Holger Teschke: Seezeichen
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Timo Brandt
Zeiten, Gezeiten
„Das Rauschen der See und der Felder am MorgenDer Schrei der Kraniche über dem StromKirchenglocken und das Flüstern im ReedDer Schrei am Kreuz in der kleinen Kapelle von Waase“
Holger Teschke, Dramaturg, Hörspielautor und Lyriker, fuhr
nur bis 1980 als Maschinist zur See, hat aber seitdem – wenn man all die Orte,
an denen seine Gedichte spielen, Revue passieren lässt – viele weitere Küsten
gesehen, besungen, erträumt. Die neue Auswahl seiner Gedichte, erschienen in
der Edition Rugerup, fasst Gedichte aus den Jahren 1998-2018 (wobei einige
Gedichte auch ein Datum zwischen 1989 und 1998 tragen).
Obgleich der Weg dieses Bandes auf Rügen beginnt, in der
Stubbenkammer und auf den Jasmunder Feldern, führt er über die englischen Nordseeküsten
und die atlantischen Küsten Amerikas, den Hudson, bis zum Pazifik, nach Japan
und ins Südchinesische Meer, und schließt am Ende den Kreis auf der Berliner
Museumsinsel.
„Flach ziehen die Kormorane über den Greifswalder BoddenIm Nebel ein leeres KraftwerkEine Ruine aus dem Tausendjährigen ReichAm anderen Ufer das abgeschaltete AtomkraftwerkEine Ruine aus dem Vaterland aller Völker Erloschener SternRaketen sind nicht politisch sagt Wernher von Braun“
Teschke ist allerdings nicht nur ein Sänger von Meeren und Landschaften, auch wenn er es bei der Beschreibung dieser beiden Erscheinungen zu einer hohen und gleichsam schlichten Meisterschaft gebracht hat, die das Unbändige, Bewegte, Mächtige, aber auch das Verhaltene, in sich Ruhende, Gestaltvolle an ihnen ohne einen überflüssigen Schnörkel aufruft und transportiert.
Aber Teschkes Gedichte sind auch kritische Zungen. Durch eingewobene (oft nicht eindeutig zuzuordnende – es fehlt auch ein Verzeichnis im Anhang) Zitate, Spitzen, Sarkasmen und feine Ironie erstarren seine Gedichte nicht in ihren klaren Beschreibungen, sondern sind agil, schlagen mit einem Mal den Pfad der Ansage, des Hinterfragens, der zynischen oder süffisanten Anmerkung ein.
„Und wer zu spät kommt den bestraft die BörseOder die Autoindustrie im AbgastestDie Heiligen Drei Affen in den AufsichtsträtenNichts hören Nichts sehen Nichts sagenSind von Tierversuchen ausgenommenWir werden uns auch um die Affen kümmernVerspricht ein Vorstandschef Von Menschen keine Rede“
Sein Spott und sein Ärger, seine Sorgen, richten sich dabei
vor allem gegen den Zeitgeist, gegen das Technisierte und Lebensfeindliche in
unserer gesellschaftlichen Organisation, unseren Lebensverhältnissen, und gegen
das Verlogene, wo immer es sich klar zu erkennen gibt (und nicht selten trotzdem
übersehen wird).
Beeindruckend ist dabei, wie organisch seine
Beobachtungswiedergabe und die Zitate und Anmerkungen zu einem Gedichttext
verschmelzen. Die Landschaften & Strukturen und die Zitate & Kommentare
gehören zusammen, sie spiegeln einander, reagieren miteinander auf widersinnige
und folgerichtige Weise. Wenn man das eine vom anderen trennt, entkernt man die
Wirklichkeit, denn Dinge finden statt – und es gibt Orte, an denen sie
stattfinden.
„Sonnenaufgang über dem East River Das gleißende LichtSpiegelt sich in den Glaskathedralen der BankenErleuchtet Tag und Nacht von den Bildschirmen der HändlerAktienkurse und Wetten Die Kardiogramme der Märkte“
Bei all dem findet der Band aber auch viel Raum für Besinnliches,
Eindrückliches. Manchmal umfassen Teschkes Gedichte ganze Zeitalter und -räume,
manchmal lauschen sie aber auch nur den Gezeiten, in denen Träume sich wiegen,
Erinnerungen, Geschichten.
Tatsächlich mag ich, trotz all der gekonnten Kritik, die
Gedichte am meisten, die sich vor die Welt stellen und sie ganz behutsam in
sich hineinziehen, Stück für Stück, bis alle Strömungen, Bewegungen,
Erscheinungen langsam an die Lesenden heranfluten.
„Ein Sommerabend am DorfrandDer Blick aus dem DachkammerfensterWeit über die Maisfelder bis zum GoldbergHinter dem die sieben Meere liegenWindkatzen im Korn und das Licht des späten August[…]Wo ich in dem eisernen Bett am FensterDie Träume der toten Fischer träumteMit Sturmgeheul im Schornstein und Gewittern auf SeeTräume von Fischzügen bis zum Atlantik“
Vielerlei Anspielungen, viel Historie liegt verstreut und
doch gut verzahnt in den Gedichten von Holger Teschke. Viele Bilder ergänzen
dies Eingewobene, illustrieren es wie bei einem kostbaren Bildband. Man kann
versinken in diesen Texten, aber man kann sie auch überfliegen, sie weit unter
sich vorbei ziehen lassen – in beiden Fällen können sie atemberaubend
erscheinen.
„Mein Hass läuft ins Leere Meine FeindeSind freundliche Angestellte Die nach Vorschrift arbeitenWie immer in Deutschland Der Dienstweg geht über GräberMüde die Gesichter hinter den Scheiben in der Autokolonne“
Holger Teschke: Seezeichen. Gedichte. Berlin (Edition
Rugerup) 2018. 142 Seiten. 18,90 Euro.