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Fundstücke

Poetik / Philosophie
Jemand hat gesagt, Brecht hätte gewollt, daß jedermann gleich denke. Ich möchte, daß jedermann gleich denkt. Aber Brecht wollte es sozusagen durch den Kommunismus. Rußland tut es unter Regierungseinwirkung. Hier geschieht es ganz von selbst, ohne eine strenge Regierung; wenn es also ohne Bemühung funktioniert, warum kann es dann nicht gehen, ohne daß man Kommunist ist? Jedermann sieht gleich aus und handelt gleich, und wir machen immer weitere Fortschritte auf diesem Weg.
Andy Warhol:
Interview
(in ARTnews, 62/7, 1963




06.10.2024
Nie gab es eine bessere Zeit, um unbekannt, abgemeldet und von der Bildfläche verschwunden zu sein. Ohne Chance auf Pu-blikation bei den großen Verlagen, ohne Aussicht auf Wirkung, ob öffentlich oder im Geheimen, genossen die Dichter die Frei-heit, sich die Sprache vorknöpfen zu können. Sie quetschten, knipsten und kokelten an ihr herum, gossen ihr Beton in die Stiefel und warfen sie in den Fluss. Aus Kleinstauflagen wurden Buchhandelsausgaben von einem Exemplar, dreißig galten als Massenproduktion, Werbegeschenke, die man nicht ablehnen konnte.
Iain Sinclair:
Dirigent des Chaos
(übersetzt von Jürgen Ghebrezgiabiher und Sven Koch für Schreibheft #103, hrsg. von Norbert Wehr. 1997/2024)




29.09.2024
In der Schule wurde ich von der Vorstellung geplagt, viel bes-sere Gedanken zu haben, als ich je in Worte fassen konnte. Es war nicht so, daß ich keine Worte gefunden hätte, oder daß die Gedanken zu tiefsinnig oder zu kompliziert für Worte gewesen wären. Es verhielt sich schlicht so, daß meine Gedanken, sobald ich versuchte, sie auszusprechen oder niederzuschreiben, ver-schwunden waren.
Ted Hughes:
Wie Dichtung entsteht
(Kap. II: Denken lernen, übersetzt von Jutta Kaußen, Wolfgang Kaußen und Claas Kazzer, Insel Verlag, 1967)

22.09.2024
Das Unsichtbare ist der Ort der Götter, der Toten, der Vorfahren, der gesamten Vergangenheit. Es verlangt nicht notwendig einen Kult, dringt jedoch in jede Spalte des Geistes ein. Einer Metallsaite ähnlich, kann es, statt zu schwingen, auch reglos bleiben. Wenn es aber schwingt, kann die Intensität überwäl-tigend werden. Das Unsichtbare ist nicht in der Ferne zu finden. Im Gegenteil, man kann es verfehlen, gerade weil es zu nah ist. Das Unsichtbare landet im Kopf eines jeden.
Roberto Calasso:
Der Himmlische Jäger
(Kap. 1: Zur Zeit des Großen Raben, übersetzt von Reimar Klein und Marianne Schneider, Suhrkamp, 2020)


15.09.2024
Der verzweifelte Charakter der beschriebenen Spannungen ist einer der Gründe, warum wir so am Rande der Schweigegrenze sprechen, warum das Gedicht so nahe beim >Nicht-Gedicht< ist, sich sozusagen wieder abstoßen muß vom >Nicht-Gedicht<, wie das Einmalige von der Unmöglichkeit seiner Einmaligkeit.
Hilde Domin:
Exkurs über die >Schweigegrenze<.
(Teilaspekt 1: die entgleitende Wirklich-keit - in "Wozu Lyrik heute", 1971)
08.09.2024
Ich entnehme dieses Sonett, das mir diesen Sommer einmal in den Sinn gekommen war, einer geplanten Studie über die REDE: Es ist invers, womit ich sagen will, dass der Sinn, wenn es einen hat, (aber über das Gegenteil würde ich mich dank der Dosis Poesie, die mir in ihm enthalten zu sein scheint, hinweg-trösten) durch eine den Worten interne Spiegelung zur Sprache gebracht wird. Wenn man sich darauf einlässt, es mehrere Male hintereinander vor sich hinzumurmeln, stellt sich eine ziemlich kabbalistische Empfindung ein.
Womit eingestanden ist, dass es wenig "plastisch" ist, wie Du es von mir verlangst, aber zumindest ist es so "weiß und schwarz" wie möglich und mir scheint, dass es sich gut zu einer Radierung voller TRAUM und LEERE eignet.
Stéphane Mallarmé:
Brief an Henri Cazalis, 18. Juli 1868.
(Übersetzt von Leo Pinke und Tim Trzaskalik in "Zu verwirklichen ist nur das Unmögliche". Briefe. Matthes & Seitz 2023)






