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Jennifer Kwon Dobbs: Vernehmungsraum

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Kristian Kühn

Jennifer Kwon Dobbs: Vernehmungsraum. Aufzeichnungen einer Vermissten. Übersetzt von Irina Bondas und Felix Schiller. Berlin (PalmArtPress) 2022. 98 Seiten. 22,00 Euro.

Raum zu vernehmen


Fangen wir mit dem Begriff „Nekrobürger“ an, wie auch immer man ihn vernimmt, er bleibt unklar, ist man als Nekrobürger bereits tot, oder nur totgeweiht, oder einfach schon verschwunden wie ein weichender Schatten, obwohl man noch da ist, und der Wunsch nach etwas Lebendigem erwacht, nach Gestaltwandlung, nach Herumirren, einem Bild der Erinnerung, das wieder lebendig werden soll und nicht ein Phantom bleibt, wenn man ihm begegnet, ein Schatten, ein Simulacrum, die Engländer würden dies vielleicht Spektrum nennen, einer Vielfalt an Erscheinungen entsprechend wie Proteus, eine Urgestalt aus dem Meere, die sich nicht greifen lässt, weil sie im Kampf ununterbrochen ihre physische Form wechselt. Ein Gestaltwandler, die Angst des Gegners suchend, um zu entwischen. Aber Jennifer Kwon Dobbs ist ja Koreanerin und ihrer asiatisch mythischen Welt ganz früh entrissen, in die USA verfrachtet, dort adoptiert.

Doch der Vernehmungsraum weitet sich aus.

Krähen krächzen
in Zeitlupe
verhüllen die Ahnen
Bäume. Ein Junge
häuft braune Blatter
außer Reichweite
während Janes Kamera
den Mord
seziert. Es ist 1948
nach einem Angriff ausgebrannter Grund.
Er sucht Deckung im Braun
improvisiert
aus den Leichen der Nachbarn
versteckt
seine kleine Schwester
in einem ausgeweideten Kuhbauch.
Teilnahmslos
hält ein Panzerwagen der U.S. Army
eine Panoramaansicht fest
überschrieben mit Säuberung.
(S. 18)

Dieses Gedicht – es ist hier nur der Anfang wiedergegeben – spielt im südlichen Korea und ist für Jane Jin Kaisen geschrieben, einer bildenden Künstlerin und Filmemacherin aus dieser Gegend, die aber in Kopenhagen lebt und mit Kwon Dobbs bekannt ist. Denn mit der Ausweitung der inneren Vernehmungen kommen Dinge herüber, aus alten Zeiten, halb erlebten Tagen, sie lassen sich vernehmen oder erahnen, die Magie würde sagen, leg deine Hand auf die Gestalt, und geht sie durch den vermeintlichen Körper hindurch, ist es bloß eine Erscheinung, eine Anhaftung, aber kein Wesen im festen Körper.

Wie kommen die Berliner ausgerechnet auf diese Koreanerin Jennifer Kwon Dobbs? Sie war auch in Berlin, aber das erwähnt sie nicht. Stattdessen wehen Klänge herüber aus einem scheinbar unbedeutenden Ort Kaliforniens, aus einer Kirche dort, der Saddleback Church in Lake Forest, doch ist diese eine baptistische Megakirche, die es – nebenbei bemerkt – auch in Berlin gibt (ERLEBE GOTT GEMEINSAM MIT UNS. UNSERE ONLINE EVENTS VERBINDEN LOBPREIS, GOTTES WORT, GEMEINSCHAFT UND SPASS.)

Ein Gedicht ist ihrer Mutter gewidmet, denn das Kind, aus einem Kasten genommen, schon etwas älter, wird ausgewickelt, „um Gesang zu empfangen“ – die Poesie verbindet die Vorstellungen durch imaginierte Kleidung und durch Geschmack – die Kinder tragen Spitzenschürzen, wenn sie Mädchen sind, und pflegeleichte, baumwollartige Seersucker-Anzüge. Ja. Und es folgt für die Vernehmung, die eine doppelte ist, beidseitig, über Länder, Grenzen, Ideen hinweg: „Nimm Teile, den Geschmack erkennen Ahnen auf Zungen“. So geht der Geschmack und der Gesang, das Feinstoffliche um die Welt, die als solche ein Vernehmungsraum ist, wenn man in dem, was Rudolf Steiner einst Akasha-Chronik nannte, zum Beispiel in Träumen und im Lesen, geübt ist.

Ach ja, die Liebe, zur Heimat:

Postkarte aus dem Nördlichen Korea
Internationale Freundschaftsausstellung

Du willst dich stürzen auf die Wachsfigur von Kim Il Sung,
sein Plastikwild, blaue Drosseln. Die Büsche verstecken
Industrieventilatoren, und surrend konservieren sie
das Geschenk des Volkes, zum Fleischimitat gesprüht.
Stattdessen verneigst du dich. Du Fremde legst Kränze nieder,
Blumensträuße und erweist an den Bronzefüßen dem Großen
Führer und dem Geliebten Führer die Ehre. Was begehrst du,
tiefer vorgedrungen ins Innere
deiner Verachtung, gekleidet in Flip-Flops und Shorts,
und wo kein Licht eindringen darf oder Staub?
(S. 23)                          

Immer wieder geht Jennifer Kwon Dobbs in ihren Gedichten von Körpern aus, nicht Bildern oder Schemen, sondern vermeintlich leibhaftigen. 1919 zu Beginn des Buches „Vernehmungsraum“ sollen sie im Gefängnis Stöpsel in die Ohren geschoben bekommen, geknüllte Schnipsel, darauf die zusammensetzbare Unabhängigkeitserklärung Koreas, gegen die „Imperialismusmaschine“ Japans, die die „Amerikaner später bewunderten“, dieses „Panoptikum“, „koloniale Körper zu verwalten“, - eine Frau unter dem „Blick ihres Wächters“. Offenbar gebiert sie, aber die Seelen werden verpflanzt, sodass die Verwurzelung der Körper verloren ist.

