Fundstücke
Poetik / Philosophie
In dem Gedicht sitze ich in der U-Bahn, liege
also weder noch fliege ich. So gefangen, denke ich an einen Vogel, und
dazu dann auch gleich eine Prärie, die ebenfalls gar nicht da ist: Unter dem Vogelauge – Prärie. / Lebe demnach den Vogel. Meinst Du, was man sich vergegenwärtigt, lebe man nicht?

Elke Erb:
Vergegenwärtigen
(Elke Erb: Die irdische Seele. Signaturen, 2014)
20.05.2023
Wenn ich in Deutschland auf die Bedeutung der aus Österreich kommenden, von der Moderne ausgehenden Dichtung spreche, und darüber hinaus auf die Wichtigkeit der Performance-Modelle, die mit dieser österreichischen Dichtung verbunden sind, bin ich nicht ins Fettnäpfchen getreten - ich stehe gewisser-maßen im Fettfaß. Weil. Ich habe dreierlei verbunden: Modernität, Wien, Performance.

Thomas Kling:
Totentanzschrift, Fotomaterial
(Wiener Vorlesung zur Literatur, in Botenstoffe. DuMont, 2001)
14.05.2023
Manchmal brechen Revolutionen viel zu schnell für Dichter aus, als daß sie dabei etwas für sich herausholen könnten. Die formierenden Gewalten einer Revolution formen auch die Dichter, dann explodieren sie, zerstreuen sich in den veränderten Umständen und hinterlassen den Dichter entweder tot oder als eine Figur von vorgestern.

Ted Hughes:
Wie Dichtung entsteht
(Kapitel Shakespeare: Das große Thema) 1971/2001
07.05.2023
4.063
Ein Bild zur Erklärung des Wahrheitsbegriffes: Schwarzer Fleck auf weißem Papier; die Form des Fleckes kann man be-schreiben, indem man für jeden Punkt der Fläche angibt, ob er weiß oder schwarz ist. Der Tatsache, daß ein Punkt schwarz ist, entspricht eine positive - der, daß ein Punkt weiß (nicht schwarz) ist, eine negative Tatsache. Bezeichne ich einen Punkt der Fläche (einen Frege'schen Wahrheitswert), so entspricht dies der Annahme, die zur Beurteilung aufgestellt wird, etc. etc.
Um aber sagen zu können, ein Punkt sei schwarz oder weiß, muß ich vorerst wissen, wann man einen Punkt schwarz und wann man ihn weiß nennt; um sagen zu können: >p< ist wahr (oder falsch), muß ich bestimmt haben, unter welchen Umständen ich >p< wahr nenne, und damit bestimme ich den Sinn des Satzes.
Der Punkt, an dem das Gleichnis hinkt, ist nun der: Wir können auf einen Punkt des Papiers zeigen, auch ohne zu wissen, was weiß und schwarz ist; einem Satz ohne Sinn aber entspricht gar nichts, denn er bezeichnet kein Ding (Wahrheitswert), dessen Eigenschaften etwa >falsch< oder >wahr< hießen; das Verbum eines Satzes ist nicht >ist wahr< oder >ist falsch< - wie Frege glaubte-, sondern das, was >wahr ist< muss das Verbum schon enthalten.

Ludwig Wittgenstein:
Tractatus logico-philosophicus
(Paragraph 4.063)
1918/1921
30.04.2023
Nein, man muss noch viel weitergehen und sagen:
"Die Weltbevölkerung selbst ist im Grunde nichts anderes als folgende Szene: Blick zurück auf die Wand des eigenen Indivi-duiertwordenseins, Blick auf die Wand des eigenen Deindivi-duiertwerdens, Bemerken von laufenden Geburten und Toden - und zwar diese Szene 8 Milliarden mal."
Das ist schon die vollständige/beste Bestimmung dessen, was die Weltbevölkerung (je) ist.

Daniel Falb:
Mystique der Weltbevölkerung
(Paragraph 5: Phänomenologie des Präindividuellen, Merve Verlag, 2022)
23.04.2023
Am Anfang war nicht die Sprache, sondern die Sprachhem-mung. Gleichgültig, ob sie sich vom Lallen allmählich zu wort- und satzähnlichen Gebilden und weiter zur 'normalen' Artikula-tion 'entwickelt', der Anfang beim sprachlichen Unvermögen begleitet das Sprechen durch all seine Stationen und macht auch vor der perfekten Suada nicht halt. Nicht nur Demosthenes trägt im Mund einen Kiesel, der ihm das Stottern abnehmen soll. Sprache ist immer zunächst eine Sprache für den, der noch keine hat, sie ist Sprache für den, der erst zur Sprache kommt, und also die Sprache nur dieses Kommens zur Sprache. Deshalb hat niemand eine Sprache, und er hat sie auch dann nicht, wenn er eloquent mit seinen Sprachlosigkeiten umzugehen und seine Sprachlücken geschmeidig zu umgehen versteht.