01.09.2024
Ein toter Romantiker ist eine Falsifikation.
Wallace Stevens:
Materia Poetica, XI
(Übersetzt von Ivor Joseph Dvorecky 2003)
25.08.2024
Früher machten wir uns mit Mythen verständlich.
Heute fehlen uns die Worte für den unendlichen Hass
auf uns selbst, auf das, was wir selbst aus uns machten,
für die krasse Selbstverachtung.
Wir fallen uns selbst zur Last und verstricken
uns in uns selbst und ersticken daran fast.

Und doch: Wir sind immer noch mythisch.
Wir schwanken immer noch pausenlos zwischen Heldentum
und Elend.
Wir sind immer noch göttlich;
das macht uns so schrecklich.
Kate Tempest:
Brandneue Klassiker
(Anfang. Übersetzt von Johanna Wange. Suhrkamp 2017)







18.08.2024
Versteht Ihr was von meinem Wort?
Es flieht und fliegt und ist schon fort!
Arthur Rimbaud:
O Zeiten, o Paläste
(In: Sämtliche Dichtungen.
Übersetzt von Walther Küchler. S. 181,
Gerlingen 1992)
11.08.2024
Und seine Lieder waren Anrufungen, nicht in geistiger
Verzückung, sondern Töne geistvoll, klar, direkt aus
den Fundamenten seines Denkens; er hörte die leichten
Strömungen
in der Luft & sie waren ihm tatsächlich behilflich.
Atmend konnte er frei in die nordische Luft sprechen
und die Phrasierung bog sich aus seinem Mund, seiner
Nase in die kalten Berghöhen. Erklärtermaßen
Apoll, ohne festliche Ausrichtung,
                               überpudert mit leichtem Schnee.
J. H. Prynne:
Poems, Gedichte.
(Aristeas, in sieben Jahren, 2 - übersetzt von Hans Thill und Michaela Schrage-Früh. Verlag Das Wunderhorn 2007)




04.08.2024
: das gedicht wächst aus dem gedicht, nicht aus dem eigenen intellekt. der intellekt ist nur eine anleitung, ein gärtner für diese schösslinge, diese wurzeln: für diese tieferen imperative, die in erster linie organisch sind.
Gustaf Sobin:
Kommentare Kultivierung des Lyrischen
(Schreibheft #103, Hg. Norbert Wehr, übers. von Jürgen Brôcan, S. 88) 2024
28.07.2024
Die Geschichte ist eigenlos, >um nichts<, gelogen, bloß - wahr ist sie aber! Ich will mir die Fabel in Sprache und Gestalt eines Rebus und Silbenrätsels denken (>das Blatt hat sich gewen-det<); nur unumgänglich müsse sie sein, besiegelt, sonst könnte sie einer ja um die Wette nicht unverwandt ausgesprochen wissen wie kein anderer ...: am Ende ist sie ausgedacht -  
Oswald Egger:
Vorwort aus "Gnomen & Amben"
(Brueterich Press, S. 7) 2015
Foto: Gezett

