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Jan Kuhlbrodt: Zu Heideggers Bestimmung des Wesens der Wissenschaft

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Jan Kuhlbrodt

Zu Heideggers Bestimmung des Wesens der Wissenschaft


In dem Aufsatz "Die Zeit des Weltbildes" geht es Heidegger darum, das Wesen der neuzeitlichen Wissenschaft zu bestimmen. Er ordnet sie einem Komplex von Sachverhalten zu, die seiner Meinung nach prägend für die Neuzeit im Allgemeinen sind. Sichtbarsten Ausdruck finde sie in der Maschinentechnik, welche nicht bloße Anwendung der mathematischen Naturwissenschaft sei, sondern diese, als die ihr wesentlich Vorausgehende, erfordere.

"Die Maschinenfabrik bleibt der bis jetzt sichtbarste Ausläufer des Wesens der neuzeitlichen Technik, das mit dem Wesen der neuzeitlichen Metaphysik identisch ist."[1]

Die Setzung dieser Identität beschreibt sogleich eine der Kernaussagen Heideggers. Sie ist das Motiv, das dem weiteren Gang der Argumentation unterliegt und gleichzeitig eine seiner Grundvoraussetzungen. Gleichwesentliche Erscheinungen seien Ästhetik: "das Kunstwerk wird zum Gegenstand des Erlebens und demzufolge gilt die Kunst als Ausdruck des Lebens der Menschen."[2]; Kultur als Verwirklichung der obersten Werte durch Pflege der höchsten Güter; und schließlich "Entgötterung" als Transformation der christlichen Religion zur Weltanschauung.
    Heidegger setzt das Wesen der neuzeitlichen Wissenschaft als radikal verschieden von dem der Antike und dem des Mittelalters ab. Diese Verschiedenheit sei der Grund für deren Unvergleichbarkeit.

"Wollen wir daher das Wesen der neuzeitlichen Wissenschaft begreifen, dann müssen wir uns zuvor von der Gewohnheit befreien, die neuere Wissenschaft gegen die ältere lediglich gradweise, nach dem Gesichtspunkt des Fortschritts abzuheben."[3]

Wesentliche Charakteristika der neuzeitlichen Wissenschaft sind nach Heidegger Forschung, Verfahren und Betrieb. Forschung meint in diesem Zusammenhang ein Eindringen in den Bereich des Seienden. Es wird sich nicht mehr mit der Anschauung begnügt. Um Erkenntnisse zu gewinnen, wird das Seiende selbst bewegt. Dies vollzieht sich nach einem Entwurf des Seienden. Der Gegenstandsbereich würde theoretisch vorweggenommen und würde somit zur Grenze des zu Untersuchenden.

"Wissenschaft wird zur Forschung durch den Entwurf und die Sicherung desselben in der Strenge des Vorgehens. Entwurf und Strenge aber entfalten sich erst zu dem, was sie sind, im Verfahren."[4]

Im Verfahren sei die Möglichkeit begründet, das Mannigfaltige der Natur zu erfassen, indem es Regel und Gesetz subsumiert wird. Erst in der Feststellung durch Regel und Gesetz würden die Tatsachen als solche klar. Indem Unbekanntes auf Bekanntes zurückgeführt würde und dabei Bekanntes bewährt, kommt es zur Erklärung. Dieses sei die hauptsächliche Beschäftigung der neuzeitlichen Wissenschaft. Dieser Prozess vollziehe sich in der Naturwissenschaft über das Experiment. Dabei wird dem Versuch das aus dem Grundriss der Natur entfaltete Gesetz zur Bestätigung unterlegt. Das Experiment der Naturwissenschaft korrespondiere der Quellenkritik der historischen Wissenschaften.

