Isobel Markus: Der Satz
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Bernd Lüttgerding
Isobel Markus: Der Satz.
Roman. Berlin (Quintus-Verlag)
2022, Hardcover mit Schutzumschlag. ISBN: 978-3-96982-039-1. 208 Seiten. 22,00
Euro.
Die Konflikte der
»Generation-ohne-Konflikt«
Isobel Markus ist bekannt geworden
durch ihre Facebook-Anekdoten aus dem Berliner Leben, zu denen bald auch eine
taz-Kolumne kam. Während des ersten Lockdowns hing eine wachsende Lesergemeinde
ihr förmlich an den virtuellen Lippen. Der betörenden Schwebe ihres Erzählens, dieser
leichten, bewusst einfachen und an Mündlichkeit orientierten Prosa gelingt es,
mir ihre Wirklichkeiten derart unterzujubeln, dass sie mir erstaunlich nah
kommen und nah gehen.
Ein Band mit Berlingeschichten (Stadt
der ausgefallenen Leuchtbuchstaben.
Quintus-Verlag 2021, Taschenbuch, 184 S. ISBN: 978-3969820100. 15,00 €) sammelt viele dieser
Texte.
Nun ist mit Der Satz ihr
erster Roman erschienen.
Der Titel spannt die Erwartungen
hoch: Ein Roman, der Satz heißt, ist wie ein Gedicht, das Wort
heißt; wer Filme mag, denkt vielleicht auch an Ingmar Bergman, der sein
Meisterstück Persona (1966) zunächst Kinematographie nennen
wollte.
Der Satz … - Grübelt hier die Syntax
über sich selbst? - Nein, der Roman verhandelt vielmehr das so naheliegende wie
elementar wichtige Sujet einer Rückkehr zu den Wurzeln. Eine Frau besucht ihre
Mutter in dem Dorf, in dem sie einst aufgewachsen ist. Diese Rückkehr der
Heldin an den Ort ihrer Kindheit für ein Wochenende wird, wie es eben zu gehen
pflegt, zu einer Rückkehr in die Vergangenheit und ins Herz der Altlasten, von
denen unser aller Schritte durch die Welt beschwert sind. (Der Satz scheint in
diesem Zusammenhang ein von Kindern einst im Spiel gebildeter Satz zu sein, der
eigentlich nichts bedeutet, aber fast wie ein Talisman diese Kindheit in sich
gebannt trägt.)
Familiäre Altlasten aber sind
bekanntermaßen in den meisten Fällen Geheimnisse. Und da wir es bei den Eltern
der heute auf die 50 Zugehenden mit der vollkommen gestörten Generation der
Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahrgänge zu tun haben, macht deren
Kommuni-kationsunfähigkeit nahezu alles zum Geheimnis. (Seht mir mein Urteil
nach, liebe zwischen 1940 und 1950 geborene Leser. - Euch trifft es nicht. Ihr
seid bestimmt Ausnahmen von der Regel, die ich lediglich durch meine Eltern,
mein Dorf, meine Lehrer und die Eltern meiner Freunde und Bekannten bestätigt
gefunden habe.)
Eine Kluft klafft zwischen
Erwachsenen und Kindern jeder Generation. Zur Generation Golf, der von
Florian Illies so bezeichnete Gruppe der zwischen 1965 und 1975 Geborenen
scheint auch die Heldin dieser Geschichte ungefähr zu gehören, deren Kindheit
in den 80er Jahren auf dem Land in Niedersachsen allerdings Illies' plump
verallgemeinernde Pop-Introspektion in Frage stellt. Während Illies z. B., weil
er Vorabendserien und Werbung mit Wirklichkeit gleichsetzt, ein notorisch
kameradschaftliches Verhältnis zwischen Eltern und Kindern behauptet, ein
andächtiges Lauschen der Kinder auf elterliche Ratschläge am gemeinsamen
Frühstückstisch in der Lindenstraße, war es tatsächlich nur eine dünne Schicht
meist besser situierter und eher urbaner Familien, in denen ein konfliktloses
und (schein-)kommunikatives Eltern-Kinder-Kon-tinuum zelebriert wurde.
Isobel Markus erzählt die Konflikte
der "Generation-ohne-Konflikte" genauer, zumal das Schweigen, das die
Eltern in den von Nazizeit und Krieg traumatisierten und vom so wenig
verwunderlichen "Wirtschaftswunder" in Trance versetzten Haushalten
gelernt haben, das Geheimnisvolle des Aufwachsens unter ohnmächtigen und
hilflosen Eltern.
