Elke Erb: Das ist hier der Fall
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Stefan Hölscher
Elke Erb: Das ist hier der Fall. Ausgewählte
Gedichte. Herausgegeben von Monika Rinck und Steffen Popp. Berlin (Suhrkamp)
2020. 210 Seiten. 20,00 Euro.
Begründeter Verdacht
Das Nachwort zur Anthologie mit „Ausgewählten
Gedichten der Georg Büchner-Preisträgerin 2020“ Elke Erb eröffnen die beiden
Herausgebenden Steffen Popp und Monika Rinck mit den Sätzen: „Eine Anthologie
darf aus einem großen Werk eine Auswahl treffen, das ist ihr großer Vorteil.
Aber sie muss dies auch, und das ist ihr bitterer Nachteil.“ Vielleicht gelangt
ja eine solche Anthologie vor allem in die Hände von Menschen, die bislang noch
nicht alle möglichen Einzelbände der Dichterin bei sich zu Hause im Regal stehen
haben. Vielleicht sogar in die Hände von Elke Erb Einsteiger*innen oder noch
heftiger: sogar von Lyrikeinsteiger*innen. Wenngleich ich mich nicht ganz zu
den letzteren hinzuzählen kann, so waren vor meinen lesenden Augen Gedichte von
Elke Erb (Achtung: Offenbarung eklatanter Bildungslücke) bisher nur sehr
vereinzelt aufgetaucht. Ein Werk wie die Anthologie mit den ausgewählten
Gedichten kam also für mich gerade recht, um zumindest mal mehr als ein paar
der Texte der Dichterin näher kennenzulernen. Bei der Lektüre kam ich dann
nicht wirklich umhin, mich immer wieder zu fragen, wie wohl literarisch
interessierte, aber lyrisch noch ziemlich unerfahrene Leser*innen auf diese
Gedichte reagieren könnten.
Der Band versammelt Texte aus über 50 Jahren
poetischer Produktion der Dichterin und sieben verschiedenen Einzelwerken,
nämlich: „Auskunft nachts“, „Kastanienallee“, „Verfolgt und auf den Punkt
gebracht“, „Vorlieb nicht mehr nehmen“, „Sonanz“, „Es setzt auf mich“ und
„Gedichtverdacht.“ Deutlich wird dabei auch in der selbst mit 200 Buchseiten
sehr endlichen Anzahl der Auswahlgedichte schnell, dass man es hier mit einer
Dichterin zu tun hat, die sich fast nichts nicht als Gegenstand lyrischer
Betrachtung vornimmt. Wenn die Herausgebenden sagen „Das Besondere an den
Gedichten und Texten Elke Erbs ist ihr beharrlicher, aufmerksamer und
zugewandter Umgang mit ausnahmslos allem, was der Fall ist“, dann würde ich
zwar erwidern „ausnahmslos alles“ ist nun vielleicht doch etwas zu hoch gepokert,
weil das überhaupt kein endliches Wesen vermag, aber „verblüffend vieles“
stimmt auf jeden Fall. So sind Betrachtungsgegenstände von Elke Erb zum
Beispiel: „Das Flachland vor Leipzig, Holzdielen, Geschirr, Kartoffeln, Küche,
Blumenkasten, Obstgarten, unser Haus, der Himmel über mir, der Bach,
niederhängende Zweige, Sehnsucht nach Geborgenheit, Waldrand, Reh,
staatstragende eigene Leute, das Fetzchen, volkssprachliche Wendungen,
Vorstufen, Selbst(-gespräche), Reize des Wohlgefallens, Kachel, Moll, Gezeiten,
Ellipsen“ und vieles, vieles mehr. Dabei trifft die Beschreibung von Rinck und
Popp bezüglich der Besonderheit der Texte mit den drei Attributen „beharrlicher,
aufmerksamer und zugewandter Umgang“ sicher absolut ins Schwarze.
Genau das zeigen die ausgewählten Gedichte allesamt:
Elke Erb wendet sich ihren lyrischen Referenzpunkten durchdringend genau,
dranbleibend und höchst aufmerksam zu, dabei zugleich aber auch extrem
eigensinnig, beweglich und wendungsreich, was es den Lesenden nicht immer nur
einfach macht. Gleichwohl enthält der Band auch eine Reihe von Gedichten, die einen
mit Leichtigkeit und Charme erobern, zum Beispiel gleich das erste:
Was über mich erzählt wirdIn meinem Schloß brennen fünfundzwanzig KronleuchterUnd drei Goldfische habe ich in meinem Aquarium schwimmenUnd ich bekomme viertausend Mark für einen VersUnd arbeite an sechs Zeilen ein Jahr
Und jeden Morgen kann ich mir nach dem ersten Ei auch nochein zweites leisten ganz wie ich will ein Ei oder zwei
1968
Oder dies:
SpielraumEs fängt an dunkel zu werdenEs hört auf hell zu seinUnd Greifswalds Vogel ist GreifEs hört auf dunkel zu seinEs fängt an hell zu werdenUnd zwei ist einsNovember 1982
Daneben gibt es nicht wenige Texte, die
zunächst mal gar nicht wie ein Gedicht erscheinen. Etwa dieser:
ERINNERLICHE, INS BEWUSSTSEIN GEKOMMENE VORSTUFEN:
KennsteBildermann?Na, bildermannischt ein!
