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Fragen an die Leitung der Akademie für Lyrikkritik

Dialoge
Fragen an die Leitung der Akademie für Lyrikkritik

Die Akademie zur Lyrikkritik am Haus für Poesie wird neu aufgelegt. Bis zum 31. Oktober 2020 konnten Bewerbungen eingereicht werden zur Teilnahme im 1. und/oder 2. Halbjahr 2021 mit den Themen: Europäische und intermediale Perspektiven der Lyrikkritik. Daraus ergaben sich ein paar Fragen an Asmus Trautsch und Hendrik Jackson:

Lieber Asmus, lieber Hendrik, es freut mich, dass die „Akademie zur Lyrikkritik“ in Berlin weitergeführt wird. Und gleich aus Neugier: Was hat zur Entscheidung geführt, Änderungen personeller wie auch inhaltlicher Art vorzunehmen?

Aufgrund der Tätigkeit von Hendrik Jackson im Ausland haben wir schon frühzeitig angefangen, die Durchführung der Lyrikkritikakademie auf zwei künstlerische Leiter zu verteilen. Das hat sich dann auch bewährt. Hendrik Jackson wird die Dokumentation des Projekts auf lyrikkritik.de weiterführen, Asmus Trautsch wird das zukünftige Projekt leiten und die Workshops und Veranstaltungen durchführen. Inhaltlich ist es so, dass es naturgemäß nur ein gewisses Kontingent an ausgewiesenen LyrikkritikerInnen gibt. Auch das Pecha Kucha-Format ist zwar aufregend, sollte aber nicht endlos ausgereizt werden. Von daher bot sich eine Erweiterung formeller Art an.
Vor allem aber basiert die thematische Neuausrichtung auf der Beobachtung, dass in Zeiten, in denen es in allen Gattungen und Künsten einen enormen internationalen Austausch gibt, dies ausgerechnet in der Kritik kaum der Fall ist. So wie wir mit der ersten Runde der Akademie Neuland beschritten haben, indem zum ersten Mal ansatzweise systematisch Kriterien, Geschichte und Möglichkeiten der Kritik untersucht und diese in verschiedenen Formaten im Hinblick auf die Analysen und Diskurse erprobt wurden, so erweist sich auch in der zweiten Runde die Lyrikkritikakademie als Pionier, indem sie erstmals internationale LyrikkritikerInnen zusammenführt. Zudem bringt sie die Lyrikkritik ins Gespräch mit anderen kritischen Diskursen wie dem über Design oder Film. Wir erhoffen uns, dass diese ersten Schritte zu viele weiteren führen, sowohl bei den Zeitungen und Zeitschriften als auch in den Universitäten und in der Öffentlichkeit.

Welche Auswirkungen hat bei euch in diesem Jahr die Pandemie hinterlassen und was für Konsequenzen plant ihr daraus für die beiden Seminare nächstes Jahr?

Wir hatten das Glück, dass wir die Workshops selbst verschieben und dann doch noch durchführen konnten, bei der Präsentation der Ergebnisse, den Veranstaltungen mit Pecha Kuchas, mussten wir auf Online-Sendungen umstellen. Das hat auch Vorteile, was die Planbarkeit und Präzision angeht. Solange die Situation so ist, werden wir den Fokus auf die positiven Effekte richten.

Werden die Präsentationen und die Workshops unter Umständen digital laufen, also die Workshops über Zoom etwa? Und die Präsentationen, im kleinen öffentlichen Kreis und zugleich über Stream? In der Ausschreibung steht etwas von einem anschließenden professionellen Video.

