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Felix Philipp Ingold: Vom «Formsinn» des Gedichts

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Felix Philipp Ingold
Vom «Formsinn» des Gedichts


Längst sind die Zeiten vorbei, da ein Gedicht beziehungsweise die Lesart eines Gedichts die Geisteswelt in produktive Aufregung versetzen konnte. Weit mehr als ein halbes Jahrhundert ist vergangen seit der Veröffentlichung der mytholinguistischen Modellanalyse von Charles Baudelaires Katzengedicht («Les Chats», Erstdruck 1847), die der Ethnologe Claude Lévi-Strauss und der Sprachforscher Roman Jakobson 1962 gemeinsam vorgelegt haben, eine Studie, die nachfolgend als eine Meisterleistung strukturalistischer Lyrikexegese weltweit rezipiert, kommentiert und im Übrigen auch kritisiert wurde.
            Heute wird dieses Pionierwerk bestenfalls noch als historisches Faktum verzeichnet, für die Literaturwissenschaft und vollends für die literarische Tageskritik hat es seinen Modellcharakter verloren. Der Grund dafür liegt vorab darin, dass die Poesie inzwischen weltweit einen radikalen Wandel erfahren hat – fort von formalistischer Wortkunst, wie sie damals in Paris ebenso wie in Berlin, Moskau oder New York trendbestimmend war, hin zu der kolloquialen Besinnungs- und Gesinnungslyrik, die mit der Nobelpreisträgerin Louise Glück internationale Beglaubigung gefunden hat.
          Wenn die Dichtung der 1960er bis 1980er Jahre – etwa im französischen Werkkreis für potentielle Literatur, bei den deutschen «Konkreten» oder den russischen «Konzeptualisten» – vorzugsweise als «Poesie der Grammatik» praktiziert, die Sprache also nicht mehr primär als Medium, sondern als Material genutzt wurde, verkehrte sich diese Präferenz nachfolgend in ihr Gegenteil: Die Inhalte (Aussagen) gewannen erneut Vorrang vor sprachlicher Formbildung; das Hauptinteresse galt nicht mehr dem Wort, sondern dem Satz, auch nicht mehr dem Wortklang, sondern der Wortbedeutung.
          Von daher kann ein sprachwissenschaftlicher Zugang zu heutiger Lyrik nicht mehr das gleiche Interesse und auch nicht mehr vergleichbare Ergebnisse zeitigen wie bei Erscheinen der Studie von Lévi-Strauss und Jakobson. Auch wenn deren Formanalyse ein Gedicht des mittleren 19. Jahrhunderts zum Gegenstand hat, ist sie doch exemplarisch für das strukturalistische Textverständnis des mittleren 20. Jahrhunderts und steht offenkundig im Zeichen der damals dominanten dichterischen Praxis. Schon 1925 hatte Roman Jakobson die Forderung erhoben, die Literaturwissenschaft müsse «Hand in Hand» mit der zeitgenössischen Literatur «voranschreiten»: «Genug der hohepriesterlichen Geheimniskrämerei, der delphischen Prophezeiungen! Die Wege des Dichters sollen bewusst sein, und seine Intuition wird nur gewinnen, wenn er sich auf den Stahlbeton der wissenschaftlichen Analyse stützt!» Dies also mit Betonung der Rationalität dichterischer Arbeit und mit der Empfehlung von «Stahlbeton» an Stelle von interpretativen Erwägungen oder Spekulationen.


