Jakub Małecki: Saturnin
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Barbara
Zeizinger
Jakub Małecki: Saturnin. Roman. Übersetzt
von Renate Schmidgall. Zürich, Berlin (Secession Verlag für Literatur) 2022.
272 Seiten. 25,00 Euro.
Zwei Kilometer zu viel und ein ganzes
Leben
„Saturnin“ von Jakub Małecki ist ein
vielschichtiger Roman
über Geschichte, die nie vergeht
„Polnische
Verwerfungen“, überschrieb der Deutschlandfunk im April 2021 seinen Bericht
über „Rost“ von Jakub Małecki. Mit diesem Roman stellte der Verlag Secession
den 1982 geborenen polnischen Autor zum ersten Mal dem deutschen Publikum vor,
nachdem Małecki in seinem Heimatland bereits mit elf Romanen erfolgreich war.
Nun liegt
mit „Saturnin“ ein weiterer Roman Małeckis vor, wieder bei Secession erschienen
und wie schon „Rost“ wieder von der erfahrenen Übersetzerin Renate Schmidgall
ins Deutsche übertragen.
In beiden
Romanen erzählt der Autor von einer polnischen Kleinstadt, deren Bewohner den
Schatten der Vergangenheit nicht entgehen können. In „Saturnin“ sind es zu
Beginn der Handlung 2014 der dreißigjährige titelgebende Sohn Saturnin, seine
Mutter Hania und der 96jährige Großvater Tadeusz. Zu dieser Familie Markiewicz
zählen noch Witold, Hanias geschiedener, depressiver Mann und Tadeusz‘ geliebte
tote Schwester Irka, die als Stimme aus dem Off präsent ist. Ihr gehören die
erste und die letzte Seite, ihre Worte rahmen das Geschehen ein. Behauptet sie anfangs
noch, der Roman sei eine Erzählung über sie, gibt sie am Ende zu: „Ich gehe
fließend von einem Ich ins andere über, mal wenig, mal alles wissend, mal
wahrhaftig, mal imaginiert …“
Damit ist
der Ton gesetzt, der diesen Roman auszeichnet. Nicht nur, dass die Mitglieder
der Familie, nicht miteinander reden können, schwebt zusätzlich über allem das
Geheimnis des schweigsamen, abweisenden und gedanklich oft abwesenden Tadeusz. Da
das Verhalten seines Großvaters besonders für den kleinen Saturnin rätselhaft
ist, sucht der Junge nach einer Erklärung. Er findet sie bei der Fahrt mit dem
Bus zum Lyzeum, bei dem die Fahrkarten hin und zurück unterschiedliche
Kilo-meterangaben enthalten. Diese zwei zusätzlichen Kilometer sind für den
Jungen der Beweis, dass der Bus irgendwo auf der Strecke ein magisches Reich
berührt, in dem der Großvater ab und zu verschwindet. Diese wunderbare Metapher
wird am Ende des Romans von Irka aufgegriffen: „Ich denke, wenn ich irgendwo
bin, dann in diesem unsichtbaren Reich, das der Bus von Radziejów nach Kwilno
gestreift hat.“
Die
Wirklichkeit ist für die Protagonisten allerdings weniger märchenhaft. Saturnin
arbeitet als Vertreter in Warschau. In seiner Jugend hat er durch übertriebenes
Gewichtheben und Anabolika seinen Körper zerstört und sich zu einem viel zu
dicken Mann entwickelt. Mit Frauen tut er sich schwer, er sagt von sich selbst:
„ich bin kein Single, ich bin nur einsam.“ Hania wiederum versucht, es ihren
schwierigen Männern (Sohn, geschiedener Mann, Vater) recht zu machen und die
Sprachlosigkeit zwischen ihnen mit gemeinsamen Teetrinken hinunterzuspülen. „Seit
ich denken kann, musste immer alles gut sein“, stellt Saturnin fest. Doch nichts
ist gut und all diese unausgesprochen Dinge rufen bei ihm ein Gefühl hervor,
das man modern Double Bind nennen würde.
Die
Handlung auf der Gegenwartsebene setzt ein, als Großvater Tadeusz plötzlich
verschwindet. Hania und Saturnin finden ihn am Fluss Bzura, dort wo bei einer
Schlacht im Zweiten Weltkrieg die deutsche Wehrmacht im September 1939 kurz
nach ihrem Einmarsch die polnischen Truppen besiegte. Er redet wirr, fragt, ob
jemand, der böse Menschen tötet selbst ein böser Mensch sei. Und dann erzählt
Tadeusz seine Geschichte, wie er in den Krieg zog, wundersamerweise
schwerverletzt überlebte, wie Irka nicht mehr da war und er, um sie zu rächen, zu
einem brutalen Partisan wurde. Tadeusz‘ Geschichte wird von einem Rückblick
über Saturnins Wettkämpfe unterbrochen. Wie überhaupt in dem gesamten Roman die
verschiedenen Zeitebenen ständig in Beziehung gesetzt werden.
Damit sind
wir bei der Vielstimmigkeit, die diesen Roman auszeichnet. Dies betrifft nicht
nur die Handlung, deren Zusammenhang sich erst nach und nach auffächert. Alle
Protagonisten, bis auf Witold, haben eine Stimme, erzählen aus
unterschiedlichen Perspektiven, personal, durch Briefe, in Ich-Form. Hinzu
kommt eine äußerst packende Sprache, die in oft kurzen Sätzen eine plastische
und gleichzeitig poetische Herzschlagprosa entwickelt. „Alles ist zu Ende, auch
der Krieg. Die Sonne geht wie früher auf und unter. In den Spalten zwischen den
Brettern unter dem Dach gibt der Wind ein Konzert. Die Deutschen verlassen die
Häuser, kurz danach ziehen die Polen wieder ein, beladen mit den Erlebnissen
der Vertreibung.“
Für Tadeusz
ist allerdings nach dem Krieg das Leben nur scheinbar normal. Seine
Traumatisierung bestimmt nicht nur sein Leben, sondern auch das der
nachfolgenden Generationen. Ein starkes Bild zeigt, dass es der Krieg war, der
den im Grunde sanftmütigen Tadeusz entmenschlicht hat: Zur Freude des kleinen
Saturnins züchtet er Nutrias, um mit deren Fell etwas Geld zu verdienen.
Allerdings bringt er es nicht fertig, die Tierchen zu töten und entlässt sie
deshalb in die Freiheit. So ist dieser Roman ein starkes, gerade heute
wichtiges Plädoyer für den Frieden.