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Fundstücke

Poetik / Philosophie
Der Mensch ist eine solche Seinsweise, daß sich in ihm jene stets offene, nie ein für allemal begrenzte, sondern unendlich durchlaufene Dimension begründet, die von einem Teil seiner selbst, den er nicht in einem Cogito reflektiert, zum Denkakt verläuft, durch den er sie erfaßt: und die umgekehrt von jenem reinen Erfassen zur empirischen Überfülle, zum ungeordneten Hinaufsteigen der Inhalte, zum Überhang der Erfahrungen, die sich selbst entgehen, also zum ganzen stummen Horizont dessen verläuft, was sich in der sandigen Weite des Nicht-Denkens ergibt. Weil er empirisch-transzendentale Dublette ist, ist der Mensch auch der Ort des Verkennens, jenes Verkennens, das sein Denken stets dem aussetzt, daß es durch sein eigenes Sein überbordet wird, und das ihm gleichzeitig gestattet, sich von dem ihm Entgehenden aus zu erinnern.  
Michel Foucault:
Die Ordnung der Dinge
(Kap. 9: Der Mensch und sein Doppel.
Abs. 5: Das Cogito und das Ungedachte.
Deutsch von Ulrich Köppen, Suhrkamp,
1971)







17.09.2023
Poesie, ein zweideutiges Wort, meint einmal: Gemütsbewegung, die zum Schaffen strebt; und ein anderes Mal: Leistung, die danach strebt, unser Gemüt zu bewegen.
Im ersten Falle handelt es sich um eine Erregung, deren seltsame Wirkung darin besteht, daß sie sich in uns und durch uns eine Welt bildet, die ihr entspricht.
In der zweiten Bedeutung versteht man unter diesem Wort ein bestimmtes Gewerbe, über das man vernünftig reden kann. Es bemüht sich, in andern Menschen jenen schöpferischen Zustand, von dem ich eben gesprochen habe, zu erzeugen und wieder-zuerzeugen, und zwar durch die besonderen Mittel der arti-kulierten Sprache. Zum Beispiel versucht es, die Vorstellung einer Welt heraufzurufen, die so beschaffen ist, daß sie zum Anlaß der eben erwähnten Erregung wird. Das höchste Ziel dieser Kunst in Beziehung auf einen gegebenen Leser ist dann erreicht, wenn dieser Leser keinen anderen vollkommenen und notwendigen Ausdruck für die Wirkung, die ein Werk auf ihn ausübt, finden kann als dieses Werk selbst.
Der erste Sinn jedoch bezeichnet uns eine Art Mysterium. Die Poesie ist die eigentliche Gelenkstelle zwischen Geist und Leben, diesen beiden undefinierbaren Wesenheiten.
Paul Valéry:
Zur Theorie der Dichtkunst (Vorrede)
übersetzt von Kurt Leonhard
(dt. 1962)
















09.09.2023
Das fleisch ist trauernd ach! und alle bücher las ich.
Stéphane Mallarmé:
Seebrise
übersetzt von Stefan George
02.09.2023
Worauf gründet KultpolOpt?¹ "Das Nichts ist, selbst für unsere Begriffe, unendlich. In der Leere des Nicht-Seins findet die Laune des Künstlers Platz, herumzugaloppieren nach Herzenslust. [...] Die endlose Wüstenei des Unbe-kannten ist die Domäne, das rechtlich eroberte Königreich des Dichters, der das Unsehbare schaut, das Untastbare wahrneimmt, das Schweigen versteht."² - "Dem Dichter wird alles glücken, wenn er nur sorgt, dass sein Rang verborgen bleibt. Doch er wird verraten durch einen elenden Train-Soldaten:³ Hoffärtigkeit. Ein Prinz, der inkognito reisen will, muss kein Geld in die Grabbel werfen."
¹ Kulturpolitischer Optimismus.
² Aus "Multatuli: Millionen-Studien. Übertragen aus dem Hollän-dischen von Wilhelm Spohr. J.C.C. Bruns' Verlag. Minden in Westf. 1908. S. 33.
³ "Der Train, die Schleppe eines Heeres im Mittelalter, war zusam-mengesetzt aus Bettlern, Mönchen, öffentlichen Frauen, Räubern unde Leichenschändern ..." Ebd. S. 38.
Ebd. S. 39.
Bęrt Elsmann-Papenfuß:
Seifensieder. Angewandte Schrunst für eingewiesene Ausgeweihte
(Brueterich Press, 2016, S. 20f.)