In der derzeitigen Situation kann niemand klare Prognosen abgeben. Unser Ziel bleibt, Menschen, wenn epidemiologisch verantwortbar, vor Ort zusammenzubringen, um möglichst lebendige Diskussionen zu ermöglichen. Insbesondere Workshops leben von offener und kontroverser Debatte. Zugleich hat die Pandemie gezeigt, dass sich durchaus produktive Formate für eine digitale Öffentlichkeit entwickeln lassen, wenn alle mitmachen. Wir werden ggf. auch auf hybride Formate setzen. Im Herbst haben wir einen Workshop mit Klaus Kastberger im Haus für Poesie durchgeführt, bei dem einige vor Ort waren, andere aus verschiedenen Ländern per Zoom teilnahmen. Die Videos werden von den Lecture Performances erstellt werden. Sie sind keine Verlegenheitslösung in der Pandemie, sondern eine bewusste Entscheidung, um weiterhin die performative Live-Dimension mit der langfristigeren Wirkung in der digitalen Öffentlichkeit zu verbinden und einen neuen Vermittlungsweg für die Lyrikkritik zu erproben.

Wieviel Seminarteilnehmer*innen sind vorgesehen? Weiterhin 10? Oder erweitert ihr den Kreis, weil ihr die Zukunft im Digitalen erwartet?

Ja, wir haben gute Erfahrungen gemacht mit 10 Teilnehmer*innen, sowohl in der Diskussion, an der sich alle beteiligen können, als auch bei den Präsentationen, die ja als Lecture Performances noch etwas länger dauern könnten als die streng auf 6:40 limitierten Pecha Kuchas.

Mehrsprachigkeit von Lyrik – meint ihr damit eine Analyse ausländischer Kritiken im Vergleich zu den deutschen, etwa Anne Carson im englischsprachigen Raum und hier, oder bezieht sich das auf Gedichte, in denen mehrere Sprachen ineinander verknüpft sind oder gegeneinanderstehen?

Zunächst das Letztere: Mehrsprachigkeit von Lyrik ist ein spannendes Phänomen gegenwärtiger Lyrik, das u.a. die zunehmende Vielsprachigkeit von Dichter*innen spiegelt, die nicht nur eine Muttersprache haben, und die Neugier auf andere Sprachen, die man heute leichter kennenlernen kann als je zuvor. Auch eine vielfältige Übersetzungspraxis wirkt verstärkend auf mehrsprachiges Schreiben ein. Die Akademie möchte, dass die Lyrikkritik diesem Phänomen gerecht wird und dafür Werkzeuge und Methoden entwickelt. Aber uns interessiert ebenso die international wechselseitige Aufmerksamkeit für Formen und Praxen der Lyrikkritik in unterschiedlichen Sprachräumen. Lyrik wird übersetzt (wenn auch noch zu wenig), aber Lyrikkritik?

Und im zweiten Halbjahr, die intermedialen Perspektiven, sind die als formale Erweiterung der Kritik gedacht, indem sie sich aus neuen Forenkonzepten, neuen Medien oder Mischformen, etwa auch Verkauf von Videos statt Büchern usf. ergeben, falls der Markt zusammenbricht, oder ist damit gemeint, das sich eventuell neue Vortrags- und Lyrikformen entwickeln, etwa Szenisches, Nomadisches, oder auch technisch Multimediales, und die Kritik da mithalten will und sich darauf einzustimmen und vorzubereiten hat? Quasi als Brainstorming, wie es früher hieß.

Wir denken die intermediale Perspektive als Erweiterung, nicht als Ablösefigur. Sie betrifft sowohl die Lyrik als auch ihre kritische Reflexion. Gedichte werden längst nicht mehr nur in Buchform oder in Zeitschriften publiziert, sondern finden auch im digitalen Raum, in Videos, Poesiefilmen, auf Postern oder Flyern, als Tattoos, auf T-Shirts oder an Hauswänden weitere Öffentlichkeiten. Das sollte die Lyrikkritik mitdenken. Zudem ist es reizvoll, wie schon bei den Pecha Kuchas mit neuen Formaten der Lyrikkritik selbst zu operieren, die mehr in die dominante visuelle und digitale Kultur wirken, auch im Sinne von Vermittlung von Poesie.

