Jean Daive: ward gebaut
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Jan Kuhlbrodt
Gesetz und Grammatik
Zu den Gedichten von Jean Daive in der Übersetzung Werner
Hamachers. Erschienen als Roughbook 047.
anders nie Gründe gepflanzt
Diesen Texten muss man sich langsam nähern. Ich hatte es
zuerst versucht, wie ich es bei anderen auch mache, und bin hineingesprungen,
an einer beliebigen Stelle, denn meist findet sich im Fluiden etwas Festes.
Nicht so hier, ich prallte ab, und wurde, so wie ich hineinsprang, wieder
hinauskatapultiert. Dennoch blitzte in diesen Situationen etwas Bemerkenswertes
auf, das ich für den Moment nicht einordnen konnte. Etwas changierte zwischen
Schönheit und vielleicht Wahrheit oder Erkenntnis. Natürlich gebe ich ohnehin
nicht vorschnell auf und kapituliere nicht vor Texten, warum auch, man braucht
vielleicht eine Weile, doch dann, wenn sie sich erschließen lassen, erfährt man
zumeist eine Genugtuung für die sich jeder Aufwand lohnt. Es ist ähnlich wie
beim Übersetzen, dass sich in einem Nebel eine Struktur abzeichnet. Und man
kann sich ja auch Hilfe holen.
Das war im vorliegenden Fall allerdings etwas schwierig,
denn die mir zuganglichen Texte des Übersetzers Werner Hamacher erwiesen sich
ähnlich kompliziert wie die von Daive selbst.
„Diese Grenzen, Küsten, Gestade, sie sind Brandungen, die Gischt, in der die eine das andere trifft, es entfacht, aufweht, verwirbelt und löscht, die Brandung. Wo es diesen Rand und diese Brandung gibt, nur da wird in der einen von der anderen gesprochen, in der einen mit der anderen geredet, das eine mit der anderen verzehrt.“
schreibt Hamacher in seinem Daive gewidmeten Essay
„Brouillon zu einer Phantasie über Feuer und Sprache“.
Und vielleicht sind wir genau hier im Zentrum von Daives
Dichtung. Es ist die Suche nach dem Moment, wo Entstehung und Vergehen ineinandergreifen,
wo in Babel mit der Hybris des Turmbaus die Ursprache in die Erinnerung
verbannt wird und zugleich das Gewirr an Sprachen und Dialekten freisetzt, das
Verstehen zwar erschwert, aber es zugleich so unglaublich lustvoll macht. Und
niemals kann man sich darauf verlassen, dass es gelingt, aber auch niemals darf
man vom Misslingen ausgehen. Denn Sprache will verstanden sein, kommuniziert
werden, und manchmal verhindert der Ausdruck unmittelbares Verständnis.
Das Aug'ist zerfressen vom Rattenblickbis in den Abgrund(Gesetz)
Das ist eine Strophe des Gedichtes „Universalien“, das sich
im ersten Drittel des Bandes befindet. Sie hat sich in mein Gedächtnis
eingebrannt und das vage Bild hat meine gesamte Lektüre begleitet. Begleitet
sie noch, denn die Beschäftigung mit diesem Dichtwerk ist für mich noch lange
nicht abgeschlossen, und vielleicht hängt dieser Strophe in ihrer verstörenden
Direktheit und diesem zerstörerischen Bild etwas Programmatisches an.
Programmatisch nicht nur für diesen Band, sondern für Texte überhaupt, die man
so gerne als hermetische etikettiert. Man kann das bei Cacciari nachlesen,
dessen Buch Ikonen des Gesetzes wir unlängst hier vorgestellt haben. Und
das mir Daives Gedichte erhellt, wie ich durch die Gedichte selbst noch einmal
einen Zugang zu Cacciari gefunden habe.
Moses hat die Gesetzestafeln empfangen, um sich in der
unübersichtlichen Welt zurechtzufinden. Sie sind zugleich Grenze vom und auch
Pforte zum Abgrund hin. Und auf dieser und mit dieser Grenze spielen Daives
Gedichte.
das Wort das der Tod in den Mund mir gelegttut sich auf zu Gesichtenunerschöpflchvon unter dem Stein
Jean Daive: ward gebaut. Französisch / deutsch. Übersetzt
von Werner Hamacher. Aus dem Nachlass herausgegeben von Urs Engeler. Schupfart
(roughbook 047) 2019. 178 Seiten. 18,00 Euro.