26.08.2023
Eines Tages erwacht man und sieht sich veröffentlicht, das ist alles; die heikle Frage, welche Verantwortung der Schriftsteller gegenüber der Gesellschaft habe, stellt sich anständigerweise ja erst von einer gewissen Wirkung an. Lange vorher aber, fast von Anfang an, tritt etwas andres ein, was die Keuschheit unseres Machens trübt: die Eitelkeit, die Versuchung, daß man schreibt, bloß um in der Öffentlichkeit zu sein.
Max Frisch:
Öffentlichkeit als Partner
(Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, 1958)


20.08.2023
Verse bringen oftmals etwas ans Licht, das in uns schon da ist  - aber es war verborgen. Plötzlich, ein Wortklang, und ich erin-nere mich. Verse legen etwas in uns frei, und wir können, wenn das Lesen gelingt, gar nicht mehr sicher sagen, was aus uns selbst und was aus der Fremde der Verse kommt, beides ver-mischt sich.
Christian Lehnert:
"Die Kätzchen der leeren Hasel, die hängenden" - Annäherung an Rainer Maria Rilke (Zwiesprachen Stiftung Lyrik Kabinett München) 2023
12.08.2023
Die Ägypter wussten genau, wie man ins Unsichtbare eintritt: durch die Scheintür. Sie bauten viele davon - oft aus rosa Kalk-stein - in ihre Monumente und Gräber ein, schon vor fünf-tausend Jahren. Bei den Scheintüren sind die Pfosten das hervor-stechende Element. Nicht nur zwei, sondern mehrere. In immer größerer Zahl, immer enger. Für die Tür bleibt immer weniger Raum. Sie kann auch schmal, winzig ausfallen. Jedenfalls aber ist sie aus Stein, wie ihre Pfosten. Es ist nicht gesagt, dass man am Ende durch diese Tür hindurchkommt. Aber es gibt keinen anderen Zugang zum Unsichtbaren.
Roberto Calasso:
Der Himmlische Jäger
(Kapitel: O Ägypten, Ägypten ...)
2016/2020





06.08.2023
Auch Literaturwissenschaft kann so exakt sein, daß man >wahr< und >falsch< sinnvoll gebrauchen kann. Wer zum Beispiel von der Vieldeutigkeit oder Dunkelheit Kafkas spricht, wer dafür etwa die Rätselhaftigkeit der Schloßbehörden zum Beweis heranzieht und dann an der unendlichen Deutungsmöglichkeit dieser Behörden theologisch oder existenziell oder psychoana-lytisch herumzudeuten beginnt, wer nicht davon ausgeht, daß diese Behörden für K. geschaffen sind, so geschaffen, daß K. sich daran erschöpfen muß, weil K. wiederum so geschaffen ist, daß er nach einem Sinn dieser Organisation fragen und sich selbst vor ihr behaupten muß, wer eben nicht nach der Funktion einer kafkaschen >Größe< innerhalb seines Werkes zu fragen bereit ist, der wird Kafka >dunkel< nennen und diese Dunkel-heit um seine eigene vermehren. Man muß sich dieses Werk sozusagen vom Leibe halten und lediglich als Zuschauer das Spiel und Widerspiel der Parteien beobachten, man darf sich mit keiner Partei mehr einlassen als mit einer anderen, auch nicht mit dem >Helden<.
Martin Walser:
Nachwort zu "Beschreibung einer Form" (Dissertation über Kafka,  1961)