Oder anders: Wollt ihr beim Experimentieren des Lyrikmarkts mithelfen, dass dieser sich erweitern und ökonomisch erfolgreicher werden könnte, oder bleibt euer Hauptaugenmerk auf der Ausbildung zum Kritiker, zur Kritikerin und der Kritikfähigkeit.

Unser Hauptaugenmerk war nie auf der Ausbildung zum Kritiker, eher schon um die Förderung der Kritikfähigkeit, wie du ja auch schreibst. Uns ging es wesentlich um drei Dinge: Zum einen der Kritik gerade mehr Raum und Möglichkeiten zu verschaffen, gegen die mediale Verengung zur Dienstleistung anzuarbeiten. Zum zweiten einen ersten Schritt zu gehen, um die enorme Lücke, die zwischen Literaturwissenschaft hier und betrieblicher Rezension dort zu füllen, zwischen vermeintlicher strenger Objektivität und einem subjektiven Geschmacksurteil eine Schneise zu schlagen für Kritik als einer Art synthetischer Disziplin, die wie Essays Objektivierung mit persönlichen Standpunkten und Reflexion der Wertungsvoraussetzungen mit eigenem Formanspruch verbindet. Zum Dritten ging es auch um eine Kritik der Kritik, um die Infragestellung der Kritik als Position des Urteilens, auch mit Mitteln der Poesie. Hier erweist sich gerade die Lyrikkritik als besondere Optik auf die Versuche der Dichtung, das Korsett vermeintlicher Neutralität und Beherrschbarkeit durch Sprache durch eine Arbeit an der Sprache selbst zu öffnen.

Der Begriff Lecture Performance lässt erahnen, dass euch auch neue Formen der Kritik umtreiben, in der Hoffnung, dass Lyrik und Kritik zwei Enden ein und derselben Lebensform sind und sich gegenseitig bedingen und weiterentwickeln – Mit Zuspielern und mitgebrachten Gegenständen könnten diese Performances ja selber kleine Stücke werden – Szenen, die pädagogisieren, sich entfernen vom besprochenen Sujet oder eine Metaversion des Textes simulieren. Und dazu: Ist weiterhin die poetische Kreativität wichtiger als Analyse und Kritik?

Nein, die Kritik ist in unserer Sicht gerade nicht durch ein Primat gekennzeichnet, das im Übrigen einen falschen Gegensatz zwischen Kreativem und Analytischem voraussetzte. Gedichte können analytisch schärfer sein als Theorien, diese wiederum bedürfen kreativer Prozesse für ihre Entwicklung. Kritik ist in unserer Sicht eine literarische Gattung mit eigenständigen Formansprüchen. Zugleich hat sie die Aufgabe, als Text über andere Texte – hier Dichtung – nachzudenken. In den Pecha Kuchas hat teilweise ein künstlerischer Formwillen Arbeiten hervorgebracht, die in ihrer eigenständigen ästhetischen Dimensionen nicht immer als Lyrikkritik identifizierbar sind. In den Lecture Performances und Videos soll wieder stärker die reflexiv-vermittelnde Funktion der Lyrikkritik zum Tragen kommen, denn Lyrikkritik arbeitet an anderen Texten und lebt davon, ihre Machweise und Wirkung zu beschreiben, ihre Reize herauszuheben, ihr poetisches Denken zu rekonstruieren und sie nach transparenten wie pluralen Kriterien zu bewerten. Zugleich kann das – wie du sagst – bis ins Szenische lebendig vermittelt werden. In diese Richtung wird unser Experiment gehen. Wir sind natürlich gespannt, welche eigenen Impulse die Teilnehmer*innen setzen, wie sie uns und das Publikum überraschen und welche Zugänge zur Vielfalt des Poetischen sie öffnen werden.

Wir wünschen euch viel Erfolg – und erstmal vielen Dank für das Gespräch.

5. November 2020


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