projektile – werden zu wehendem Laub, das einen eisigen Wind schmückt.
Der Herbst ist überall. Der Herbst ist deine abblätternde Haut,

deren Schuppen werden zu Felsbrocken, dargeboten der Linse
eines Elektronenmikroskops, werden zum Futter für Hausstaubmilben,

werden Das Rätsel des Augenblicks:
Wie können Momente, Dinge ein eigenes Dasein führen?

Findet man sie jedoch unter den verstreuten Überresten einer Explosion,
werden die Splitter meiner Eck- und Backenzähne mein Dasein beweisen.

Überall wohin mein Blick sich wendet explodieren die Alleen in Zeitlupe.



AUTUMN IS EVERYWHERE

                                                        Even in an explosion
if you have the right shutter-speed: the shards of rock

– projectiles – will become fluttering leaves decorating an icy wind.
Autumn is everywhere. Autumn is your skin flaking,

those shards becoming boulders offered to the eye
of an electron microscope, becoming food for dust-mites,

becoming the conundrum of The Instant:
How can moments, things, have an independent existence?

Yet, if found among the scattered remains of an explosion,
the shards of my canines and molars will prove my existence.

Everywhere I look the avenues of trees are exploding in slow-motion.


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