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Jörg Neugebauer: Rilkes siebente Duineser Elegie als Leseerlebnis

Diagramme
Rilkes siebente Duineser Elegie als Leseerlebnis

Von Jörg Neugebauer





Es ist eine Eigenheit unserer Zeit, ja unserer Kultur, alle Dinge schnellstmöglich auf den Begriff bringen zu wollen, in der Annahme, sie dadurch genauer zu fassen, in ihrem Wesen womöglich, und ihnen damit erst ihre vermeintlich wahre Bedeutung, oft auch ihren Wert zu verleihen. Die Duineser Elegien Rainer Maria Rilkes beschreiten einen anderen Weg; Sie zeigen und nennen das jeweils Einzelne: das einzelne Bild, den einzelnen, oft spontanen Gedanken, die unmittelbare Empfindung, und setzen diese einzelnen Bilder, Gedanken und Empfindungen miteinander in Beziehung. Weniger logisch durch Zuschreibung von Ursächlichkeiten nach dem Muster "Dies ist so weil..." oder dadurch, dass sie einander entgegengesetzt werden im Sinne von "Das ist dies ODER das". Vielmehr durch poetische Schwingung - indem die Wörter einem Rhythmus folgen und sich lautlich aneinander anlehnen. Das führt zu einem ganzheitlichen Leseerlebnis - sofern man sich als Leser darauf einlässt.

So bilden etwa die Vokale eine Art Klangmuster, einen Lautteppich, auf dem die sprachlichen Bilder und Gedanken aufruhen, aus dem sie zugleich ihre Vitalität und Dynamik schöpfen, zusammen mit dem Sprach-Rhythmus, der das Tempo bestimmt, alles zusammenhält und vorantreibt. Dadurch wird ein Verstehen möglich, das nicht statisch Sachverhalte festschreibt und damit tendenziell auf Dauer verfälscht, sondern - wie angesichts einer Offenbarung - im Fortgang des Textes immer neue "Sekundenwahrheiten" aufblitzen sieht und diese sogleich hinter sich lässt, ohne sie festzuhalten oder zu widerlegen. Es wird nicht "argumentiert" in diesen Gedichten, sondern - so scheint es mir zumindest - der Autor fungiert als das Medium einer geradezu spirituellen Dynamik, die sich weitgehend ohne sein Zutun vollzieht. Indem er also sich völlig zurücknimmt, vermag der Leser dem Text wie dem natürlichen Fortgang des Lebens zu folgen.

"da ist keine Stelle, / die nicht trüge den Ton der Verkündigung."
(Verse 10 f.)

Der sich entwickelnde Text stellt diesen Fortgang dar und macht ihn dem Leser sinnlich erlebbar. Gedanken, sonst in unserer Kultur das, worum alles sich dreht und was vermeintlich alles begründet, fungieren hier mehr als "Gehilfen", als Zuarbeiter unseres "Erlebnisorgans" (von Rilke hier mehrmals als "Herz" bezeichnet), das sich nach außen dem Augenblick öffnet und nach innen der Erinnerung.

Nach "außen" vollzieht sich in der siebenten Elegie ein emphatischer Dialog des erlebenden Ich mit einem Du, das erst als "Geliebte", dann mehrfach als "Engel" angeredet wird. "Engel" steht für ein höheres Bewusstsein, das erlebnismäßig ein Vielfaches dessen verkraften kann, was ein Mensch auszuhalten vermag. In der sprachlichen Hinwendung zu diesem "Engel" wird das Erlebnisvermögen des Ich tendenziell größer, es dockt energetisch an der Sphäre des "Engel" genannten Wesens an.

Die Vielfalt und Intensität, die dem empfindenden Menschen die erlebnishafte Begegnung mit der Welt abverlangt, würde diesen alsbald überfordern, gäbe es nicht die "Geliebte" und nicht den "Engel", mit denen er das Erlebte teilen, denen er davon abgeben, denen er sie "zeigen" kann. Aber nur bis zu einem gewissen Grad. Die Überfülle des Erlebten und Empfundenen kann letztlich nur "innen" bewahrt werden, das heißt in der Sprache, und zwar in einer, die beide, das Ich und die "Geliebte" verstehen.

"Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen." (Vers 50)

Und was sich selbst da nicht sagen lässt - und vieles, viel Schlimmes und Häßliches ebenso wie Wunderbares, Bestaunenswertes bleibt übrig - das kann nur der "Engel" aussprechen, der über ein ungleich höheres Bewusstsein verfügt als der stets auf eine beschränkte, ichverhaftete Perspektive zurückverwiesene Mensch. Und der Engel ist, wenn man so will, viel "belastbarer", nach menschlichen Maßstäben geradezu unendlich "belastbar".

Letztlich macht das Gedicht das Leiden daran erlebbar, dass die sprachlichen, selbst die poetischen Ausdrucksmöglichkeiten des menschlichen Ichs begrenzt sind, ja begrenzt sein müssen, weil anders das Individuum als empfindendes Geistwesen "zerspringen" würde in Anbetracht der Vielfalt des Erlebten und menschlich Erlebbaren.

"mein Atem / reicht für die Rühmung nicht aus." (Verse 76 f.)

In der Zwiesprache mit der "Geliebten" wird etwas geteilt und damit weggenommen von diesem Leiden, das in der Hinwendung zum höheren Bewusstsein des "Engels", der sich freilich jeglicher Indienstnahme entzieht, aber wieder mit voller Wucht einsetzt, ja einsetzen muss, weil die Fülle der Empfindungen und die Dynamik der nicht zu bändigenden Gedanken nach einem zweiten, höheren Ansprechpartner verlangen, der bei Rilke jedoch nicht mehr Gott heißt und nicht mehr so heißen kann.

Der "Engel" steht für eine Sphäre, die energetisch weit über der menschlichen steht, es handelt sich um ein Kraftfeld, dessen Existenz der Autor, Rilke, leibhaftig gespürt haben muss. Die Duineser Elegien geben Zeugnis von seiner Begegnung mit dieser Sphäre, einer existentiellen Begegnung, die Züge auch eines Kampfes trägt, über zehn lange Jahre hinweg. Wir hören in ihnen die Klage und erleben sie mit.


Zuletzt von Jörg Neugebauer: Ach so ich bin ja. Gedichte. München (Black Ink Verlag) 2022. 36 Seiten. 8,00 Euro
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