Werner Hamacher:
Anataxis. Komma. Balance.
(in Jean Daive: Erzählung des Gleich-gewichts 4, Urs Engeler Editor, 2006)
16.04.2023
Das Wort Antikunst läßt sich natürlich nicht so bilden, wie das bei dem Wort „Antichemie“ möglich ist, da Kunst bereits die benannte andere Hälfte in sich hat. Kunst schließt Kunst und Antikunst in sich ein.

Joseph Beuys:
Antikunst
(in "Erforschung von Gegenraum", Happening an der Technischen Hochschule Aachen, 20. Juli 1964)
08.04.2023
Die eigentliche Methode der Philosophie besteht darin, die un-lösbaren Probleme in ihrer Unlösbarkeit klar zu erfassen, sie dann zu betrachten, weiter nichts, unverwandt, unermüdlich, Jahre hindurch, ohne jede Hoffnung, im Warten.
Nach diesem Kriterium gibt es wenig Philosophen. Wenig ist noch viel gesagt. Der Übergang zum Transzendenten vollzieht sich, wenn die menschlichen Fähigkeiten - Verstand, Wille, menschliche Liebe - an eine Grenze stoßen und der Mensch auf dieser Schwelle verharrt über die hinaus er keinen Schritt tun kann, und dies, ohne sich von ihr abzuwenden, ohne zu wissen, was er begehrt, und angespannt im Warten.

Simone Weil:
Londoner Notizbuch, 1943
(Cahiers, 4 - übersetzt von Elisabeth Edl & Wolfgang Matz, Hanser Verlag 1998)
01.04.2023
Es gibt also all diese Zahlen - Zahlen, aus verschiedenen Diszi-plinen gezogen -: es gibt also ein Diagramm oder eine Chiffre, eine Ziffer, im Grunde, die zutiefst mysteriös ist.
Die Körper fließen durch sie hindurch.
Aber es ist eine wundervolle, wundervolle Ziffer, wie Rauch, wie eine Flamme, und die muss entschlüsselt werden, und die Metaphysik ist (über das Generationalitätsmoment) genau in ihrem Herzen.

Daniel Falb:
Mystique der Weltbevölkerung
(Appendix II: Voicemessages, Merve Verlag) 2022
26.03.2023
Diese schweren Geister, die uns beengen durch ihr Gewicht und ihre Unbeweglichkeit. Man kann sie weder zum Fliegen noch zum Schwimmen bringen.

Joseph Joubert:
Auszug aus den Carnets, 1803
übersetzt von Martin Zingg.
Mütze #15. Hrsg. von Urs Engeler, 2017
18.03.2023
(Der surrende Propeller sprach:)
Je mehr die Bilder weite Beziehungen enthalten, desto länger behalten sie ihre bestürzende Kraft. Man muß, sagt man, die Betroffenheit des Lesers schonen. Ach! wo! Kümmern wir uns lieber um die unangenehme Abnutzung der Zeit, die nicht nur die Wucht, sondern auch die beizende Kraft des Ausdrucks eines Meisterwerks zerstört. Haben nicht unsere zu oft begeisterten Ohren BEETHOVEN und WAGNER <abgenutzt>? Man muß also in der Sprache zerstören; Bilder-Clichés, farblose Meta-phern, also fast alles.

Filippo Tommaso Marinetti:
Technisches Manifest der futuristischen Literatur, 7. (In Walter Höllerer: Theorie der modernen Lyrik, Rowohlt, 1965)
12.03.2023
Dem Tölpel jedoch wurde Biersatz statt Butter gegeben.
.

Gilgamesch, 10, 42
05.03.2023
4.11.18, meine Fresse
mein Essayismus dieser
schwarze Vogel wie er
gegen das Fenster
KNALLT,
nun ja habe mir den Schädel an einem Möbelstück zerfranst,
ich meine overkill!

Friederike Mayröcker:
da ich morgens und moorsgrün. Ans Fenster trete (Suhrkamp, 132) 2020
26.02.2023
Status
Wenn in drei Minuten die Welt unterginge, würde ich noch einen Aphorismus/ schreiben.