"Im ständigen Vergleichen von allem mit allem wird das Verständliche herausgerechnet und als der Grundriß der Geschichte bewährt und befestigt. Nur soweit die historische Erklärung reicht, erstreckt sich der Bezirk der historischen Forschung. Das Einzigartige, das Seltene, das Einfache, kurz das Große in der Geschichte ist niemals selbstverständlich und bleibt daher unerklärbar."[5]

Indem die Historie das Große zur Ausnahme erkläre, würde es zwar im Kontext eines historischen Wirkungszusammenhanges gesehen, aber nicht verstanden. Was Heidegger an dieser Stelle mit dem Großen meint, ist nicht ganz einzusehen, schreckt aber die Imagination. Er bringt kein Beispiel, und allgemeine Erklärungen sind laut seiner eigenen Aussage ohnehin nicht möglich.
    Das Problem, das ich an dieser Stelle kurz verdeutlichen möchte, ist folgendes:
   Bei der Lektüre Heideggers wird sichtbar, dass viele seiner Begriffe nur grob bestimmt sind, verschwommen bleiben. Aber nicht im Sinne einer dialektischen Arbeit des Begriffes, sondern eher im Meinen einer festen Bedeutung. Es besteht ein Begriffsgitter, und die Begriffe haben einen nur geringen Spielraum und bleiben dennoch weitgehend vage. Nun kann man das für ein literarisches Mittel halten oder einen Mangel des Gedankens. Beides ist gleichermaßen fatal. Das oben angesprochene Große, das von Heidegger schlecht abstrakt bestimmt wird, wird (oder soll?) vom Leser selbst gefüllt (werden). Dies erhält bittersten Beigeschmack, wenn man das Entstehungsdatum der Schrift kennt. Der Text geht auf einen Vortrag vom 9. Juni 1938 zurück. Angesichts dieses Datums ist nur unschwer vorzustellen, was sich zumindest die übergroße Mehrheit des Auditoriums unter dem Großen der Geschichte vorstellte.[6]
   Aus der notwendigen Umgrenzung des Gegenstandsbezirkes jeder Forschung begründet Heidegger die Notwendigkeit des Betriebes derselben. Der Betrieb sei dadurch gekennzeichnet, daß sich auf Grund der abgegrenzten Forschungsbereiche die Spezialistik herausbildet. Es kommt zur Institutionalisierung der einzelnen Bereiche, wodurch sie in das Seiende eingebaut werden. Durch Institutionalisierung objektivieren sie sich als Wissenschaftsbereiche, und der Forscher, der den Gelehrten ablöst, wird den Instituten untergeordnet.

"Der Forscher braucht zu Hause keine Bibliothek mehr. Er ist überdies ständig unterwegs. Er verhandelt auf Tagungen und unterrichtet sich auf Kongressen. Er bindet sich an Aufträge von Verlegern. Diese bestimmen jetzt mit, welche Bücher geschrieben werden müssen."[7]

Die Veränderung des Charakters des Forschers und der Forschung erklärt Heidegger also mit der Unterordnung unter den Betrieb, den er nicht negativ bewertet wissen will. Er sieht darum in ihm auch die Zurückstellung des partiellen Interesses zugunsten des gemeinen Nutzens und mithin eine Chance, Individualismus zu überwinden. Der Forscher wird in diesem Prozeß anonymisiert. Die Ergebnisse seiner Arbeit erscheinen als Produkte der Institution.[8] Er selbst muß sich dieser beugen und ihren Erfordernissen unterordnen. Heidegger beschreibt Forschung wie eine Maschinerie. Indem sich ein Verhältnis, zum Beispiel das der Arbeitsteilung, in Instituten objektiviert, scheint es sich von den in ihr Beschäftigten zu emanzipieren. Die Vergegenständlichung des Vermögens der Tätigen in der Maschinerie macht sie austauschbar.
    Die Angst aber, die diese Austauschbarkeit birgt, liegt nicht in der Maschinerie, sondern in den sozialökonomischen Verhältnissen, die sich in sie einschreiben, und für die Heidegger kein Interesse zu haben scheint, in denen aber der Schlüssel zum Verständnis der Gestalt von Forschung und Arbeit liegt. Die Ökonomisierung der Forschung wird von Heidegger zwar bemerkt, zum Beispiel durch den Verweis auf das Verlagswesen, ist für ihn aber nur Ergebnis neuzeitlicher Metaphysik und somit nicht Gegenstand näherer Betrachtung. Heidegger erliegt somit dem Warenfetischismus, in dem er die Strukturen der Tauschgesellschaft nicht in den von ihr geprägten Bereichen, unter anderem eben auch in der Forschung, erkennt und sich nur auf der Ebene der Phänomene bewegt.
    Die Charakterisierung der neuzeitlichen Wissenschaft durch Heidegger mündet darin, dass sie das Seiende dem Vorstellen verfügbar mache. Die Verfügbarkeit äußert sich in der Berechen-barkeit.

