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Jan Kuhlbrodt: Die unendliche Unterhaltung - Ein Zwischenruf zu Paul Celan

Rezensionen/Lesetipp > Rückschau


Jan Kuhlbrodt

Die unendliche Unterhaltung – Ein Zwischenruf zu Paul Celan


Der gelungene literarische Text birgt eine Unendlichkeit des Diskurses, den er selbst in Gang setzt, das heißt, dass er niemals abschließend interpretiert werden kann, weil er seiner Natur nach offen ist. In den Bänden 15 und 16 der Bonner Ausgabe sind Celans Prosaarbeiten erschienen. Der textkritische Apparat (Band 16) übersteigt den Textband der zu Lebzeiten veröffentlichten Prosa (15) um ungefähr das Doppelte, was daran liegt, dass er alle Versionen und hand-schriftlichen Anmerkungen Celans auf dem Manuskriptpapier verzeichnet. Also schon in der Genese winden sich die Texte um sich selber, wie, ja, vielleicht wie ein Wirbelsturm um sein windstilles Auge.

Prosaarbeiten nehmen einen vergleichsweise kleinen Teil im Werk Celans ein. So finden sie in einem Textband auf gerade mal neunzig Seiten Platz. Dieser Band beinhaltet zudem den Radiovortrag: Die Dichtung Ossip Mandelstams. Er gehört zum Eindringlichsten, was in deutscher Sprache je zu dem bedeutenden russischen Dichter gesprochen wurde. Über die Übersetzungen der Mandelstamschen Gedichte hinaus setzt er eine neue endlose Kette frei:

Das Gedicht ist hier das Gedicht dessen, der weiß, dass er unter dem Neigungswinkel seiner Existenz spricht, dass die Sprache seines Gedichtes weder „Entsprechung“ noch Sprache schlechthin ist, sondern aktualisierte Sprache, stimmhaft und stimmlos zugleich, freigesetzt im Zeichen einer zwar radikalen, aber gleichzeitig auch der ihr von der Sprache gesetzten Grenzen, der ihr von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation.

Den größten Platz im Kommentarband aber nimmt der Kommentar zu Celans Rede zur Verleihung des Büchner-Preises ein. Gehalten am 22. Oktober 1960 – „Der Meridian“. Auch hier findet sich das Motiv, mit einer Einschränkung. Das Theoretische findet im Historischen seine Grenze:

Die Kunst, das ist, Sie erinnern sich, ein marionettenhaftes, jambisch fünffüßiges, und – diese Eigenschaft ist auch durch den Hinweis auf Pygmalion und sein Geschöpf, mythologisch belegt – kinderloses Wesen.
In dieser Gestalt bildet sie den Gegenstand einer Unterhaltung, die in einem Zimmer, also nicht in der Consiergerie stattfindet, einer Unterhaltung, die, das spüren wir, endlos fortgesetzt werden könnte, wenn nichts dazwischen käme.
Es kommt etwas dazwischen.

Und dieses Etwas, der drohende, und der im letzten Jahrhundert reale Einbruch der Barbarei in unsere artifiziellen Welten, aber auch dieses heutige vor dem aktuellen Hintergrund lauernde. Etwas zieht sich durch die künstlerischen Produkte und mithin durch die Diskurse, die sich daran anschließen. Als Zittern ist es noch in den Celanschen Satzzeichen zu spüren. Eben da, scheint mir, ist die Basis jener Dialektik, die den Hintergrund zu Celans Aphorismensammlung Gegenlicht ausmacht.

Täusche dich nicht: nicht diese letzte Lampe spendet mehr Licht – das Dunkel rings hat sich selber vertieft.

Der literarische Text birgt eine Unendlichkeit des Diskurses, den er selbst in Gang setzt.


Paul Celan: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. 1. Abteilung, Lyrik und Prosa. Band 15: Prosa. 1. Zu Lebzeiten publizierte Prosa und Reden. Berlin (Suhrkamp) 2014. 304 Seiten. 89.00 Euro.

Paul Celan: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. 1. Abteilung, Lyrik und Prosa. Band 16: Prosa. 2. Materialien zu Band 15. Prosa im Nachlass. Berlin
(Suhrkamp) 2017. 550 Seiten. 98.00 Euro.


Paul Celan: Bonner Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe. Band 1 - 16. Berlin (Suhrkamp / Insel)
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