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Idiome. Hefte für neue Prosa, Nr. 11

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Zeitschrift des Monats

Idiome (Nr. 11)


Linguistischer Konstruktivismus. Eine Poetik der Renitenz


„Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen.“ Der Aphorismus aus Adornos „Minima Moralia“ hat zwar schon etwas Patina angesetzt, aber immer noch nichts an Triftigkeit eingebüßt. Und auch für passionierte Zeitschriftenmacher gehört es zu den schönsten Übungen, die branchenüblichen Konditionierungen und Ordnungsmuster des Lesens und Denkens auszuhebeln. So auch der zwischen Berlin und Wien nomadisierende Schriftsteller Florian Neuner, zu dessen größten Leidenschaften es gehört, in seiner Zeitschrift „Idiome“, die er seit 2007 einmal jährlich als Periodikum für „neue Prosa“ herausgibt, alle brav linearen Konzepte zeitgenössischen Erzählens konsequent zu bekämpfen und mit gewisser Hartnäckigkeit ein Antidot gegen narrative Klischees zu entwickeln. Zu den Glaubenssätzen der „Idiome“ zählt sicherlich auch ein Satz von Thomas Bernhard, den in der jüngsten Ausgabe, der Nr. 11 der „Idiome“, der Diskurstheoretiker Jürgen Link als Exempel für seine Theorie des „Normalismus“ aufgreift: „In der entgegengesetzten Richtung werden die Anormalen sichtbar.“ Und mit einer demonstrativen Widerständigkeit suchen die in den „Idiomen“ publizierten Prosaetüden, szenischen Monologe und Dialoge und poetologischen Abschweifungen nach kunstvollen Dekonstruktionstechniken, mit denen die konventionelle Syntax und semantischen Fundamente eines Erzähltextes aufgesprengt und neu komponiert werden können.

Konstantin Ames erfindet etwa – in einer langen Litanei - ein subversives Alphabet gegen „Janwagnerianer“ und „Suhrkamp-diven“. Sabine Hassinger zieht eine Zwischenbilanz ihres Romanprojekts „Frau Schneider lernt Polnisch“. Wobei es hier ständig zu vorsätzlich herbeigeführten Crashs zwischen dem wohl proportionierten Satzbau eines Prosatextes und zahlreich eingestreuten polnischen Vokabeln kommt.  Im zentralen Beitrag des Heftes holt der vornamenlose experimentelle Poet Schuldt (eigentlich Herbert Schuldt) zu einem großen Rundumschlag aus gegen passive Leser(innen), die in einem Text nur eine klar abgegrenzte Geschichte oder eine Stimmung abernten wollen. Schuldt, der 1941 in Hamburg geborene Sohn eines Reeders, pendelte viele Jahre lang zwischen Hamburg und New York hin und her als ein Fanatiker der Sprachkunst und Gestalter von Hörstücken, „werbefrei, wortlastig, elitär“.

Beim legendären Bielefelder Colloquium für Neue Poesie, dem Mekka für experimentelle Poesie, war er seit den späten 1970er Jahren Dauergast. Seine Anti-Karriere begann 1960, als er in Hamburg in einer alten Villa eine „Internationale Ausstellung von Nichts“ initiierte, wobei lediglich leere Bilderrahmen und unbemalte Leinwände gezeigt wurden, flankiert von ein paar Klumpen Lehm. In seinen Gedichtbänden konzentrierte er sich auf die Auslotung von Akronymen („Mamelucken antworten“, 1984) oder auf den Ausbruch aus „vorgespurten Sprachbahnen“. In den „Idiomen“ erinnert sich Schuldt im Gespräch mit Florian Neuner an das Gebrüll, das losbrach, als er 1960 sein literarisches Debüt „Steinigung der Nacht“ vorstellte. In seiner Selbstbeschreibung als Künstler positioniert er sich neben den großen russischen Konstruktivisten Chlebnikow und Krutjonych – als „linguistischer Konstruktivist“ und „Autor abstrakter Ungenießbarkeiten“. Und er überrascht durch die Totalverwerfung des Werks von Ernst Jandl: „Er appelliert an die niedrigen Instinkte eines Bierkellerpublikums … Jandl, Jandl, Schandlmandl wurde mein Refrain.“
    Bert Papenfuß ermöglicht in den „idiomen“ wieder mal einen Einblick in sein riesiges Archiv mit Dokumenten zur Geschichte des militanten Anarchismus. Er präsentiert eine „Kammerposse“ zur wechselhaften Untergrund-Karriere der einstigen Berliner „Haschrebellen“ und späteren Terroristen Gabriele Kröcher-Tiedemann und Norbert Kröcher und des Dichters Peter-Paul Zahl.  Alle drei rechneten sich um 1971/72 zu den Aktivisten der „Roten Ruhr-Armee“, die Banküberfälle verübten, später, nach äußerst eigensinnigen Lebenswegen, distanzierte sich Kröcher-Tiedemann von ihrer terroristischen Zeit und Peter Paul-Zahl formulierte in seinen Romanen die Entmythologisierung der RAF. „Renitenz“, so bilanziert Bert Papenfuß ironisch, „führt bestenfalls zu Virulenz und bricht in Pönitenz“.
    Ein Meisterstück in literaturkritischer Montagekunst zelebriert im letzten Teil des Heftes Bertram Reinecke. Er collagiert auf sehr einleuchtende Weise die mehr oder weniger aufgeregten Rezensionen seines rein aus fremden Textquellen komponierten Gedichtbandes „Sleutel voor de hoogduitsche Spraakkunst“ (2012 bei roughbooks). Und so landet man fast zwangsläufig wieder bei Adornos Aphorismus: „Ein Stimmengewirr, in dem Ordnung und Chaos zugleich walten.“
                                                                                                
Michael Braun

Idiome. Hefte für neue Prosa, Nr. 11 (2018)
Klever Verlag, Hochstettergasse 4/1, A-1020 Wien.
114 Seiten, 12 Euro
http://neueprosa.wordpress.com
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