"In der Vorausberechnung wird die Natur, in der historischen Nachrechnung wird die Geschichte gleichsam gestellt, Natur und Geschichte werden zum Gegenstand des erklärenden Verstandes."[9]

Dieser Prozess der Vergegenständlichung sei gekennzeichnet durch ein "Vor-stellen", was Heidegger im Sinne eines Vorsichbringens versteht, derart, daß der vorstellende Mensch die Natur oder die Geschichte in einer Gestalt betrachtet, die Berechnung zuläßt.
    Die Forschung habe nun ihren Grund im Wesen der Neuzeit überhaupt. Dieses Wesen sei gekennzeichnet durch die Metaphysik, die auf Descartes zurückgehe. Mit Descartes werde 'der Mensch' zum Subjekt, das Subjektive trete seine Herrschaft an. Subjektivierung bezeichnet nach Heidegger den Prozess der Verfertigung von Weltbildern, der eintritt, nachdem 'der Mensch' sich aus der Verbindlichkeit der christlichen Offenbarungswahrheit befreit habe. Das Wesen der Freiheit "d.h. der Bindung in ein Verbindliches"[10] werde neu gesetzt. 'Der Mensch' setze fortan selbst die Verbindlichkeiten, weshalb derer verschiedene möglich sind, und das resultierende Chaos ein Zeitalter der Bewältigung nötig mache.[11] In den Weltbildern bestimme das Subjekt selbst seinen Platz.

"Der Mensch stellt die Weise, wie er sich zum Seienden als dem Gegenständlichen zu stellen hat, auf sich selbst. Jene Art des Menschseins beginnt, die den Bereich der menschlichen Vermögen als den Maß- und Vollzugsraum für die Bewältigung des Seinden im Ganzen besetzt."[12]

Aus diesem Gedanken wären Totalitätsansprüche als notwendige abzuleiten und die Grauen von Krieg und Vernichtung aus der Kennzeichnung der Neuzeit und der Notwendigkeit der Bewältigung des Chaos zu begründen. Heideggers Stellung zu Krieg und Vernichtung kann gekennzeichnet werden als bedauernde Einsicht in die eherne Notwendigkeit des Krieges, die erst überwunden ist, wenn sich ein einheitsstiftendes Prinzip, nach Überwindung der Metaphysik, durchgesetzt hat. Hier findet er sich in der Nähe Carl Schmitts, der im Parlamentarismus ein solches Chaos sieht und auch auf die Bewältigung durch ein einheitliches Prinzip baut.[13]  Sowohl Heideggers als auch Schmitts Chaosvorstellungen gehen wohl auf die Erfahrungen mit der Weimarer Republik zurück und beide sehen zeitweise im Hitlerfaschismus einen solchen Weg zur Bewältigung, der die Nation an ihre 'natürlichen' Wurzeln erinnert und an diese sie bindet.
    Wenn die Welt zum Bild werde, werde die Weltbetrachtung zur Weltanschauung.
    Unter den verschiedenen Weltanschauungen, welche vielmehr Lebensanschauungen seien, da sie kein passives Beobachten bedeuteten, wird ausgefochten, welche zur Geltung gelange. Da die Weltbilder subjektiv, d.h. von Menschen oder Völkern gemacht seien, gibt es keine Kriterien zur Bestimmung der Wahrheit. Diese würde zurückgenommen in die Weltbilder selbst, als Gewißheit der Vorstellung. Wahrheit würde auf dieser Ebene das als wahr Behauptete. Somit würde nur das als seiend begriffen, was in den jeweiligen Weltbildern zur Vorstellung komme. In diesem Sinne gehe Sein und Wahrheit verloren.
    Heidegger erklärt die Neuzeit lediglich aus der Form des Denkens, die sich mit Descartes so grundlegend verändert habe. Warum diese Änderung eintrat, wird nicht untersucht, im weiteren vielmehr als Schicksal behandelt.
    Die oben genannte Seinsvergessenheit ist dann auch der hauptsächlichste Kritikpunkt an der Neuzeit. Ihr zu entgehen, erfordere Besinnung. Es gehe darum, das 'eigentliche' Wesen der Neuzeit zu erfassen, um dem Denken ein neues Fundament zu geben. Es geht mithin um die Überwindung abendländischer Rationalität im Sinne ihrer Abschaffung.
   Heidegger entwirft aus Philosophemen ein Bild der Neuzeit, ohne auf zugrundeliegende ökonomische und soziologische Strukturen auch nur einzugehen. Wo sie ihm begegnen (z.B. im Verlagswesen), werden sie positivistisch hingenommen.
     So gelingt es ihm nicht, die Dialektik zu erkennen, die dem Prozess der Aufklärung immanent ist. Er kann sie nur nach der Seite der formalen Rationalität hin bestimmen und nicht zum Verhältnis von Regression und Fortschritt gelangen, wie es bei Adorno beschrieben wird. Was bei Letzterem als immanente Widersprüchlichkeit erscheint und die Entsprechung von Technik und Wissenschaft begründet, fasst Heidegger als ein beiden äußerlich zugrundeliegendes Geschick.




