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Jan Kuhlbrodt: Gedanken an Semjon Hanin

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Jan Kuhlbrodt
Schwankende Böden

Vor einigen Jahren, vor der Pandemie jedenfalls, war ich bei einer Arbeitswoche in den Edenkobener Weinbergen, um ge-meinsam mit lettischen und deutschen Autoren an der Übersetzung von Gedichten zu arbeiten. Wir begaben und in die fremden Texte und versuchten deutschsprachige Versionen dieser Gebilde zu erstellen.
Unter den lettischen Kollegen war unter anderen auch der Dichter Semjon Hanin, mit dem ich mich auf eine eigenwillige Art verbunden fühlte. Semjon schreibt seine Texte auf Russisch, vielleicht kam daher diese besondere Verbindung, weil ich aufgrund meines sozialistischen Schulrussisch jedes zwanzigste Wort verstand, und sich mir ein akzentbelegter Sprachklang aus den kyrillischen Lettern der Originale entbarg. Vielleicht aber verstanden wir uns auch jenseits der Sprachen als Menschen einfach gut, denn mich überkommt noch immer eine eigenwillige Wärme, wenn ich an Semjon denke.
 
        Glücklicherweise ist vor einiger Zeit eine recht umfangreiche Auswahl seiner Gedichte in der Edition Korrespondenzen erschienen. Auf großartige Weise übersetzt von Anja Utler. Der Band heißt „aber nicht damit“.

Und in diesen Texten begegne ich einer Besonderheit wieder, die ich in Edenkoben auf wundervolle und teilweise auch schmerzhafte Weise zu spüren bekam, denn sie sind mindestens doppelbödig, was sich in meinem Fall darin äußerte, dass ich bei einem öffentlichen Vortrag, in dem ich meine Version eines seiner Gedichte las, während ich das Gedicht, dieses zu aller erst verstand, und dieses Verstehen in mir für eine enorme Heiterkeit sorgte, und ich nur mit Mühe verhindern konnte, in ein lautes Lachen auszubrechen.
     Das Gedicht handelte von Raumfahrt, und ich war derart von den technischen Details gefesselt, dass ich die sexuellen Konnotationen, die es barg, vollkommen übersehen hatte. Dennoch hatten sie sich auf gespenstische Weise in den deutschen Text geschmuggelt und ploppten mir plötzlich auf, als hätte ich den überreifen Fruchtkörper eines Springkrauts berührt. Das lag natürlich weniger an meiner Übersetzung als an der Kraft des russischen Textes.

Utlers Übersetzungen sind wesentlich souveräner als meine hilflosen Versuche, und die Texte wirkten darum in ihren Versionen umso verblüffender. Sie enthüllen zuweilen historische und politische Absurditäten des Alltags.
       Als Leser bewege ich mich auf dem schwankenden Boden dessen, was wir Realität zu nennen gewohnt sind. Und manchmal bremst sich beim Lesen ein Lachen aus an der Wirklichkeit, um kurze Zeit später als befreites erneut auszubrechen. Grandios!
 

v.l.n.r. Hanins Buch von 2021 / Semjon Hanin (Foto: Aleksejs Belecki) / Die "Poesie der Nachbarn:
Lettland"-Anthologie von 2016
Anmerkung der Redaktion:
Es handelte sich dabei um eine Lesereise im Oktober 2016
»Poesie der Nachbarn: Lettland«
Lettische und deutsche Lyrikerinnen und Lyriker lasen aus der Anthologie »Werde zum Gespenst. Gedichte aus Lettland« (Verlag Das Wunderhorn, 2016)

Montag, 24.10.2016, 18 Uhr:
Lettisch-deutsche Lesung in Mainz, Erthaler Hof
mit Liana Langa, Semjon Hanin, Claudia Gabler, Jan Kuhlbrodt und Hans Thill (Moderation)

Dienstag, 25.10.2016, 19 Uhr:
Lettisch-deutsche Lesung im Arp Museum Bahnhof Rolandseck
mit Liana Langa, Semjon Hanin, Carolin Callies, Jan Kuhlbrodt und Hans Thill (Moderation)

Mittwoch, 26.10.2016, 19 Uhr:
Lettisch-deutsche Lesung in der Stadtbibliothek Koblenz in Kooperation mit der Uni­versi­tät Koblenz/Landau mit Liana Langa, Semjon Hanin, Norbert Hummelt, Anja Utler und Hans Thill (Moderation)
Semjon Hanin: aber nicht damit. Gedichte. Russisch, deutsch. Übersetzt von Anja Utler. Wien (Edition Korrespondenzen) 2021. 184 Seiten. 22,00 Euro.
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