Frank Milautzcki, Armin Steigenberger: dokument_31
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Kristian Kühn
Frank Milautzcki, Armin Steigenberger: dokument_31. Ein glossay. Mit Fotografien von Michael Wagener. Frankfurt a.M. (gutleut verlag – Reihe licht, Bd. 11) 2023. 160 S. 29,00 Euro.
Dobernickel, ein Zeichen?
Der Verleger, Künstler und Fotograf Michael Wagener reicherte den im Herbst bei seinem gutleut Verlag erschienenen Lyrikband „dokument_31“ mit doppelbelichteten Textpositiven und -negativen an, die in apokrypher Form Seiten aus dem Buch collagieren, überlagern und dabei einen Spaltlang frei auf den Titel eingehen. Und wenn man herausfinden will, was der Titel verbirgt, kommt man nicht weit. Die Fotospiele sind auf ihre Weise ebenso Platzhalter für Kunst wie es der abstrakte Titel für einen Titel ist. Frank Milautzcki und Armin Steigenberger hatten zuvor schon die Gelegenheit, eine Kostprobe ihrer ungewöhnlich kreativen Zusammenarbeit 2021 im Black Ink Verlag unter dem (im Gegensatz dazu) scheinbar schwer spezifizierten Titel „sprich: malhorndekor & barbotine“ zu liefern und damit in Fachkreisen einen ziemlichen Eindruck zu hinterlassen. So spricht Erec Schumacher aus Berlin in seiner Rezension „Hingetanzt in Fahrtrichtung“ von einem „symbiotischen Schreiben“, mit dem sie „ihre individuelle Autorschaft in einem kollaborativen Schreibprozess hinter sich zu lassen“ versuchen, um „in einem gemeinsamen Textkorpus miteinander zu verschmelzen.“
Die Spurensuche nach Passagen, die der eine geschrieben hat und der andere nicht, bleibt auch in diesem Werk unsicher wie etwa eine google-Suche, was für eine Art Dokument 31 sich hinter dem Titel verstecken könnte, ob es sich dabei etwa um die „Haftung des Vereins“ handelt oder um einen „Rücktritt vom Versuch der Beteiligung“ oder um eine „Unterrichtung auf dem Dienstweg über die Entwicklung aufgrund einer Hochrechnung der Juli-Ergebnisse“: Man kann schmunzeln und Vermutungen anstellen, doch führen diese nicht ins Gewisse.
Auf dem Cover befindet sich übergroß ein Steinpilz. Ein Boletus edulis (=essbar), und schaut man ins deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm, so erklärt sich der Name Steinpilz „wegen des festen Fleisches“. Da fällt mir das Gedicht „Deine Silbe Grimm“ von Marcel Beyer ein:
Das Wörterbuch. Das deinenKopf bestimmt. DeinNachtmahr, deine Auslegware,dein Standgericht und deine
Tischvorlage (Ein langhaariger,schwerer Mann samtseinem Schatten, wie er imDunkeln Anlauf nimmt.) Das
Wörterbuch. Dein Ohrenschutz,Dein DNA-Test und deinZeugenprotokoll. Dein Schemen.Deine Silbe Grimm.[usw.]

Liest man das Gedicht weiter, ist auch ein Zitat von
Johann Fischart eingeflochten, „dem grossen karnevalesken
Sprachspieler und Spracherfinder des Frühneuhochdeutschen“, wie sich Walter
Fabian Schmid in seiner Gedichtbesprechung zu Beyer äußert, und dabei sind wir
auch in den Gefilden von Milautzcki und Steigenberger. Sie verballhornen
Begriffe, über-schreiten Metaphern und poetologische Gewohnheiten, so wie einst
Fischart oder Rabelais, den ersterer auf seine Weise ins Deutsche übertrug, in
seiner Lust nach Metapoesie und grenzfreier Sprache (Fischart: „Affentheurlich
Naupengeheurliche Geschichtklitterung“). Nun sind wir heute ja
eher in puritanischen Zeiten als in einem üppigen Mittelalter oder Barock,
obwohl manche dennoch behaupten, ein solches würde allmählich wieder auf uns zu
schwappen. Nahezu bescheiden in diesem Zusammenhang ist das von unseren beiden
Sprachspielern gewählte Motto aus Finnegans Wake:
I
can see that, I see you are.