20.07.2024
Die Technik ist nicht das gleiche wie das Wesen der Technik. Wenn wir das Wesen des Baumes suchen, müssen wir gewahr werden, daß jenes, was jeden Baum als Baum durch waltet, nicht selber ein Baum ist, der sich zwischen den übrigen Bäumen antreffen läßt.
So ist denn auch das Wesen der Technik ganz und gar nichts Technisches. Wir erfahren darum niemals unsere Beziehung zum Wesen der Technik, solange wir nur das Technische vorstellen und betreiben, uns damit abfinden oder ihm aus-weichen. Überall bleiben wir unfrei an die Technik gekettet, ob wir sie leidenschaftlich bejahen oder verneinen. Am ärgsten sind wir jedoch der Technik ausgeliefert, wenn wir sie als etwas Neutrales betrachten; denn diese Vorstellung, der man heute besonders gern huldigt, macht uns vollends blind gegen das Wesen der Technik.
Martin Heidegger:
Die Frage nach der Technik
(In Gesamtausgabe, Band 7 - Vorträge und Aufsätze, Klostermann 2000, S. 7)










14.07.2024
Das Leben lassen sie dir, aber vorher enthirnen sie dich.
Johannes Kepler:
Anmerkung 7 zu "Der Traum,
oder Mond-Astronomie"
(Aus dem Lateinischen von Hans Bungarten) Matthes & Seitz 2011
07.07.2024
Auch in der Lyrik finden sich zahlreiche Beispiele für einen Algorithmus, der als Dichter ausgewiesen wird, obgleich er nur gängige Satz- und Wortmuster neu arrangiert, ohne dass man be-haupten könnte, hier hätte eine Maschine eine tiefere Bedeutung erfasst und zum Ausdruck bringen wollen.
Hanno Rauterberg:
Die Kunst der Zukunft
(Kapitel 1: Kunst der Selbstüber-windung - Warum aus Computern unbedingt Künstler werden sollen) edition suhrkamp 2021
29.06.2024
Poetik hat auch mit Architektur in den Köpfen zu tun. Zugleich geht es um Straßenbau des Geistes.
Alexander Kluge:
Konstellationen
(Vorwort zu Ben Lerner: No Art (Gedichte Englisch, deutsch. Suhrkamp 2021)
23.06.2024
All dies geschah, als ich beiseite sah
Derek Walcott:
35. Gedicht
(in "Weiße Reiher", übers. von Werner von Koppenfels, Hanser) 2010 / 2012
16.06.2024
Verrutscht etwa die Maske, zeigt sich blank der Mensch
in seinem blinden Eifern Hassen Fürchten harsch;
und woanders sein heißblütiges, zärtliches Herz?
Nein, ich fürchte, hart ist die Kunst, mein Schatz,
da erkennt man erst die Größe der ganzen Ars.
Veronica Forrest-Thomson:
Das Ohr des Dionysos: Ode
(in "Sternzeichen Schütze",übersetzt von Norbert Lange, roughbook 060) 2023
09. 06.2024
Das Gesetz der steigenden Unwahrscheinlichkeit öffnet die Aussicht auf zwei Überforderungen in einer: Was sich zur Stunde auf der Erde abspielt, ist auf der einen Seite eine real voranschreitende Integrationskatastrophe - die mit der Kolum-busfahrt 1492 lancierte, mit der spanischen Unterwerfung des Aztekenreiches 1521 in Fahrt gebrachte, durch den Welthandel zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert akzelerierte und dank der schnellen Medien des 20. Jahrhunderts bis zur effektiven Synchronisierung des Weltgeschehens vorangetriebene Globali-sierung. Durch sie werden die bisher verstreut lebenden Fraktionen der Menschheit, die sogenannten Kulturen, zu einem instabilen und von Ungleichheiten zerrissenen Kollektiv auf hohem Transaktions- und Kollisionsniveau synchronisiert. Auf der anderen Seite vollzieht sich eine voranschreitende Des-integrationskatastrophe, die sich auf einen zeitlich nicht fest-gelegten, jedoch nicht endlos aufschiebbaren Crash-Punkt zubewegt.
Peter Sloterdijk:
Du mußt dein Leben ändern
(Kapitel: Ausblick, Wer wird es tun?)
Foto: Beatrice Sloterdijk
2009