„Die Flügel verpflanzen Seelen, wo ein Verwurzeln war, Saugen. Bemutter, in Einzelhaft, jedes bekannte Leben seit Geburt aus der Steißlage. Vermehre dein Selbst als ein Weigern, geständig zu sein. Bruder Stille, bleiche Schwester, graue Blüten im Haar warten auf die Rückkehr der Liebe. (Gefängnis, S. 13)“

Offenbar wird in diesem Gefängnis (in Seoul) 1919 die Mutter geboren. Was gleich dabei auffällt, viele Augen beobachten die Körper, sie wollen sich – den Gedichten gleich, entziehen, nicht fassbar sein. Zerstreuen die Informationen in verschiedene Ebenen, Bereiche, Ohren. Die Vernehmung im Raum ist also rückläufig, wer sie liest oder vernimmt, muss sie sammeln und entrollen, entstöpseln.

Was meint sie aber mit den Flügeln und der Liebe? Das führt zu den zwei Dingen, die ich noch erwähnen möchte: eine latente Abneigung gegenüber allem Geschlechtlichen, als habe die evangelikale Kirchenbetreuung in den Kindertagen von Kwon Dobbs ganze Arbeit geleistet, sowie die glänzende Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Irina Bondas, der gebürtigen Ukrainerin, die in Berlin lebt und Dolmetscherin und Politikwissenschaftlerin ist. Der Mitübersetzer Felix Schiller, selber auch Lyriker, koordiniert ansonsten Literaturprojekte und arbeitet in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des LCBs.

Man müsste ein weites Feld aufmachen, um dieses Buch genau zu beschreiben und auf die Hintergründe einzugehen. Die japanische Besatzung 1905, nach dem Weltkrieg die amerikanische Militärregierung im Süden, die Zweistaatenteilung 1948, den Ausbruch des Koreakriegs 1950. Kwon Dobbs Mutter, die im US-Bordell arbeitet, die Sexualhygiene der GIs, der leibliche Vater, die Adoption. Herausgerissen aus der ostasiatischen Tradition, dann ihre evangelikale Erziehung, und doch inspiriert von dem traditionell orientierten römischen Philosophen Giorgio Agamben und dessen Untersuchung souveräner Macht und seiner Beschäftigung mit „Nekropolitik“ als einer Machtausübung, die über das Leben der Anderen bestimmen will, wer wie leben darf, und wer wie sterben muss, einer Kontrolle über die Sterblichkeit, deshalb wandte Agamben sich ja auch vehement gegen die staatlichen Maßnahmen zur Covid-Zeit.

Kwon Dobbs studierte Englisch, Poesie und Literatur an der Universität von Pittsburgh und kreatives Schreiben an der Universität von Südkalifornien. 2007 erscheint von ihr in der White Pine Press das (bis jetzt nicht ins Deutsche übertragene) Buch Paper Pavilion, 2018 folgt ebenso in der White Pine Press der Interrogation Room, der seit letztem Jahr nun auch auf Deutsch vorliegt. Auch gibt es von der Dichterin noch zwei Chapbooks, der Essay Notes from a Missing Person (2015), der im Journal of the Motherhood Initiative und anderswo erschienen ist, und das Bielefelder hochroth-Bändchen Nekrobürger, das in einer englischen und einer deutschen Fassung seit 2018/9 vorhanden ist. Dieses Heft beschäftigt sich primär mit den Umständen ihrer Geburt, der Kellerbar in Camp Long, in der sie beim „Rumvögeln“ der Mutter gezeugt wurde, einer anschließenden „Waisenrettung“, usf.:

„Während deine Mutter in der Kantine Wiener Würstchen aus der Dose würfelt, befindest du dich in Gesellschaft von Soldaten, die dich Scoot nennen, weil du auf einem Drehstuhl sitzt und dich testend mit den Fersen abstößt. Du bist zwölf.“

Dieses Chapbook, herausgegeben von Johanna Domokos für die Reihe Translingual, wurde von Catharina Krallmann und der Gruppe B(ie) übersetzt, ist der oben erwähnten Jane Jin Kaisen gewidmet und stilistisch direkt und in den Erlebnissen real beschrieben, sprich filmischer. Es entspricht ihrer Suche nach ihrer verlorenen Vergangenheit, die man schlaglichtartig in ihren Gedichten beim Lesen selber wie ein Puzzle zusammenzusetzen versucht, ist aber rudimentärer und weniger poetisch. Insgesamt kann man sagen, Kwon Dobbs gelingt mit ihrer Suche ein innerer und äußerer Vernehmungsraum, der gleichzeitig Orte und Zeiten aufmacht und miteinander verknüpft, dabei prägende Eindrücke und Szenen hinterlässt, die zur Zerstreuung und Wiedervereinigung der als Nekrobürger behandelten Familie geführt haben.


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