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Jan Kuhlbrodt: Zwei Interpreten - Gadamer und Szondi

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Jan Kuhlbrodt

Zwei Interpreten
Gadamer und Szondi


Vielleicht kann und sollte davon ausgegangen werden, dass es zumindest in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, also in der Zeit unmittelbar nach der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus in den Fünfziger- und Sechzigerjahren zumindest zwei gegensätzliche Interpretationsstränge in der Celanrezeption gab, die sich parallel zu seinem Werk formierten. Zum einen gab es den Strang, der sich aus der unmittelbaren Bedrohung durch den Faschismus und aus den Erfahrungen im Exil  herausgebildet hatte. Ein Zweig für den Peter Szondi steht, der selbst - wie auch seine Familie - Lagererfahrung gemacht hatte und dem, wie ein Wunder, die Flucht in die Schweiz gelang. Auch zeugen seine Celan-Studien von einer gewissen biografischen Nähe. Das Faszinierende daran aber ist, dass Szondi sich in einem wesentlich direkteren Sinne den Texten Celans selbst aussetzt:

„daß es unmöglich wird, zwischen dem, der liest und dem, was er liest zu unterscheiden; das lesende Subjekt fällt zusammen mit dem Subjekt des gelesenen Gedichts.“

Was Szondi hier im Zusammenhang mit seiner Analyse des Gedichtes „Engführung“ in seinem Text: „Durch die Enge geführt. Versuch über die Verständlichkeit des modernen Gedichts“ schreibt, erhebt zumindest, was den Titel des Aufsatzes betrifft, einen Anspruch über das konkrete Gedicht Celans hinaus. Szondi modelliert den Gegenstand nicht als ein Gegenüber, sondern als sprachliche Landschaft, in der sich der Leser verbracht sieht. Der- oder diejenige, der oder die liest. wird in die Sprache gesetzt. Wird ein teilnehmender Teil:

„Mit anderen Worten: die Gräser sind zugleich Buchstaben, und die Landschaft ist Text. Nur weil das Gelände / mit der untrüglichen Spur (auch) Text ist, kann der Leser sich dorthin verbracht finden. „ (Peter Szondi. Schriften II. S. 347)

Dies fordert dem Leser und der Leserin einiges ab. Er oder sie kann sich dem Text, mit Verweis auf Tropik, nicht entziehen.

„Denn keineswegs wird die Fiktion der Textualität, der Dichtung aufgegeben zugunsten der Wirklichkeit. Nicht die rezeptive Passivität des Leser-Zuschauers soll schwinden vor der angeblich realen Aktion, dem Engagement. Im Gegenteil: der Text als solcher weigert sich, weiter im Dienst der Wirklichkeit zu stehen und die Rolle zu spielen, die ihm seit Aristoteles zugedacht wird. Die Dichtung ist nicht Mimesis, keine Repräsentation mehr, sie wird Realität.“ (a.a.O. S. 348 f.)

Zuweilen verlangt es eben auch das Aufgeben der eigenen Position in ein  Ungesichertes hinein, beziehungsweise die Konfrontation mit der eigenen Versehrtheit einerseits und aber auch mit der eigenen Verstricktheit.

Ganz anders sieht sich Hans-Georg Gadamer den Texten Celans konfrontiert. Gadamer, der Heidegger-Schüler war und nach der Niederlage Deutschlands aufgrund seiner Minimalverstrickung zum Rektor der Universität Leipzig berufen wurde, entzog sich bald der sowjetischen Einflusssphäre Richtung Westzonen und wurde Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt a.M., derweil Szondi in den Sechzigern an der FU Berlin lehrte und die Komparatistik aufbaute.

Gadamer setzt sich in seinem Buch „Wer bin Ich und wer bist Du?“ intensiv mit Celans Gedichtzyklus „Atemkristall“ auseinander. Er nähert sich interpretierend, Text für Text dem Celanschen Opus. Allerdings bleibt er ihm äußerlich und versucht, die Texte mit tradierten Mittel zu erschließen. Er nennt das Entzifferungsversuche, als trügen die Texte eine verschlüsselte und verborgene Botschaft in sich, und am Lesenden sei es, diese zu erschließen.

Gadamers Haltung dabei bleibt eine überlieferte, die sich über den Text beugt; und Schritt für Schritt übersetzt in eine Sprache, die dieser Haltung angemessen ist. Erkenntnis soll in Kenntnis überführt werden, und sie wird damit handhabbar, aushaltbar.

Sehr spannend wird das Buch Gadamers, wenn er im Nachwort auf das Gedicht „Du liegst“* eingeht. Ein Gedicht, das im Zusammenhang eines Berlinaufenthaltes Celans entstanden ist und den Blick aus dem Hotelzimmer mit der Erinnerung an den Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht engführt. Entstanden ist der Text Celans am 22./23. 12. 1967. Gadamer macht hier einen Informationsvorsprung Szondis, der Celan in der Entstehungszeit in Berlin begleitete, geltend.

„Schwerlich wird ein allgemeines Informationsmittel unter dem Stichwort „Landwehrkanal“ jenen schrecklichen politischen Mord vom Januar 1919 verzeichnen. Wie kommt ein Leser weiter?“

Doch die Informationen, die Gadamer anführt, sind (vielleicht inzwischen, also nachdem die nationalsozialistische Verzerrung der Geschichte zumindest ansatzweise aufgehoben wurde) Allgemeingut. Das Gedicht wirkt im Diskurs. Und so hat sich die Verständnismöglichkeit seit dem Erscheinen von Gadamers Text verschoben.



* DU LIEGST im großen Gelausche,
umbuscht, umflockt.

Geh du zur Spree, geh zur Havel,
geh zu den Fleischerhaken,
zu den roten Äppelstaken
aus Schweden –

Es kommt der Tisch mit den Gaben,
er biegt um ein Eden –

Der Mann ward zum Sieb, die Frau
mußte schwimmen, die Sau,
für sich, für keinen, für jeden –

Der Landwehrkanal wird nicht rauschen.
Nichts
           stockt.


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