02. 06.2024
Übersetzen ist wie Rechnen mit einem Abakus. Bunt die Buch-stabengruppen, die Lauteinheiten. Ich schiebe, verschiebe - betriege/betrüge -, bin eine Schieberin. Verwandele, weil ich anders nicht kann. Ich sehe genau an: Mund, Stimme, Musik.
Ulrike Draesner:
Life after Life
(in: Akzente, 21/2017. Nachdichten,
Hrsg. von Jan Wagner und Jo Lendle)

26. 05.2024
Man kann sagen, daß sich die europäische Kultur jahrhunder-telang, seitdem das Interesse an den Hieroglyphica des Hor-apollo erwacht war, auf zwei Pole verteilt hat, den der Sub-stitution (erkennbar an der verbissenen Anstrengung zu de-chiffrieren, also zu substituieren) und den der Analogie (er-kennbar an der Suche nach Korrespondenzen, also an einer symbolischen Kette, die es erlaubt, aufgrund von Ähnlichkeit von einem Bild zum anderen überzugehen, ohne das kosmische Spiel der Figuren je zu verlassen). Bei Baudelaire und seiner nächtlichen Besorgung angelangt (und für Heute gilt das nicht minder), erweisen sich diese beiden Wege als unzugänglich.
Roberto Calasso:
Der Traum Baudelaires
(Kap. 4: Der Traum vom Museumsbordell, 2008 / übersetzt von Reimar Klein, Hanser Verlag 2012)






19.05.2024
Es ist gut möglich, dass es heute keine echte Romantik mehr gibt - das mit ihr verbundene unglückliche Bewusstsein blüht jedoch wie niemals zuvor. Hegels Darstellung der entfremdeten Seele passt auf viele unserer Zeitgenossen sehr viel besser als auf die mit ihm befreundeten Romantiker. Freilich zeigt sich der heutige Romantizismus nicht mehr in spontanen Gefühlsaus-brüchen und ist recht besinnlich geworden. Aber dieser neue Ton hat ihn traditioneller Philosophie keinen Schritt nähergebracht. Das unglückliche Bewusstsein ist sich seiner selbst lediglich besonders bewusst geworden.
Judith N. Shklar:
Über Hannah Arendt
(Kap. 1: Die Romantik der Niederlage, 1957 - übers. von Hannes Bajohr) Matthes & Seitz, 2020




12.05.2024
Ohne Zukunft kein Jetzt, ohne Jetzt keine Geschichte. Wo diese im Jetzt nicht mehr und noch nicht wieder in Kraft ist, zeigen sich zwar Möglichkeiten einer anderen Geschichte, aber das Gedicht ist nicht der Ort von Möglichkeiten, die die Form ungefährer Phantasien und lässiger Träumereien von einem besseren oder auch nur anderen Leben annehmen. Das Gedicht ist keine Wunscherfüllungsmaschine, und wenn es je einem Tagtraum nahekommt, dann ist es ein Wecktraum.  
Werner Hamacher:
Geschichte Jetzt - Jorie Graham
(in Jorie Graham: Region der Unähnlichkeit. Urs Engeler Editor) , 1991/2008


05.05.2024
Der Ausgangspunkt ist jedesmal ein Wollen von etwas, also eine Bestimmtheit, zugleich aber fehlt in diesem System von scheinbar individuellen Zentren die klare Begrenzung, und notwendig führt eine gründliche Überlegung über das expan-dierende Zentrum hinaus, bis zu dem Punkt des Zusammen-stoßes zwischen dem Impuls und dem Hindernis, insofern nämlich der Impuls ebensosehr ein Hindernis für sein Hindernis darstellt, wenn man dieses als Impuls versteht, oder anders gesagt: weil eine untrennbare, homogene, bipolare Verflechtung besteht zwischen dem expandierenden Impuls und dem, was ihn aufhält.
Giorgio Colli:
Nach Nietzsche
(Kapitel "Tod der Philosophie", Kolumne "Metaphysik und Moral"), 1980 / 1993