Mit unvergleichlichem intellektuellen Scharfsinn und präzisem philologischen close reading wird hier ein kompaktes dichterisches Werk Vers für Vers, Wort für Wort, Silbe für Silbe durchgenommen und nach grammatikalischen, phonetischen und prosodischen Kriterien sortiert. Entsprechungen und Kontrastbildungen aller Art werden als Spezifika dichterischer Rede klar herausgestellt, auch solche zwischen «Form» und «Sinn». Die sprachzentrierte Lesart des Gedichts wird so konsequent (man könnte auch sagen: so stur) vorangetrieben, dass sie bisweilen ins Spekulative, sogar ins Absurde verfällt, etwa dort, wo das «weibliche» Genus oder der «weibliche» Reim als generelle Entsprechung für «Weiblichkeit» gelten sollen.
             Insgesamt und allgemein postulieren die beiden Verfasser den Primat der Sprachform über die Aussage und den Sinn des Gedichts, so als würde dieses von der Grammatik und Phonetik gleichsam diktiert und als wäre die Funktion des Dichters darauf beschränkt, formale sprachliche Vorgaben umzusetzen. Für sie «zerfällt» (nach ihrem Wortgebrauch) der Text in sprachliche Partikel, als ein Ganzes gerät er aus dem Blick. Baudelaires «Katzen»-Gedicht hätte demnach vorrangig als Sprachwerk zu gelten, mithin eher als ein Werk der Sprache denn ein Werk des Dichters. Dass Baudelaire in erster Linie von Regulativen und Formvorgaben der französischen Sprache sich hat leiten lassen, konkret von denen, die in der Analyse zu Dutzenden aufgelistet werden, ist kaum anzunehmen, hat er doch selbst sein Werk als «magische» Hervorbringung bezeichnet.
          Den althergebrachten Dualismus von «Form» und «Sinn» haben Lévi-Strauss und Jakobson am Leitfaden des Baudelaire-Gedichts mit wissenschaftlicher Akribie zwar herausgearbeitet, nicht aber eingebracht in eine ganzheitliche Würdigung des Texts als eines integralen künstlerischen Werks: «Sinn» und «Form» werden hier weiterhin unterschieden, wobei letztere dem «Sinn» in jeder Hinsicht vorgeordnet bleibt.


Auf diese formalistische Hierarchisierung und die dadurch verursachte Trennung der Ausdrucks- von der Bedeutungsebene hat der französische Sprach- und Literaturphilosoph Henri Meschonnic dezidiert kritisch reagiert mit dem Postulat eines integralen «Formsinns», der den angeblichen Gegensatz von «Form» und «Sinn» begradigen beziehungsweise zu unauflösbarer Einheit verschmelzen soll: Das Poetische könne sich nur als ein Ganzes konstituieren, und das Gedicht müsse dementsprechend auch gelesen werden – als ein ganzheitliches Sprachwerk, und nicht bloss als ein Gefüge von Wörtern, Wortformen, Phonemen und Schriftzeichen. Damit wäre, meint Meschonnic, der obsolete Zwiespalt zwischen Sprachform und Aussage aufgehoben.
           Eine besonders originelle Problemlösung ist das allerdings nicht. Man könnte sich diesbezüglich ebenso gut auf die vage Vorstellung einer «magischen» oder «auratischen» Wirkung von Poesie zurückbesinnen. Doch Meschonnic hält statt dessen den von ihm neu erarbeiteten Begriff des «Rhythmus» bereit, mit dem er das Gedicht – ungeachtet metrischer und strophischer Regulative – als ein sprachliches, geistiges, sinnliches Fluidum zu fassen sucht, das keinerlei interne Spaltungen aufkommen lässt.
             In einem Interview («Stimmen in der Poesie», frz. 2007) präzisiert Meschonnic die sinnbildende Funktion des Rhythmus wie folgt: «Der Rhythmus ist die Bewegung des Sinns. Den Rhythmus als Organisation der Sprachbewegung zu privilegieren, bedeutet also keineswegs, den Sinn ausseracht zu lassen … Das Gegenteil trifft zu. Wenn man den Sinn privilegiert, verdrängt man die Gesamtbewegung des Satzes. Und schon wird der Begriff des Sinns zum Hindernis für das Denken der Sprache – ein grosses Paradox.»
                  Rhythmus, so verstanden, ist «Formsinn», ist Sinn- und Formträger gleichermassen, ist die fundamentale Energie, die den Gedichttext und damit das Werk als Ganzes erbringt. Die rhythmische Form- und Ausdruckskraft erweist sich bei Meschonnic immer auch als eine Lebenskraft, gespeist aus der Leiblichkeit des Autors, verschränkt mit seinem sozialen Umfeld und daher sowohl ethisch wie politisch relevant – Poetik mutiert hier gewissermassen zu einer «Poethik», die über die Dichtung als Sprachkunst weit hinausweist.
                   Ungeklärt bleibt dabei, was es mit dem «Sinn» in der Verbindung des «Formsinns» auf sich hat, unklar auch, ob – und dann: weshalb? – «Sinn» (sens) bedenkenlos mit «Bedeutung» (signification) gleichgesetzt wird, eine Gleichsetzung übrigens, die auch schon bei Lévi-Strauss/Jakobson unreflektiert vorliegt.


