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Michail Bachtin: Sprachgattungen

Rezensionen/Lesetipp > Rückschau


Jan Kuhlbrodt

Michail Bachtin: Sprechgattungen. Übersetzt von Rainer Grübel und Alfred Sproede. Berlin (Matthes & Seitz) 2017. 336 Seiten. 30,00 Euro.

Sprache und Rede
Michail Bachtins Sprechgattungen.


Sprache wird immer wieder zum Gegenstand in politischen Auseinandersetzungen. Meist sind es einzelne Wörter, über deren möglichen und zulässigen Gebrauch gestritten wird. Man könnte eine Liste der verbotenen Wörter aufstellen, und sicher ist es so, dass der Gebrauch bestimmter Wörter den Kontext des oder der Sprechenden, des oder der Schreibenden preisgibt. Bestimmte Worte sind ohne Zweifel Signale, und sie werden in bestimmten Sprechzusammenhängen als solche auch eingesetzt. Aber eben in Zusammenhängen. Das Wort erfährt seine Bedeutung und auch seinen Gehalt erst im Kontext, und der ist nicht nur ein grammatikalischer, sondern einer der Äußerung.
      Michail Bachtin war ein Sprach- und Literaturwissenschaftler, der in der Verbannung ein auf- und anregendes Sprach- und Literaturwissenschaftliches Werk schuf. Es ist fast ein Wunder, dass er die stalinistischen Säuberungsaktionen der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts überlebt hatte. Zwar wurde er 1929 verhaftet, überlebte aber und erarbeitete in der Verbannung in Kasachstan eine Theorie, die die Sprachwissenschaft letztlich aus den Engpässen des Strukturalismus und insbesondere der russischen Spielform, des Formalismus, herausführte.

Letztlich reicherte er die Untersuchungen zum Wort, zum Satz oder zur literarischen Evolution mit Analysen an, die die Dialogizität von Äußerungen einbeziehen, die Äußerung aus der Isoliertheit der einzelnen Betrachtung herauslösen und in den Kontext einer Dialogizität stellen, auf welche Sprache sie ohnehin von vornherein angelegt ist.

„Die Äußerung erlangt so, ihrer engsten Natur gemäß, eine Beziehung zur fremden Äußerung, zur fremden Rede, zur tatsächlichen oder möglichen Rede des Gesprächs-partners und Zuhörers oder Lesers. Und diese Beziehung zur fremden Äußerung bestimmt die betreffende Äußerung, findet in ihr eine notwendige Weiterspiegelung (die Widerspiegelung der fremden Rede.)“

Das heißt, aus dem einfachen Gebrauch eines Wortes ist noch nicht auf die politische Haltung des Sprechenden zu schließen. Genauso wichtig sind Sprechhaltung und Stil. Es kann also nicht einfach darum gehen, bestimmte Worte aus dem Gebrauch zu nehmen, um einen Sachverhalt (politisch) korrekt zu formulieren.

„Längst nicht alle Erscheinungen der Sprache (das Wort, die phraseologische Einheit, sogar die morphologischen und syntaktischen Formen,) sind neutral. Sie haben den Gebrauch von Stilen, sind mit ihnen durch bestimmte weltanschauliche, literarische soziale Wertungen verbunden. Diese Wörter gilt es mit Vorbehalt zu verwenden, sie sind in intonatorische Anführungszeichen zu setzen.“

Das Buch, auf das ich hier aufmerksam machen möchte, ist beileibe keine leichte Lektüre, aber schwimmen lernt man im tiefen Wasser und nicht dort, wo man noch stehen kann. Herausgegeben wurde es von Rainer Grübel, der den Text gemeinsam mit Alfred Sproede aus dem Russischen übersetzte, und von Renate Lachmann sowie Sylvia Sasse. Sasse und Lachmann lieferten auch das Nachwort, das die Arbeit in einem wissenschaftlichen und historischen Kontext erläutert.


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