Jerome Rothenberg: Polen / 1931
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Jan Kuhlbrodt
Jerome Rothenberg: Polen / 1931. Englisch / Deutsch. Übersetzt
von Norbert Lange. Schupfart (roughbooks) 2019. 232 Seiten. 14,00 Euro.
Zu Jerome Rothenberg: Polen 1931
der Gedanke der Geometrie ist wie das Konzeptvon Bärten eine Vorstellung davon wie das Lichtdas auf seine Brillengläser trifft die Bärte dazu bringtvon ihren Gesichtern zu hängen
Jerome Rothenberg ist 1931 in New York geboren. Seine Eltern
waren jüdische Immigranten aus Polen. In den Achtzigerjahren des vergangenen
Jahrhunderts reist er an den Ort der Herkunft seiner Vorfahren. Und er sucht
dort nach den Spuren, die sie hinterlassen haben. Und er beschwört ein Polen
des Jahres seiner Geburt.
Nun hat sich nach ihrer Emigration in Europa, aufgrund
dramatischer Kriege, ausgelöst vom deutschen Nationalsozialismus, einiges
verschoben, jüdisches Leben wurde vernichtet, Sprachen haben sich verloren, und
selbst Polen ist nicht mehr exakt an jener Stelle, an der Rothenbergs Eltern es
verlassen haben. Und es ist natürlich ein anderes Polen geworden als das, das
seine Eltern einst verlassen haben.
Zu jenem vergangenen Polen hatte Rothenberg nie einen direkten Kontakt. Er muss es in Spuren suchen. Der Ethnopoet Rothenberg aber verfügt eben über ethnologisches Knowhow und weiß mit Überlieferungen umzugehen. Schließlich ist er als Sammler derartiger Überlieferungen auch in anderen Kulturen als seiner eigenen dem nachgegangen. Geschichte verfängt sich im Mythos und wird dort als ihr anderes sichtbar.
Der Geist der Vergangenheit ist in ein Leben von Geistern, im Sinn von Gespenstern, übergegangen. Sie lassen sich nicht mehr in klassisch narrativen Strukturen fassen und darstellen. Die Stimmen sind vielfach gebrochen, sie sind vielstimmig geworden, und jede verleiht sich eine eigene Form.
Deshalb kann man die Texte auch nicht auf eine Einheitlichkeit
herunterbrechen: Die Ahnen stammeln und raunen, berichten aber auch nüchtern
karg, oder sie singen. Und das, was sie sagen, taugt nicht zur romantischen
Verklärung, denn die Geschichte, die auch eine von Vernichtung und Vertreibung
ist, schwingt immer mit. Aber sie ist eben auch individuell, spaltet sich auf
in Geschichten.
„eine andere Überlieferung läßt folgendes verlauten: Weißheit in Weißheit und Weißheit, die jede andere Weißheit in sich schließet.“
Vielleicht kann man sagen, dass das, was sich in Europa
verlor, sich in Amerika angereichert hat. Dabei hat es sich aber mit Anderem
vermischt, verändert und auf anderes gewirkt, so dass eine reine Rekonstruktion
des Ausgangsmaterials nicht mehr möglich ist. Aber etwas wirkt im Gegenwärtigen
fort. Winkt herüber.
Rothenberg weiß um die Strukturen und deren Melange, und der
Übersetzer Norbert Lange, der die Texte in ein Deutsch gebracht hat, das sich
wiederum offen zeigt für Einflüsse, zum Beispiel aus dem Jiddischen, ein
Deutsch, dem die irre Version eines sprachlich Reinen fremd ist, weiß ebenfalls
darum. Wenn Walter Benjamin in seinem Text „Von der Aufgabe des Übersetzers“
anmerkt, dass es darum ginge, Sprachen in Kommunikation zu versetzen, dann ist
das in diesem Buch auf grandiose Weise gelungen. Sprachen öffnen sich den
Einflüssen anderer, in jeder finden sich fremde Partikel, die aber auch
gleichzeitig etwas von der Verflechtung historischer Erfahrung berichten.
Wir begeben uns in den Texten also nicht in ein Museum, in
dem wir Exponate in Vitrinen betrachten, mit deren Hilfe eine Realität
bildgenau nachgestellt wird. Es geht um die sprachlichen Sedimente.