27.04.2024
Es hat tatsächlich so etwas wie eine Zweiteilung gegeben: auf der einen Seite Fun, Sex, Kitsch und Naivität, auf der anderen Trash, Tod und Zynismus. Aber in deiner Situation wäre das zwangsläufig als Werk eines zweitrangigen Künstlers inter-pretiert worden, der neidisch auf den Erfolg reicherer Kollegen ist. Wir sind sowieso an einem Punkt angelangt, wo der Markt-erfolg jeden Mist rechtfertigt, ihn anerkennt und sämtliche Theorien ersetzt, niemand ist mehr imstande, ein bisschen weiter zu blicken, absolut niemand.
Michel Houellebecq:
Karte und Gebiet
(Kap. 9), 2010





21.04.2024
Was vermag die erkenntnislüsterne Sokratik unserer Tage gün-stigstenfalls mit diesem aus unerschöpflichen Tiefen emporstei-genden Dämon zu beginnen? Weder von dem Zacken- und Arabeskenwerk der Opernmelodie aus noch mit Hilfe des arith-metischen Rechenbretts der Fuge und der kontrapunktischen Dialektik will sich die Formel finden lassen, in deren dreimal gewaltigem Licht man jenen Dämon sich unterwürfig zu machen und zum Reden zu zwingen vermöchte.
Friedrich Nietzsche:
Die Geburt der Tragödie
(Kap. 19), 1872




14.04.2024
Dummheit ist ein Wundmal. Sie kann sich auf eine Leistung unter vielen oder auf alle, praktische und geistige, beziehen. Jede partielle Dummheit eines Menschen bezeichnet eine Stelle, wo das Spiel der Muskeln beim Erwachen gehemmt anstatt gefördert wurde. Mit der Hemmung setzte ursprünglich die vergebliche Wiederholung der unorganisierten und täppischen Versuche ein. Die endlosen Fragen des Kindes sind ja schon Zeichen eines geheimen Schmerzes, einer ersten Frage, auf die es keine Antwort fand und die es nicht in rechter Form zu stellen weiß.
Max Horkheimer - Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung
(Aufzeichnungen und Entwürfe -
Zur Genese der Dummheit, 1939 - 44)





06.04.2024
Fünf Fenster spenden dem eingehöhlten Menschen Licht; durch
das eine atmet er die Luft;
Durch das andere hört er Musik der Sphären, durch eines
blühen die ewigen Reben ihm zu,
Damit er Trauben empfangen kann; durch eines dann schauen
kann
Und kleine Anteile der ewigen Welt sehen kann, die immerzu
anwächst,
Und über eines er selbst passieren kann, zur angenehmen Zeit,
doch wird er’s nicht;
Denn gestohlene Freuden sind süß und Brot zu essen allein
angenehm.
William Blake:
Fünf Fenster spenden dem eingehöhlten Menschen Licht
("Europa", Tafel III, in (Div.:)
William Blake & Das lyrische Konto, APHAIA Verlag, 2024)





31.03.2024
Furchtbar ist es, wenn ein Mensch in der Masse aufschreit und man hört ihn nicht - die Masse schreit selber. Furchtbarer noch, wenn ein Mensch in der Leere aufschreit, man hört ihn nicht, weil einfach der Raum leer ist, ein Vakuum. Weil einfach keine Luft da ist.
Boris Eichenbaum:
Der Augenblick der Besinnung
1921 (in "Die Erweckung des Wortes" - Philipp Reclam jun. Leipzig, 1987)
24.03.2024
Wir werden feststellen, daß die sogenannte sensualistische Schreibweise (bei der man alles riechen, schmecken, fühlen kann) nicht ohne weiteres mit der realistischen Schreibweise zu identifizieren ist, sondern wir werden anerkennen, daß es sen-sualistisch geschriebene Werke gibt, die nicht realistisch, und realistische Werke, die nicht sensualistisch geschrieben sind. Wir werden sorgfältig untersuchen müssen, ob wir die Fabel wirklich am besten führen, wenn wir als Endeffekt die seelische Exposition der Personen anstreben.
Bertolt Brecht:
Volkstümlichkeit und Realismus,
1938 - Erstveröffentlichung 1958 in "Sinn und Form" (Heft 4)