29.07.2023
Warum brauchte man die Mysterien? Warum war es nötig, zu etwas Verborgenem vorzudringen? Die Antwort steht bei Hesiod: "Die Götter halten das Leben vor den Menschen ver-borgen." Und dieses Verbergen war ein wohlüberlegter Plan des Zeus als Antwort auf den Betrug, den Prometheus "mit seinem verdrehten Geist" ihm angetan hatte. Das Verborgene ist das Leben selbst.  
Roberto Calasso:
Der Himmlische Jäger
(Kapitel: Die Rückkehr nach Eleusis")
2016/2020


22.07.2023
Ich bin das unerreichbare
Schweigen
und der Gedanke,
an den man sich oft erinnert.
Ich bin die Stimme,
die viele Laute hervorbringt,
und der Logos,
der viele Gestalten hat.
Ich bin das Aussprechen meines Namens.
Kodex VI von Nag-Hammadi:
Sigé (ich bin das unerreichbare Schweigen)
(VI, 14, 10) Spätantike




16.07.2023
Das Böse ist oft interessanter als das Gute. Das Böse ist sozial konstruiert, es lehrt uns mehr über die innere Struktur einer Gesellschaft als es das Gute tut. Das Gute ändert sich selten, das Böse ist fluide. Das Böse ändert sich andauernd, manchmal von Generation zu Generation. Nichts ist innovativer. Das Böse fasziniert uns, wie jede Transformation oder Transgression fasziniert, wir lehnen es ab, trotzdem ruft es Gänsehaut hervor.  
Katia Sophia Ditzler:
Die böse Frau. Eine Anleitung
(in "Fee Nummer 13", Hg. Beate Tröger, ELIF Verlag, 2022)


09.07.2023
keine Macht den Algorithmen
                                                 die das Leben
unterwerfen ohne Argwohn
                                             wer unterstellt
Zahlen Absicht
                         längst schon
vergessen wie frei die Gedanken waren
Roland Adelmann:
"Ein Vergleich muss zwangsläufig ..."
(in "Burger-Arrest", Cut-Poems, 2022)



02.07.2023
Und so lese ich immer wieder diese Sprache, die ich damals im Radio hörte, und immer wieder ein wenig anders. Manchmal scheint ein neues Verständnis auf, dann wieder verliert sich das Verstehen vollständig, und der Text wird mir dunkler, als er jemals war. Ich gehe durch ihn wie durch eine bekannte und doch fremde Landschaft, die sich gleich bleibt. Nur ich bin eine Andere, eine Unzulängliche, Ungeduldige, mal auch eine Empfängliche und Gesammelte. Mal öffnet sich die Landschaft und nimmt mich auf, was ich nur als einen paradoxen Ausdruck dafür, dass ich mich öffne und sie aufnehme bzw. dass etwas sich öffnet und etwas aufgenommen werden kann, gesagt haben will.     
Daniela Danz:
"Das philosophische Licht um
mein Fenster"
(Zwiesprache mit Friedrich Hölderlin - Stiftung Lyrik Kabinett München 2016)





(Foto: Kritzolina)
25.06.2023
Das Bild selbst kommt zur Welt, wenn es vorliegt. Es entwickelt sich aus einer Anwandlung heraus, die mich anweht oder die mich durchzieht wie eine Verheissung. Und dann trete ich an die Leinwand heran und setze ihr etwas zu. Daraus entwickelt sich etwas, was irgendwann zu einem Bild wird.
Neo Rauch:
"Ich erlebe schlaflose Nächte wenn ich an Deutschland denke" (Interview NZZ, 17.06.2023) Bild by Hans Peter Schaefer
18.06.2023
JLB: Whistler, der berühmte nordamerikanische Maler, nahm einmal an einer Zusammenkunft teil, bei der über die Bedin-gungen, unter denen Kunst entsteht, gesprochen wurde. Zum Beispiel über den biologischen Einfluß, den Einfluß der Umge-bung, der zeitgenössischen Geschichte ... Darauf sagte Whistler: "Art happens", die Kunst ereignet sich, Kunst findet statt, das heißt, Kunst ... ist ein kleines Wunder.
OF: Das ist wahr.
JLB: Sie entzieht sich auf irgendeine Weise der organisierten Kausalität der Geschichte. Ja, Kunst ereignet sich - oder ereignet sich nicht; das hängt ebensowenig vom Künstler ab.
Jorge Luis Borges, Osvaldo Ferrari:
Lesen ist denken mir fremdem Gehirn
(Kap. Die Kunst muß sich von der Zeit befreien) (Übersetzt von Gisbert Haefs,
Arche,  1990)





