Etel Adnan: Zeit
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Ulrich Schäfer-Newiger
Etel Adnan: Zeit. Gedichte. Aus
dem Englischen übersetzt von Klaudia Ruschkowski. Hamburg (Edition Nautilus)
2021. 144 Seitzen. 22,00 Euro.
Verlass
das Mittelmeer nicht.
Diese Gedichte sollten tatsächlich
am besten am oder auf dem Mittelmeer gelesen werden! In tiefster Kontemplation
oder hellster Unruhe, zu dem dieses Meer fähig ist und dem die Menschen sich
anzupassen haben. Mehrmals fordert die Autorin in den Gedichten: verlass das
Mittelmeer nicht. Denn vom Mittelmeer, vom Mediterran, kommen diese Texte.
Wie die Autorin. Etel Adnan (1925 – 2021), war Künstlerin, Malerin,
Schriftstellerin, geboren in Beirut (wohin die Eltern nach der sog.
‚Kleinasiatischen Katastrophe‘ geflüchtet waren), die Mutter griechisch aus
Smyrna, der Vater Syrer, noch Offizier im Osmanischen Reich. Muttersprache
Griechisch, Vatersprache Türkisch, Schul- und Bildungssprache Französisch, in
dem auch die hier behandelten Texte ursprünglich verfasst sind. Später schrieb
sie auch auf Englisch. Lebte in Sausalito, Kalifornien (sie besaß auch die
amerikanische Staatsbürgerschaft), in London, wiederholt in Paris, wo sie starb.
Und alle diese verschiedenen
Kulturen und deren Geschichte sog sie auf und in sich und in ihre Bilder und
Texte hinein. Alle diese Orte, ihre Zeit und Bewohner erscheinen in ihren
Gedichten in verschiedenen Formen und Bildern. Und bestimmen ihr Selbstbild und
ihre Wahrnehmung: ich bin kein Phantom am / fremden Fluss. weder Leopard
noch / Eule. ich bin ein Luftstrom … Oder: ich teile das Eigentum / des
Himmels. ich wachse / wie ein Baum … Sie war eine stets der Kultur des
östlichen Mittelmeeres verhaftete Kosmopolitin im besten Sinne des Wortes: Ruinen
sind Relikte. / Da Abstammung nicht viel bedeutet, sind wir mit ihnen verwandt,
heißt es an einer Stelle des mit Baalbeck überschriebenen
Textzyklus.

Die Gedichte tragen keine Titel,
sondern sind jeweils Teil von sechs Zyklen. In denen die Zeit, ihr Ablaufen,
ihre Wahrnehmung im Licht des Mittelmeers im Mittelpunkt steht. Präzise Datums-
oder Ortsangaben sind Ausgangspunkte, zum Teil entstanden aus Dialogen mit
anderen Autoren. Oft scheinen diese dichten, schwebenden, scheinbar leichten
Texte einfach untereinander geschriebene Notate zu sein: es ist erträglicher,
an den Tod / zu denken als an die Liebe // Griechisches Denken erforschte /
alle Dinge, wie es / die Inseln erforschte // wenn Männer keine Macht mehr /
über Frauen haben, über wen / dann? Ein Zusammenhang ist nicht gleich
erkennbar; es bleibt das Unausgesprochene, das dem Leser in den Texten
Unverfügbare. Das macht ihr Geheimnis aus, ihre mediterrane Melancholie. Der
zuletzt zitierte Vers ist ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit der Rolle
der Frau in den Texten. Auch politisch-kulturelle Aussagen fehlen nicht, über
Syrien, über die Flüchtlingsboote auf dem Meer, über Gewalt (Aber die
Bedingungen der Ekstase / sind dieselben wie die für den Terror) und über Krieg
im Libanon. Notate über die Liebe, Körper, Philosophie oder Geheimnisse der
levantinischen Geographie (Außer mir / kennt nur der Wind den Weg, / der
Arabien mit Griechenland verbindet) fehlen nicht. Immer wieder kommt Adnan
auf Griechenland zu sprechen, wohin sie ‚zurück‘ will.
Und über das Schreiben weiß sie: Schreiben
stammt aus einem Dialog / mit der Zeit: es besteht/ aus einem Spiegel, in dem
das Denken / entblößt wird und sich / nicht mehr erkennt. Aber eben auch: Unser Überleben hängt vom / Vermögen des
Wirklichen ab, dem Anschlag / der Sprache zu entgehen. Hier erscheint sie,
die Widersprüchlichkeit der Sprache. Ihre Gedichte sind hingegen ein Umkreisen,
ein spiralförmiges sich-Nähern und wieder Entfernen vom landschaftlich,
emotional und politisch Wirklichen, ein Berühren und Betasten der eigenen Erinnerung,
der eigenen Herkunft.
Ein Lob gebührt der Übersetzerin
Klaudia Ruschkowski, die die Texte aus dem Englischen übertragen (und ein
instruktives Nachwort verfasst) hat. Ihr ist es gelungen, auch im Deutschen
diesen besonderen, leicht-schwebenden, mitunter lakonischen und zugleich
psalmartig- levantinischen Duktus der Sprache der Autorin, die manchmal an
Adonis erinnert, zu bewahren.