Jan Kuhlbrodt:
Die letzte Hose (in "Das Land und ich wir werden", Gans Verlag) 2023
19.02.2023
Jene griechischen Tragödien kamen Liturgien gleich. Noch hör-ten die Götter und die Unterwelt zu, und es war beabsichtigt, daß sie zuhören sollten. Und dies nicht nur im Griechenland der Antike, sondern in der ganzen Welt, überall und zu allen Zeiten, wo immer die Menschen das Ohr der Geisterwelt und der Götter oder des Gottes zu erreichen suchten, verwendeten sie eine Beschwörungssprache. Sie legen alle Betonungen und Flexionen ihres Arbeitsalltags ab, ohne die sich menschliche Wesen kaum verständigen können, und ziehen sich auf diesen mehr oder weniger ekstatischen, einfachen Gesang zurück. Als ob jene Geister usw. irgendwie zu verstehen gegeben hätten, daß sie auf nichts anderes hören würden. Es ist uns so angeboren. Wir ent-decken es für uns in den Momenten, in denen wir das Gefühl haben, beten zu müssen.

Ted Hughes:
Innere Musik (in "Wie Dichtung entsteht") 1995/2001
11.02.2023
Das Versprechen als ursprünglicher Entwurf künftigen Verste-hens kann seine eigene Möglichkeit immer nur versprechen, sich selbst aber als genuines Versprechen niemals vollziehen.

Werner Hamacher:
Entferntes Verstehen, Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan (Kap. Lectio: De Mans Imperativ) 1998
05.02.2023
Wer von uns hat nicht, in den Tagen seines
Ehrgeizes, geträumt vom Wunder einer Prosa, dichterisch, musikalisch ohne
Rhyth-mus und ohne Reim, schmiegsam genug und schroff genug, um sich den
lyrischen Bewegungen der Seele, den Schlängel-bewegungen der Träumerei, den
plötzlichen Sprüngen des Bewußtseins anzupassen?

Charles Baudelaire:
Brief an Arsène Houssaye, 26. 08. 1862
übersetzt von Werner Wanitschek
29.01.2023
Diese zwei Arten des "Sehens" [Beobachtung & Intuition] über-schneiden sich unablässig. Ihr gemeinsamer Punkt ist die sicht-bare Figur, in der der Blick das Unsichtbare erfaßt, das sich in ihr bewegt. Der Spiegel ist das Instrument, das den Übergang (transsumptio) von dem einen "Sehen" zum anderen ermöglicht. Vom Text umschlossen, nimmt er den Platz ein, den die Gedicht-zitate in den mystischen Traktaten des 16. Jahrhunderts inne-hatten. Für das Sehen ist er das, was das "Zitat" für das Sprechen ist. Er gliedert die Prosa der Rede durch unerwartet gesetzte Punkte, in denen sich mehrere Bereiche kreuzen.

Michel de Certeau:
Nikolaus von Kues: Das Geheimnis eines Blickes (1984, in "Bildlichkeit. Herausgegeben von Volker Bohn", 1990.
21.01.2023
Was wir heute Kulturkritik nennen, hat sich seit der
Antike es Ideals der unverletzten Erde, der inviolata terra, bedient und
es an der utopischen Vorstellung des goldenen Zeitalters abgelesen, das seine Freiheit
von Mühe und Sorge gerade durch die Un-kenntnis aller Art von technischen
Fertigkeiten besessen haben sollte.

Hans Blumenberg:
Schriften zur Technik, S. 216.
(1966/7) Suhrkamp 2015
15.01.2023
Spiele
das Spiel. Sei nicht die Hauptperson. Such die Gegen-überstellung. Aber sei
absichtslos. Vermeide die Hintergedan-ken. Verschweige nichts. Sei weich und
stark. Laß dich ein und verachte den Sieg. Beobachte nicht, prüfe nicht, sondern
bleib geistesgegenwärtig bereit für die Zeichen.

Peter Handke:
Über die Dörfer, 1982 sowie
der Anfang seiner Nobelpreisrede, 2019
08.01.2023
Dieser ganze fatale Optimismus, so verdächtig erwünscht und so genau nach Maß. Augen und Ohren fest geschlossen und ein strahlendes Lächeln auf allen Gesichtern, ein Lied, drei, vier, so marschieren wir zukunftsgläubig in die tausendundeine Art von Sklaverei. Es wird Ernst gemacht, die perfekt funktionierende Gesellschaft herzustellen. Wir haben keine Zeit mehr, Ja zu sagen. Wenn unsere Arbeit nicht als Kritik verstanden werden kann, als Gegnerschaft und Widerstand, als unbequeme Frage und als Herausforderung der Macht, dann schreiben wir umsonst, dann sind wir positiv und schmücken das Schlachthaus mit Geranien.

Günter Eich:
Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1959. (In Eich: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 626 f)
01.01.2023