11.06.2023
Das Wahre ist die Berührung des Guten mit dem Verstand. Jedes Gut hier unten, jede Schönheit, jede Wahrheit sind unterschied-liche und partielle Seiten eines einzigen Guten. Folglich sind es Güter, die angeordnet werden müssen. Puzzlespiele sind ein Abbild dieses Vorgangs. Von einem passenden und passend ver-bundenen Punkt aus gesehen bildet all das eine Architektur. Diese Architektur erlaubt es, das einzige und unbegreifbare Gute zu erfassen.
Jede Architektur ist dafür ein Symbol, ein Abbild. Das gesamte Universum ist nichts als eine große Metapher.
Simone Weil:
Cahiers. Aufzeichnungen
Bd. 4, 72 ff. Übersetzt von Elisabeth Edl & Wolfgang Matz, (Hanser Verlag 1998)





04.06.2023
Da wird eine Ordnung geschaffen nicht durch Produktion, sondern durch Eliminierung. Da wird etwas "auf die einfachste Formel gebracht." Da war etwas, was lebte, falsch. Ich erinnere mich immer mit einer Mischung von Vergnügen und Grauen (die es nicht geben sollte, wie?) an den Witzblattwitz, in dem ein Aviatiker auf eine Taube deutet und sagt: Tauben zum Beispiel fliegen falsch.
Bertolt Brecht:
Die Realismusdebatte
(ca. 1938)
27.05.2023
In dem Gedicht sitze ich in der U-Bahn, liege also weder noch fliege ich. So gefangen, denke ich an einen Vogel, und dazu dann auch gleich eine Prärie, die ebenfalls gar nicht da ist: Unter dem VogelaugePrärie. / Lebe demnach den Vogel. Meinst Du, was man sich vergegenwärtigt, lebe man nicht?
Elke Erb:
Vergegenwärtigen
(Elke Erb: Die irdische Seele. Signaturen, 2014)
20.05.2023
Wenn ich in Deutschland auf die Bedeutung der aus Österreich kommenden, von der Moderne ausgehenden Dichtung spreche, und darüber hinaus auf die Wichtigkeit der Performance-Modelle, die mit dieser österreichischen Dichtung verbunden sind, bin ich nicht ins Fettnäpfchen getreten - ich stehe gewisser-maßen im Fettfaß. Weil. Ich habe dreierlei verbunden: Modernität, Wien, Performance.
Thomas Kling:
Totentanzschrift, Fotomaterial
(Wiener Vorlesung zur Literatur, in Botenstoffe. DuMont, 2001)


14.05.2023
Manchmal brechen Revolutionen viel zu schnell für Dichter aus, als daß sie dabei etwas für sich herausholen könnten. Die formierenden Gewalten einer Revolution formen auch die Dichter, dann explodieren sie, zerstreuen sich in den veränderten Umständen und hinterlassen den Dichter entweder tot oder als eine Figur von vorgestern.
Ted Hughes:
Wie Dichtung entsteht
(Kapitel Shakespeare: Das große Thema) 1971/2001

