Henri Meschonnic: Ethik und Politik des Übersetzens
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Jan Kuhlbrodt
Henri Meschonnic: Ethik und Politik des Übersetzens. Übersetzt
von Béatrice Costa. Berlin (Matthes & Seitz) 2021. 256 Seiten. 20,00 Euro.
Zu Henri Meschonnic: Ethik und Politik des Übersetzens
Der lakonische letzte Satz im Wikipedia-Eintrag zu Henri
Meschonnic lautet: „Die Übersetzungen von Meschonnics Büchern ins Deutsche
stehen noch aus.“ Nun legte der Verlag Matthes & Seitz einen Titel auf, der
von Béatrice Costa ins Deutsche übertragen wurde und der wahrscheinlich das
Herz von Meschonnics Praxis seines Dichtens und Denkens beleuchtet. Gegen Ende
des Textes findet sich folgender Absatz:
„Theorie bedeutet nichts anderes, als ein Nachdenken über die Formen des Unwissens, denn jede Form des Wissens erzeugt ihre je spezifischen Formen des Unwissens; die Formen des Wissens sind jedoch im Ungewissen darüber, dass sie Formen des Unwissens erzeugen und dass sie sich selbst daran hindern, jene Formen zu erkennen.“
Das klingt recht allgemein, und es könnte wohl auch als eine Art Generalangriff gegen die tradierte universitäre Wissens-produktion verstanden werden. Aber es steht am Ende des Buches, und in den Seiten davor umreißt Meschonnic das Angriffsziel recht konkret. Er nennt es das Zeichendenken und im Akademischen richtet er sich gegen den linguistischen Strukturalismus. Sein Hauptvorwurf ist, dass sich die Theorie wesentlich auf das Zeichen, den schriftlichen Text ausgerichtet hat, und damit ihr Ziel, die Sprache, verfehlt und letztlich auch an de Saussure vorbeizielt, den der Strukturalismus ja zu seinem Begründer erkoren hat. Und vor allem verfehlt diese Zeichentheorie nach Meschonnic das Wesen der Literatur und des Gedichts. (Ähnlich findet auch Michail Bachtin den Ausgangspunkt seiner Theorie, die er im ebenfalls bei Matthes und Seitz in Übersetzung erschienenen Buch „Sprechgattungen“ ausführt.)
Um diesem Ansatz zu folgen, stellt Meschonnic die
Übersetzung ins Zentrum seiner Über-legungen.
„Die Übersetzung wird zum Prüfstein für die gesamte Theorie der Sprache und der Literatur. Mit beiden ist sie aufs engste verwoben, sie begnügt sich nicht damit, ein Kommunikationsinstrument zu sein, ein Mittel des Informationsaustauschs zwischen zwei Sprachen, zwischen zwei Kulturen – eine Aufgabe, die im Vergleich zu den Originalschöpfungen seit jeher als zweitrangig erachtet wurde. Sie ist ihrem Wesen nach eine experimentelle Poetik.“
Um das zu illustrieren, kommt Meschhonnic immer wieder auf
die verschiedenen Versionen der Bibelübersetzung zurück. Natürlich führt er
verschiedenste französische Versionen an, denen er ja auch eine eigene hinzugefügt
hat, aber auch englische geraten in seinen Fokus. Von deutschen werden die von
Luther und Buber erwähnt. Vor allem sieht er in den tradierten Übersetzungen
den Fokus auf dem Inhalt des biblischen Textes liegen. Darin sieht er jedoch
eine unzulässige Trennung des Inhalts von der Form. Er selbst stellt die
Rhythmik, wenn nicht über, so doch auf die gleiche Ebene zur Wortbedeutung.
Darin nähert er sich der Benjamin‘schen Position hinsichtlich der Aufgabe des
Übersetzers.
Und er sieht wie Benjamin die Übersetzung in einem weiteren
Kontext als dem der Wörtlichkeit.
„Im Übersetzen zeigt sich die unauflösbare Verknüpfung von Poetik und Geschichtlich-keit.“
Das Buch vollzieht sich in Schleifen. Es kommt immer wieder
auf bestimmt Punkte zurück, eine gewisse Leidenschaft des Autors äußert sich
zuweilen in Redundanz.
Im Nachwort schreiben Hans Löser und Vera Viehöfer dazu,
dass dieses Werk Meschonnics Merkmale eines Manifestes aufweist.
„Es will die Gegner nicht überzeugen, sondern dem Unerhörten Gehör verschaffen, und es erhebt den Anspruch, durch die Ankündigung einer Wende, zu dieser beizutragen – und das in einem Moment, indem die Unerträglichkeit der herrschenden Verhältnisse die Dringlich-keit des Aufbruchs unübersehbar werden lässt.“
Der Leidenschaft, mit der Meschonnic formuliert, kann man
sich kaum entziehen, und ich hoffe, es werden dieser weitere Übersetzungen
folgen.