How
does it tummel?
(…)
„Rührt was in dir auf“, beim
Manipulieren der Silben (Liste/List – Der Zipfel/ der zäpfel/ Raffzuffer!/ Draufäffer!
Laufgepisse! S. 75), das Empfinden zu sein, wenn das Bewusstsein schwankt beim
Lesen von Joyce? Oder im Gargantua? Pantagruel? Dieser Fährte gehen die beiden
nach und wählen für sich eine gemeinsame sprechende Leitfigur: den Boletus
Quimpus Grimm, der in diesem „Glossay“ (wohl aus Glosse und Essay) eine
durchgehende Bezugsperson ist, die sich auf das Grimmsche
Wörterbuch beruft, auf den Steinpilz und mit Quimpus unter anderem auch auf die
Knotenschrift flüssiger unfixierbarer IT-Einwirkungen, etwa bei tiktok oder einfach
nur traditionell in der Encyclopædia Britannica (Quipu, an
accounting apparatus used by Andean peoples from 2500 BCE, especially
during the Inca empire of the 15th and 16th centuries).
Und die beiden, die sich von gleich an auch fratres
nennen, verschmelzen in eins, indem sie schreibend ihre Wünsche mit Silben austauschen.
Wie es bei Lewis Carroll schön heißt: Im Meer ist die Koralle der Chor für
alle.
„frater x an frater y: Hömma Brudi, ruft der Trickster [und sorgt für den perfekten Aufklatsch nach dem Kommasaufen!], deine Ambivalenz lässt voll zu Wünschen übrig!“ (S. 75)
Dieses „Doppelseitendings“ des Bewusstseins wird
spätestens im Kapitel 7 zur Desillusion.
„Davon berichte nicht! Du befindest dich in der Moderne.“ (S. 94).
Unmut über ein sich hinziehendes Dichterdasein
heutzutage kommt mit der Hinterfragung des Bewusstseins selbstverständlich auch
auf, gemäß dem von Joyce im Vorwort angekündigten „tummel“:
„Sind wir gewieft oder symbiotisch an das früheDunkel gebunden, dem wir schreiend entkommenmüssen. Oder in den Anzeigentexten, die man unsals lyrische Revolutionen anbietet, Zickzackflugder Fliegen, in Kammer 1 rechtsrum zu wickeln, in Kammer2 linksrum, ohne Brückengleiche, aber mit einer Lage Kupfer-folie gegen das Thema magnetopathischer Selbsterregung.“ (S.94f.)
In das schlingend Verschlungene ist eine Blütenlese,
ein Florilegium alter Begriffe und Weisheiten eingefaltet, mit deren Hilfe collagierte
Sprachspielsplitter Nahrung für Verballhornungen erhalten und nie ganz unernst
oder gar verbiestert erscheinen. Sie halten sich die Waage, wie einst die
alchemistischen Fratres nie zugaben, dass es sich um sie handelte, frater non
frater hieß es gar. So geht das Gedachte und Erlebte nie ganz verloren, auch
wenn man das Gegenteil behauptet. So mag der Kalauer dem Wahnsinn nahe und doch
so genau sein.
Novalis hatte diese Art von Literatur, glaub ich,
grammatisch genannt (im Gegensatz zu den beiden anderen Richtungen, der
verändernden und der mythischen). Und von ihr die Fähigkeit zum Diskurs geschätzt.