07.05.2023
4.063
Ein Bild zur Erklärung des Wahrheitsbegriffes: Schwarzer Fleck auf weißem Papier; die Form des Fleckes kann man be-schreiben, indem man für jeden Punkt der Fläche angibt, ob er weiß oder schwarz ist. Der Tatsache, daß ein Punkt schwarz ist, entspricht eine positive - der, daß ein Punkt weiß (nicht schwarz) ist, eine negative Tatsache. Bezeichne ich einen Punkt der Fläche (einen Frege'schen Wahrheitswert), so entspricht dies der Annahme, die zur Beurteilung aufgestellt wird, etc. etc.
Um aber sagen zu können, ein Punkt sei schwarz oder weiß, muß ich vorerst wissen, wann man einen Punkt schwarz und wann man ihn weiß nennt; um sagen zu können: >p< ist wahr (oder falsch), muß ich bestimmt haben, unter welchen Umständen ich >p< wahr nenne, und damit bestimme ich den Sinn des Satzes.
Der Punkt, an dem das Gleichnis hinkt, ist nun der: Wir können auf einen Punkt des Papiers zeigen, auch ohne zu wissen, was weiß und schwarz ist; einem Satz ohne Sinn aber entspricht gar nichts, denn er bezeichnet kein Ding (Wahrheitswert), dessen Eigenschaften etwa >falsch< oder >wahr< hießen; das Verbum eines Satzes ist nicht >ist wahr< oder >ist falsch< - wie Frege glaubte-, sondern das, was >wahr ist< muss das Verbum schon enthalten.
Ludwig Wittgenstein:
Tractatus logico-philosophicus
(Paragraph 4.063)
1918/1921


















30.04.2023
Nein, man muss noch viel weitergehen und sagen:
"Die Weltbevölkerung selbst ist im Grunde nichts anderes als folgende Szene: Blick zurück auf die Wand des eigenen Indivi-duiertwordenseins, Blick auf die Wand des eigenen Deindivi-duiertwerdens, Bemerken von laufenden Geburten und Toden - und zwar diese Szene 8 Milliarden mal."
Das ist schon die vollständige/beste Bestimmung dessen, was die Weltbevölkerung (je) ist.
Daniel Falb:
Mystique der Weltbevölkerung
(Paragraph 5: Phänomenologie des Präindividuellen, Merve Verlag, 2022)



23.04.2023
Am Anfang war nicht die Sprache, sondern die Sprachhem-mung. Gleichgültig, ob sie sich vom Lallen allmählich zu wort- und satzähnlichen Gebilden und weiter zur 'normalen' Artikula-tion 'entwickelt', der Anfang beim sprachlichen Unvermögen begleitet das Sprechen durch all seine Stationen und macht auch vor der perfekten Suada nicht halt. Nicht nur Demosthenes trägt im Mund einen Kiesel, der ihm das Stottern abnehmen soll. Sprache ist immer zunächst eine Sprache für den, der noch keine hat, sie ist Sprache für den, der erst zur Sprache kommt, und also die Sprache nur dieses Kommens zur Sprache. Deshalb hat niemand eine Sprache, und er hat sie auch dann nicht, wenn er eloquent mit seinen Sprachlosigkeiten umzugehen und seine Sprachlücken geschmeidig zu umgehen versteht.
Werner Hamacher:
Anataxis. Komma. Balance.
(in Jean Daive: Erzählung des Gleich-gewichts 4, Urs Engeler Editor, 2006)








16.04.2023
Das Wort Antikunst läßt sich natürlich nicht so bilden, wie das bei dem Wort „Antichemie“ möglich ist, da Kunst bereits die benannte andere Hälfte in sich hat. Kunst schließt Kunst und Antikunst in sich ein.
Joseph Beuys:
Antikunst
(in "Erforschung von Gegenraum", Happening an der Technischen Hochschule Aachen, 20. Juli 1964)
08.04.2023
Die eigentliche Methode der Philosophie besteht darin, die un-lösbaren Probleme in ihrer Unlösbarkeit klar zu erfassen, sie dann zu betrachten, weiter nichts, unverwandt, unermüdlich, Jahre hindurch, ohne jede Hoffnung, im Warten.
Nach diesem Kriterium gibt es wenig Philosophen. Wenig ist noch viel gesagt. Der Übergang zum Transzendenten vollzieht sich, wenn die menschlichen Fähigkeiten - Verstand, Wille, menschliche Liebe - an eine Grenze stoßen und der Mensch auf dieser Schwelle verharrt über die hinaus er keinen Schritt tun kann, und dies, ohne sich von ihr abzuwenden, ohne zu wissen, was er begehrt, und angespannt im Warten.
Simone Weil:
Londoner Notizbuch, 1943
(Cahiers, 4 - übersetzt von Elisabeth Edl & Wolfgang Matz, Hanser Verlag 1998)