[1] Die Zeit des Weltbildes, S.73.
[2]  ebd.
[3] Die Zeit des Weltbildes, S. 75.
[4]  Die Zeit des Weltbildes, S. 77.
[5]  Die Zeit des Weltbildes, S. 81.
[6]  cf. hierzu auch Heideggers Begriff der "Entschlossenheit" in "Sein und Zeit".
"Der Entschluß ist gerade erst das entschließende Entwerfen und Bestimmen der jeweiligen faktischen Möglichkeit. Zur Entschlossenheit gehört notwendig die Unbestimmtheit, die jedes faktisch-geworfene Sein-können des Daseins charakterisiert. Ihrer selbst sicher ist die Entschlossenheit nur als Entschluß. Aber die existenzielle, jeweils erst im Entschluß sich bestimmende Unbestimmtheit der Entschlossenheit hat gleichwohl ihre existenziale Bestimmung." M. Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1953, S.298.
 Heidegger wirft der neuzeitlichen Wissenschaft vor, die Dinge nicht zu verstehen, und behauptet, er würde es, indem er die Unbestimmtheit in seine Bestimmung aufnimmt. Solches Vorgehen suspendiert den Begriff von der Anstrengung und bestätigt, gerade in diesem Punkt, blinden Aktionismus. Wer diesen am Ende der Weimarer Republik vertrat und was daraus wurde ist bekannt.
[7] Die Zeit des Weltbildes, S. 83.
[8]  Hier springt die Parallele zur kapitalistischen Organisation der Produktion, wenn man sie denn beachten will, ins Auge. Auch hier erscheint das Produkt des Arbeiters als das des Eigentümers. Allerdings setzt solches Verständnis einen Begriff von Eigentum voraus, der Heidegger so fremd ist, wie das Sein unbestimmt.
[9] Die Zeit des Weltbildes, S. 85.
[10]  Die Zeit des Weltbildes, S. 105.
[11]  Fraglich ist in diesem Zusammenhang, wer vorher Verbindlichkeiten setzte. Die der Offenbarungswahrheit müßten Heidegger zufolge dann durchaus von Gott kommen, da von klerikalen Mächten so behauptet. Allein dies ist fraglich. Entgegenzusetzen wären Analysen, die gesellschaftliche Verbindlichkeiten aus der Form der gesell-schaftlichen Auseinandersetzung mit der Natur ableiteten.
[12]  Die Zeit des Weltbildes, S. 90.
[13]  "Vor einer, nicht nur in technischen, sondern auch im vitalen Sinne unmittelbaren Demokratie erscheint das aus liberalen Gedankengängen entstandene Parlament als eine künstliche Maschinerie, während diktatorische und zäsaristische Methoden nicht nur von der acclamatio des Volkes getragen, sondern auch unmittelbare Äußerungen demokratische Substanz und Kraft sein können." Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 1926, S 22 f.
 Die von Schmitt geforderte Unmittelbarkeit der Machtausübung und des Zugehörigkeitsgefühls zum Volk korrespondiert Heideggers Kritik an der neuzeitlichen Wissenschaft, die Unmittelbarkeit verhindere und somit einer Maschinerie wie dem von Schmitt charakterisierten Parlament gleichkommen müßte.


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