In diesem Fall die Fähigkeit, Diskurse zu touchieren, zu collagieren, und sei
es ohne scheinbaren Sinn oder Bezug, in einem Feuerwerk von Einfällen, zu
geschliffen für einen inneren Monolog, eher versteckt als überlebensfähige
Rhizome im unterirdischen Wurzelwerk. Gleich zu Anfang (S. 15) wird die Antwort
auf die Frage nach dem inneren Aufruhr (tummel) im Erwachen Finnegans gegeben:
„Die Antwort liegt im Sangzugang. Eine Hosenklammer mit dem Emblem der Lipuser. Halt sie dir vom Hals und sei stattdessen eine Freuende. Die großen Fragen legen an, aber auch all die Unken, schicken unverlangte Manuskripte und Ausbildungsunterlagen, die nirgends ins Offene tauen, stattdessen anlegen ans gekonnt Ungewisse im Raum der Akademie, der Agendarüttler:innen und Hochkomma:tösen mit Bachelor.“
Der Dokumentation_31 kann man durchaus auch einen
gewissen Übermut konstatieren, (S. 17: „Du träumst: Leben kam, verfehlte,
fehlte, kam …“), oder, was gerade die Bestimmung betrifft, diesen
„Sangzustand“, auch bei Amusie oder der Musikverarbeitung im Gehirn:
„Beim nächsten Elisenton ist es
Viertel vorm Idiom …“ (S. 21). Für Elise, vom tauben Beethoven, Hallräume tun
sich auf, könnten es, auch wenn es zuweilen – aufgrund des Feuerwerks der
Einfälle – zu schnell geht. So etwa beim Schierlingsbecher, den Sokrates zu
trinken hatte: „Ich habe den Durst von fünf Büßerinnen, ich will den
Stierschling/ trinken von der Sommelière, Schlierenfang wecken,/ ich blieb
ungehört und traurig im Backup als Fakt versorgt.“ (S. 29)
Ja, die mangelnde Rezeption, das Verpuffen von
Einfällen, die Lipuser als Lippennutzer, alle Bereiche der Existenz werden als
Wortkaskaden angeschwemmt. Es mangelt an nichts.
„Oder doch [ich bin nicht sicher, alles selbst zu erleben]“ (S. 47)
Es bleibt die Liebe zur Alliteration. Und doch:
„Mir ist nicht wohl beim Erreichten. Es ist immer nur Streit.“ (S. 64)
Nun suchen die Fratres Erlösung von sich selbst im
Rausch, ein „Hirngespinst“ (S. 31), ein Wortgesöff soll sie umfluten, doch dann
erinnern sie sich an die Worte Schleiermachers:
„Durch Herausreißen einer Stelle aus ihremZusammenhange in der Nachahmung wird sieeben Blume, Manier. Alles Blümeln ist Produkteiner nachahmenden Unfähigkeit das Individuelleaufzufassen.“ (S. 78)
Die Blütenlese berge nurmehr bloß „Ichkrümel“ (S. 98),
fürchten die beiden, wodurch ihr Anspruch auf einen Hallraum für Moral in
diesem Dokument_31 nur noch evidenter wird. Doch auch der auf Poetologie erhebt
sich spätestens mit dem Kapitel 6 (Meldentutorial), in dem der gemeinsame Boletus
Grimm gleich den Auftakt gibt mit:
„Die Gier nach dem Wort ist kein völlig neuer Akkord.“ (S. 67)
Das Folgegedicht namens „Aus dem Schutt
hervorgekommen“ (S. 68) handelt dann auch von dem Versuch, an den Illusionen
nicht zu ersticken, sondern sie rüberzuschneiden „ins Atmen“. (S. 68) – dieses sei
das Dokument_31:
Ichrummel
und des Weiteren? Sich tummeln,
sich
fragen: bist du denn Zeichen?
Dieses Zuschnitzen des Materials auf die beiden
„Helden“, zum Zeichen hin, ihr Suchen nach dem Rhythmus einer enzyklopädischen Collage
bildet die Grundlage ihres Poetikplans: Ja, dieser Anspruch wird spöttisch und
auf Distanz erfüllt, insofern dieser zu keinem Zeitpunkt und an keiner Stelle
anders als ein sich selbsthinterfragendes „Ludibrium“ ist, also ein lustiges,
anregendes Spiel oder humoriger Zeitvertreib, so wie damals 1616 Johann
Valentin Andreä seine „Chymische Hochzeit“ bezeichnete, als er im Verdacht
stand, Häretiker des Geistes zu sein, und wie dies James Joyce und dann David
Foster Wallace wieder aufgriff, diesen unheimlich hallenden Spaß. Oder Fischart
in seiner Gargantua-Pantagruel-Über-tragung. Allesamt lustig (donnerndes
Gelächter / donnernder Applaus, das erwartet man bei Rabelais) in jeweils ihrer
Grimm‘schen Weise, wenn man sie auf Deutsch lesen will. Ein bisschen
verhaltener.