01.04.2023
Es gibt also all diese Zahlen - Zahlen, aus verschiedenen Diszi-plinen gezogen -: es gibt also ein Diagramm oder eine Chiffre, eine Ziffer, im Grunde, die zutiefst mysteriös ist.
Die Körper fließen durch sie hindurch.
     Aber es ist eine wundervolle, wundervolle Ziffer, wie Rauch, wie eine Flamme, und die muss entschlüsselt werden, und die Metaphysik ist (über das Generationalitätsmoment) genau in ihrem Herzen.
Daniel Falb:
Mystique der Weltbevölkerung
(Appendix II: Voicemessages, Merve Verlag) 2022



26.03.2023
Diese schweren Geister, die uns beengen durch ihr Gewicht und ihre Unbeweglichkeit. Man kann sie weder zum Fliegen noch zum Schwimmen bringen.
Joseph Joubert:
Auszug aus den Carnets, 1803
übersetzt von Martin Zingg.
Mütze #15. Hrsg. von Urs Engeler, 2017
18.03.2023
(Der surrende Propeller sprach:)
Je mehr die Bilder weite Beziehungen enthalten, desto länger behalten sie ihre bestürzende Kraft. Man muß, sagt man, die Betroffenheit des Lesers schonen. Ach! wo! Kümmern wir uns lieber um die unangenehme Abnutzung der Zeit, die nicht nur die Wucht, sondern auch die beizende Kraft des Ausdrucks eines Meisterwerks zerstört. Haben nicht unsere zu oft begeisterten Ohren BEETHOVEN und WAGNER <abgenutzt>? Man muß also in der Sprache zerstören; Bilder-Clichés, farblose Meta-phern, also fast alles.
Filippo Tommaso Marinetti:
Technisches Manifest der futuristischen Literatur, 7. (In Walter Höllerer: Theorie der modernen Lyrik, Rowohlt, 1965)





12.03.2023
Dem Tölpel jedoch wurde Biersatz statt Butter gegeben.
.
Gilgamesch, 10, 42



05.03.2023
4.11.18, meine Fresse
mein Essayismus dieser
schwarze Vogel wie er
gegen das Fenster
KNALLT,

nun ja habe mir den Schädel an einem Möbelstück zerfranst,
ich meine overkill!
Friederike Mayröcker:
da ich morgens und moorsgrün. Ans Fenster trete (Suhrkamp, 132) 2020




26.02.2023
Status
Wenn in drei Minuten die Welt unterginge, würde ich noch einen Aphorismus/ schreiben.
Jan Kuhlbrodt:
Die letzte Hose (in "Das Land und ich wir werden", Gans Verlag) 2023
19.02.2023
Jene griechischen Tragödien kamen Liturgien gleich. Noch hör-ten die Götter und die Unterwelt zu, und es war beabsichtigt, daß sie zuhören sollten. Und dies nicht nur im Griechenland der Antike, sondern in der ganzen Welt, überall und zu allen Zeiten, wo immer die Menschen das Ohr der Geisterwelt und der Götter oder des Gottes zu erreichen suchten, verwendeten sie eine Beschwörungssprache. Sie legen alle Betonungen und Flexionen ihres Arbeitsalltags ab, ohne die sich menschliche Wesen kaum verständigen können, und ziehen sich auf diesen mehr oder weniger ekstatischen, einfachen Gesang zurück. Als ob jene Geister usw. irgendwie zu verstehen gegeben hätten, daß sie auf nichts anderes hören würden. Es ist uns so angeboren. Wir ent-decken es für uns in den Momenten, in denen wir das Gefühl haben, beten zu müssen.
Ted Hughes:
Innere Musik (in "Wie Dichtung entsteht") 1995/2001