Dem strukturalistischen Rigorismus setzt Henri Meschonnic ein lebensphilosophisches Dichtungskonzept entgegen, wenn er (in «Ethik und Politik des Übersetzens», frz. 2007) festhält: «Als Gedicht bezeichne ich die Verwandlung einer Sprachform durch eine Lebensform und die Verwandlung einer Lebensform durch eine Sprachform. Anders als beim Zeichendenken dient hier die vierfache Wiederholung des Wortes ‘Form’ nicht der dualistischen Gegenüberstellung mit dem Sinn. Nein, Form wird hier als Organisation und Erfindung von Geschichtlichkeit verstanden, als Konfiguration eines Redesystems. Anders als das Gegensatzpaar Form/Inhalt versteht sich die Sprachkraft nicht als Gegenstück zum Sinn: Sie trägt und überträgt den Sinn.»     
              In einem andern diesbezüglichen Text («Jede Antwort ist eine Frage», frz. 2007) erläutert Meschonnic seine antistrukturalistische «Poethik» mit den Worten: «Das Gedicht ist ein ethischer Akt vorab dadurch, dass es das Subjekt verwandelt, denn es ist das Gedicht, das den Unbekannten entdeckt, der wir für uns selbst sind […]. Es ist das Gedicht, das den Dichter erschafft, und nicht der Dichter, der das Gedicht erschafft. Und wenn das Gedicht das Subjekt, das sich ihm einschreibt, verwandelt, dann verwandelt es auch das Subjekt, das das Gedicht liest. Folglich ist das Subjekt des Gedichts nicht der Autor, sondern die maximale Subjektivierung eines Systems von Diskursen.» Und so fort.
      Mit Rückgriff auf Charles Baudelaire versucht Henri Meschonnic sein Konzept zu rechtfertigen, das freilich dadurch nicht plausibler wird; er argumentiert: «Meines Wissens ist Baudelaire der Erste, der diese ethische und poetische Besonderheit vertreten hat, wobei er gleichzeitig an die Kunst um der Kunst willen (l’art pour l’art), an das Subjekt und die Modernität im ‘kleinen Leben’ […] dachte, mit seinem Begriff der ‘suggestiven Magie’, die das Objekt wie das Subjekt gleichermassen umfasst …»  – Mit diesem Votum (und mit vielen ähnlichen Verlautbarungen) markiert Meschonnic maximale Distanz zur strukturalistischen Gedichtanalyse, doch sein Gegenzug bleibt allzu summarisch und greift auf allzu viele Bereiche über, die ausserhalb der Dichtung wie auch ausserhalb der Sprache liegen: Ethik, Politik, vollends Magie sind keine literarischen, schon gar keine literaturwissenschaftlichen Kategorien.


Und doch lässt sich aus Meschonnics eigensinniger «Poethik» ein brauchbares, wenngleich simples Fazit ziehen: Das Gedicht baut sich gleichsam autopoetisch aus «rhythmischen» Impulsen auf, und nicht durch willkürliche Kombination von Wörtern, Silben und Lauten; und entsprechend soll es auch gelesen werden – als ein ganzheitlich zusammenwirkendes Ensemble physischer wie psychischer Energien am untrüglichen Leitfaden der Sprache. Ja, das mag sich eher «magisch» denn rational ausnehmen, doch für die übliche Praxis des Schreibens und Lesens von Gedichten taugt es allemal: Da wie dort geht die Stimmung dem Bestimmen voran, und letztlich ist eins vom andern kaum noch zu unterscheiden.


Literaturhinweis:
Roman Jakobson, «Form und Sinn», München 1974;
ders., «Semiotik» (Ausgewählte Texte, 1919-1982), Frankfurt a.M. 1988;
ders., «Die Lautgestalt der Sprache», Berlin/Boston 2020.
Henri Meschonnic, «Ethik und Politik des Übersetzens», Berlin 2021;
ders., «Modernität Modernität», Berlin 2024.


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