17.03.2024
Flucht, oh Flucht! Oh Nacht, die Stunde der Dichtung. Denn Dichtung ist schauendes Warten im Zwielicht,
Dichtung ist dämmerahnender Abgrund, ist Warten an der Schwelle, ist Gemeinschaft und Einsamkeit zugleich,
ist Vermischung und Angst vor der Vermischung, unzuchtsfrei in der Vermischung, so unzuchtsfrei wie der Traum
der schlafenden Herde und doch Angst vor solcher Unzucht: oh, Dichtung ist Warten, noch nicht Aufbruch,
aber immerwährender Abschied.
Hermann Broch:
Der Tod des Vergil
Suhrkamp,  Seite 63/64) 1945





10.03.2024
Gott aber ist größer als unser Herz - und während es sich in Furcht und Schrecken vor der Weite des Raumes zusammen-zieht, der über Millionen Meilen hinweg die Fixsterne in dem großen Bären oder dem kalten Orion zu einem menschlichen Namen vereinigt, der als Bild in das Auge zurückkehrt, das ihn schaudernd entlassen hatte, nimmt er gleichzeitig die Vereinze-lung fort, unter der es sich wie ein welkes Blatt bei dem Gedanken an die Myriaden verlorengegangener Seufzer krümmt und unter dem Gluthauch der Ohnmacht, sie in sich zu sammeln, vergeht.
Elisabeth Langgässer:
Das unauslöschliche Siegel
(Zweites Buch, S. 233) 1946






03.03.2024
Was ist ein Adjektiv? Substantive sind die Namensgeber der Welt. Verben bringen die Namen in Bewegung. Adjektive kommen von woanders. Das Wort Adjektiv (auf Griechisch Epitheton) ist selbst ein Adjektiv und bedeutet "hinzugefügt", "ergänzt", "addiert", "eingeführt", fremd". Adjektive wirken wie recht unschuldige Ergänzungen, aber sehen wir sie uns genauer an. Die kleinen importierten Mechanismen haben die Aufgabe, alles auf der Welt mit dem Platz zu verklammern, der seiner Eigenheit entspricht. Sie sind die Spannbügel des Seins.
Anne Carson:
Die Autobiographie von Rot
(Kap. "Fleisch, noch rot: Was wurde mit Stesichoros anders?" Übersetzt von Anja Utler. S. Fischer 2019 (1998))



25.02.2024
Was nicht bemerkt wird, spreche ich beim Lesen vor mich hin, und: hunderte Mikro-Ereignisse, die alle gleichzeitig ablaufen. Also muß es doch jemanden geben, höre ich mich weiter-sprechen, der sozusagen extraordinär aufmerksam ist, um regis-trieren zu können, was unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des "im Allgemeinen" Bemerkbaren liegt. Zugleich muß er aus den zahllosen gleichzeitig ablaufenden Mikro-Ereignissen, eben weil er sie nicht alle gleichzeitig erfassen kann, auswählen.
Nico Bleutge:
Der Verstand
("Drei Plätze, 3" - in "Drei Fliegen. Über Gedichte". Beck Verlag 2020)



18.02.2024
Ich mache die Wörter nicht lebendig. Ich bekomme sie lebendig. Beim Wiederlesen in den Gedicht gewordenen Notaten spürte ich einmal: Sie sind so gegenwärtig.
Elke Erb:
Portrait: Elke Erb - Die irdische Seele
(in Signaturen, 2014)
11.02.2024
     "Es gibt eine Demarkationslinie, eine Grenze zwischen denen, die Bücher machen, und denen, die Bücher lesen. Ich möchte bei denen bleiben, die lesen, und deshalb passe ich auf, daß ich die Grenze nicht überschreite. Sonst wär's bald vorbei mit dem unvoreingenommenen Lesevergnügen, oder jedenfalls würde es sich in etwas anderes verwandeln, und das wäre nicht das, was ich will. Ich muß sehr genau aufpassen, denn die Grenzlinie ist nur ungefährt zu erkennen und hat die Tendenz, immer mehr zu verlöschen: Die Welt derjenigen, die beruflich mit Büchern zu tun haben, bevölkert sich immer dichter und neigt dazu, sich mit der Welt der Leser gleichzusetzen. Gewiß werden auch die Leser immer zahlreicher, aber mir scheint, daß die Zahl der Leute, die Bücher benutzen, um daraus andere Bücher zu machen, schneller wächst als die Zahl der Leute, die Bücher einfach nur gerne lesen. Und ich weiß, daß ich, wenn ich diese Demarkationslinie überschreiten würde, auch nur gele-gentlich oder aus Versehen, in Gefahr käme, mich von dieser vorwärtsdrängenden Flut mitreißen zu lassen. Deshalb weigere ich mich, meinen Fuß in ein Verlagshaus zu setzen, auch nur für ein paar Minuten."  
        "Und was ist mit mir?"
Italo Calvino:
Wenn ein Reisender in einer Winter-nacht
(aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, 2004/2012)
Foto: Johan Brun