11.02.2023
Das Versprechen als ursprünglicher Entwurf künftigen Verste-hens kann seine eigene Möglichkeit immer nur versprechen, sich selbst aber als genuines Versprechen niemals vollziehen.  
Werner Hamacher:
Entferntes Verstehen, Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan (Kap. Lectio: De Mans Imperativ) 1998
05.02.2023
Wer von uns hat nicht, in den Tagen seines Ehrgeizes, geträumt vom Wunder einer Prosa, dichterisch, musikalisch ohne Rhyth-mus und ohne Reim, schmiegsam genug und schroff genug, um sich den lyrischen Bewegungen der Seele, den Schlängel-bewegungen der Träumerei, den plötzlichen Sprüngen des Bewußtseins anzupassen?
Charles Baudelaire:
Brief an Arsène Houssaye, 26. 08. 1862
übersetzt von Werner Wanitschek


29.01.2023
Diese zwei Arten des "Sehens" [Beobachtung & Intuition] über-schneiden sich unablässig. Ihr gemeinsamer Punkt ist die sicht-bare Figur, in der der Blick das Unsichtbare erfaßt, das sich in ihr bewegt. Der Spiegel ist das Instrument, das den Übergang (transsumptio) von dem einen "Sehen" zum anderen ermöglicht. Vom Text umschlossen, nimmt er den Platz ein, den die Gedicht-zitate in den mystischen Traktaten des 16. Jahrhunderts inne-hatten. Für das Sehen ist er das, was das "Zitat" für das Sprechen ist. Er gliedert die Prosa der Rede durch unerwartet gesetzte Punkte, in denen sich mehrere Bereiche kreuzen.
Michel de Certeau:
Nikolaus von Kues: Das Geheimnis eines Blickes (1984, in "Bildlichkeit. Herausgegeben von Volker Bohn", 1990.





21.01.2023
Was wir heute Kulturkritik nennen, hat sich seit der Antike es Ideals der unverletzten Erde, der inviolata terra, bedient und es an der utopischen Vorstellung des goldenen Zeitalters abgelesen, das seine Freiheit von Mühe und Sorge gerade durch die Un-kenntnis aller Art von technischen Fertigkeiten besessen haben sollte.
Hans Blumenberg:
Schriften zur Technik, S. 216.
(1966/7) Suhrkamp 2015


15.01.2023
Spiele das Spiel. Sei nicht die Hauptperson. Such die Gegen-überstellung. Aber sei absichtslos. Vermeide die Hintergedan-ken. Verschweige nichts. Sei weich und stark. Laß dich ein und verachte den Sieg. Beobachte nicht, prüfe nicht, sondern bleib geistesgegenwärtig bereit für die Zeichen.
Peter Handke:
Über die Dörfer, 1982 sowie
der Anfang seiner Nobelpreisrede, 2019

08.01.2023
Dieser ganze fatale Optimismus, so verdächtig erwünscht und so genau nach Maß. Augen und Ohren fest geschlossen und ein strahlendes Lächeln auf allen Gesichtern, ein Lied, drei, vier, so marschieren wir zukunftsgläubig in die tausendundeine Art von Sklaverei. Es wird Ernst gemacht, die perfekt funktionierende Gesellschaft herzustellen. Wir haben keine Zeit mehr, Ja zu sagen. Wenn unsere Arbeit nicht als Kritik verstanden werden kann, als Gegnerschaft und Widerstand, als unbequeme Frage und als Herausforderung der Macht, dann schreiben wir umsonst, dann sind wir positiv und schmücken das Schlachthaus mit Geranien.
Günter Eich:
Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1959. (In Eich: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 626 f)






01.01.2023
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