Die Großeltern kommen hier nur sehr
am Rande vor; die Schuld der Eltern ist gefangen in ihrem Verstummtsein. Die
Väter holen ihre zwischen Trümmern und Essensmarken verpasste Kindheit mit der
Modelleisenbahn als Erwachsene nach. Und die Kinder? Was macht es denen schwer,
erwachsen zu werden? - Wiederholen sie lediglich die elterlichen
Schwierigkeiten? Suchen sich ererbte Schuldgefühle, wenn sie entwurzelt werden,
neue Ursachen? Und worin liegt dann der Konflikt? – Nur im Nicht-mehr-schweigen-wollen?
Isobel Markus hat Mut zur
Oberflächlichkeit; sie beschreibt nur, was passiert und lässt uns die Fragen
stellen. Durch ihre Oberflächen schimmern Verletzungen und die ganze
Verkäfigtheit des Denkens. Alles ist so wunderbar irrelevant wie das wirkliche
Leben.
Besonders gut gelingt es der
Autorin, sich in die Perspektive des heranwachsenden Mädchens einzufühlen. Sie
beschreibt die Kindheit der Heldin kenntnisreich und ohne je nostalgisch zu
werden, obwohl sie eine regelrechte Eloge auf vergangene Freiheiten singt, die
es so heute für kein mitteleuropäisches Kind mehr gibt. Die Wahrnehmungen des
Kindes und auch die, nun, nennen wir es, "kulturhistorischen
Spezifika" der Achtzigerjahre können es an Intensität mit den Evokationen
von Annie Ernaux aufnehmen.
Aber auch später die Gealterten
oder doch irgendwo Erwachsengewordenen werden sehr lebendig in ihren Sätzen:
sprachliche Eigenarten der Südheide-Niedersachsen hat Markus so gut beobachtet,
dass es manchmal fast weh tut, wenn man beim Lesen meint, die Leute sprechen zu
hören.
Zudem ist die Geschichte bei all
ihrer Gewöhnlichkeit spannend. Die Autorin spielt mit unseren Erwartungen, und
wo ich mir einbilde, vorhersehen zu können was gleich passieren wird, reißt sie
plötzlich das Steuer herum und entlarvt meine klischeehaften Erwartungen.
Doch was ist mit dem Geheimnis, das
auf der Heldin lastet und das sie, ihrem eigenen Seelenheil zuliebe,
entschleiern soll?
Leider gibt der Roman da am Schluss
seine Oberflächlichkeit auf und will ein Roman der Aufarbeitung werden. Alles
ist so gut beschrieben und so schön konstruiert, 205 Seiten lang hat Markus
mich an- und eingespannt gehalten, und dann scheint plötzlich alles
Vorhergegangene zu echt, zu wirklich für das Ende. Man könnte der Erzählerin
unterstellen, sie würde plötzlich ihre eigene Geschichte nicht mehr ernst
nehmen und mit einem Satz vom Tisch fegen. Am Ende funktioniert es nämlich einfach!
Das Geheimnis wird gelüftet, und dadurch löst sich alles wie im Wunschtraum
eines Psychoanalytikers, derart unglaubhaft, dass ich mir einbilden möchte, es
könne nur Absicht sein, eine Leserprovokation:
Weil der Schluss mich stört,
bewirkt er, dass ich mit der Geschichte weiterarbeite und denke, ein Geheimnis
zu ergründen, heißt eben nicht, es zu lüften. Um das Geheime auszuloten, muss
man es nicht aufbrechen, ja, indem man es aufbricht, zerstört man es, macht es
unerreichbar und verurteilt sich zu einem Anschein von Klärung, die darin
besteht, dass nichts mehr geklärt werden kann, weil nichts mehr da ist. (Genau
wie ein schöner, kunstvoll geknüpfter Knoten: Aufgelöst ist er weg...)
Isobel Markus ist eine Zauberin,
der es gelingt, ihre Leser über die Texte hinaus zu bewegen. Sie kann sich
erlauben, sich noch mehr auf die Kraft ihrer Sprache, ihrer Sätze zu verlassen,
die uns – so getränkt mit „Welt“ fließen sie dahin – fast vergessen machen,
dass sie Sätze sind. Sie wird, da bin ich mir sicher, beim Schreiben ihrer
nächsten Romane noch mehr Vertrauen in ihre Fähigkeiten (und in die ihres
Publikums) entwickeln und Konventionen vernachlässigen. Nach und nach wird sie
mit ihren eigenen Dämonen Brüderschaft trinken, und was für Romane daraus dann
entstehen werden, wage ich mir gar nicht auszumalen.