04.02.2024
Mit Inbegriffen des politischen Gedichts, die auf bekannte Muster zurückgreifen, kommt man also nicht weit, will man herausfinden, welche Perspektiven es bietet. Man muss eine Stufe tiefer ansetzen. Da fällt auf, dass die Verfechter des poli-tischen Gedichts diesem oft wie selbst­verständ­lich hohe Zu­gäng­lichkeit ab­fordern, wahr­scheinlich aus der Intuition, dass Wirksamkeit Allgemein­verständ­lich­keit einschlösse. Ja, oft hat man das Gefühl, dass die Forderung nach dem poli­tischen Gedicht nur ein Trojanisches Pferd sein soll, endlich das „verständliche“ Gedicht wieder einzuführen.
Bertram Reinecke:
Das Minenfeld des politischen Gedichts
(zu Michael Braun, Kathrin Dittmer, Martin Rector (Hg.): Gegenstrophe.
Im poetenladen, 2011)




28.01.2024
Nichts an Ägypten schien so seltsam wie die - nach Diodorus "übertriebene" - Verehrung der Tiere. Keiner schämte sich, wenn man ihm zusah, wie er die von ihnen verlangten "Liturgien" praktizierte. Zwischen diesen und den "feierlichsten Zeremonien der Götter" machten sie keinen Unterschied. Sie warfen sich zu Boden, um sie anzubeten - mit jener Geste, proskýnesis, die eines Tages in den orthodoxen Kirchen üblich sein würde. Sie hatten nicht vergessen, dass sich die ersten fünf Götter "den Menschen in Form von heiligen Tieren offenbart hatten".

(Zitate Diodorus Siculus: Historische Bibliothek I, 96, 3)
Roberto Calasso:
Der Himmlische Jäger
(übers. von Reimar Klein und Marianne Schneider - Kap. XII O Ägypten, Ägypten...) 2016 / 2020





21.01.2024
"Die Spätmoderne", lautet die soziologische Diagnose, "erweist sich als eine Kultur des Authentischen". Aber natürlich stellt Authentizität keine Neuerfindung unserer Zeit dar, auch wenn die Bezeichnung erst jetzt zur Prominenz gelangt. In Wahrheit ist sie Teil der langen Geschichte bürgerlicher Innerlichkeit, die mit pietistischen Seelenberichten beginnt, sich im 18. Jahr-hundert mit der Epoche der Empfindsamkeit fortsetzt und über die romantische Weltfühligkeit zur psychoanalytischen "talking-cure" reicht, mit der eine bis heute ungebrochene Geschichte subjektiver Seelenforschung und innerer Korrekturbemühungen gestartet wird.
Volker Demuth:
Der Hype der Authentizität
(Park #75, Zeitschrift für neue Literatur, 2023)






14.01.2024
Die Zeit verging. Und die Metapher befiel als Krankheit die Bilder. Der Mensch macht sich ein Bild von sich selbst und schreibt ein Gedicht mit den wahrsten Worten, die er kennt. Doch das Knäuel will sich nicht recht fügen, verknotet sich zurück in seine ursprüngliche, undurchsichtige Gestalt. Das Tier Innere Wahrheit verschluckt das Knäuel und gibt sich den Deutungen frei.  
Yevgeniy Breyger:
Am Anfang knäulte das Wort, am Ende platzt der Gottballon.
(Münchner Rede zur Poesie, Stiftung
Lyrik Kabinett, 5. 12. 2023)

07.01.2024
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