Ich habe in die eigene
Erörterung stehende volkssprachliche Wendungen
aufgenommen, in die
Aktion Teile des Bestands,
(im Interesse einer
Vereinigung der Kräfte des Bestands mit denen der Bewegung:)
die Aktion erweitert um
die ruhende Kraft des Vorrats und Umfeldes,
die ruhende Kraft in
effigie mobilisiert für die Aktion.
Ich habe
außerliterarische sprachliche Aktionen meiner Umwelt
als den literarischen
gleich erkannt und den meinen angeschlossen…
Sieht man von den
ersten, scheinbar etwas verquer Spaß-ins-Spiel-bringenden drei Kurzzeilen ab,
so könnte man denken, hier in einem etwas umständlich-altertümelnden Sachtext
gelandet zu sein. Und seltsam mutet hier nicht nur der sprachliche Auftritt an,
sondern auch die damit einhergehende Aussage, die einerseits geradezu
wissenschaftlich punktgenau ist, sich zugleich aber immer wieder einer eindeutigen
Bedeutungsfestlegung zu entziehen scheint:
Aus der Reihe der Übertritte lebendiger Regungen auf den Boden der Wortgeltungenund dem Hintergrund derer, die nicht zur Sprache kamen,hatte sich eine Frontlinie ergeben,die das Schreiben und das Leben imaginär trennte, so als ob sie zwei Vorläufe gehabt hätten, und wirklich war es so, daß ich dem einen von dem andern aus nachsehen und ihm vorausahnen konnte, als gäbe es sie.
Für mich war dies einer der Texte, die mich gleichzeitig befremdet, irritiert, neugierig gemacht und stark in sich reingezogen haben, wobei mit jeder weiteren Lektüre in und hinter dem Spröde-Sachlichen auch das Lyrische mehr und mehr aufleuchten konnte. Gleichzeitig waren es aber auch gerade solche Texte, die die Frage, wie denn wohl nicht nur Erb-, sondern (relative) Lyrik-Neulinge auf sie reagieren würden, immer wieder in mir aufpoppen ließen. Ich habe diese Texte für mich mit Fragezeichen markiert, und im Laufe meiner Lektüre sind ziemlich viele Fragezechen in dem Buch entstanden. Einigen bin ich nachgegangen, so wie beim VORSTUFEN-Gedicht. Nicht überall aber habe ich das gemacht oder auch nur gewollt. Ich fand (als Erb-Einsteiger) die Lektüre der Anthologie durchaus anstrengend und habe das Buch fast immer nach spätestens 10 Seiten Lesen wieder zur Seite gelegt. Ein wenig erschöpft. Was man natürlich auch als Ausweis der auch den Lesenden stark fordernden Erb‘schen Wahrnehmungs- und Reflexionsverwebungen werten kann.
Texte, die die Lesenden gerade auch durch ihre Widerständigkeit hindurch zum erneuten Lesen, Denken, Fragen, Hinschauen bewegen und dabei das Zeug haben, Entdeckungen zu ermöglichen, Fragen aufzuwerfen und sie auf ganz eigene Weise zu einer Klärung zu führen, die sich nie in bekannter Eindeutigkeit trivialisiert und nicht selten auch wieder fast tückisch diffundiert, sind offensichtlich ein Tor zum poetischen Denken oder, wie es vermutlich Elke Erb gemäßer wäre zu sagen, zum „offenen“ Leben / Denken:
Grenzen leben heißt offen leben.Offen leben heißt selbst leben
Der Band der ausgewählten Gedichte von Elke Erb ist voll von Texten, die das „offen leben“, das „selbst leben“ nicht nur dokumentieren, sondern auch einfordern, anstoßen und den Lesenden dazu mit auf den Weg nehmen wollen:
6. 10. 79Ich gehe auf einen Weg, er glänzt,aber ich habe zu wenig mitgenommen.(Er glänzt von leichten Füßen, die strahlen.)Ich kehre zurück mit jener Reue,in der man wieder alles liebhaben will,lieber behalten hätte, um es
noch mehr zu verlieren,das erstrebt und im Dunkeln ist,aber vor der jeweils größeren Liebe, die es zulassen wird,so augenweitend sich erhellt,daß es die mir jetzt eigenen Formen,(bis zu tiefer Schwärze wie verfaultder beklommenen Sicht)
(aber immer hell und warm im Lichtder neuesten Windungen)in den letzten Schatten der Erübrigung und Erlösung stellt.Der Trieb, mich zu sichern, läßt michsogar auf optische Täuschung deuten: bei Licht sieht man, dortwar nichts.Auch möchte ich fliehen und fühle mich in der Falle,höre ich jemanden sagen: Ich erinnere mich, daß du …
Ich verenge die Augen vor dem, was ich hören werde.Und gehe heimlich, verhülle Gegenwart, Namen, Beruf.Spüre aber das Flimmern und erkenne klardie schwärzesten Schrecken, atmen.hart atmetes atmetda atmetsie.Aus dem Tagebuch geholt: Mitte April 2015
Wer – bereit, ein zweites Mal hinzusehen und hinzulesen – könnte sich dem Atem solcher Gedichte, ihren „eigenen Formen“, dem „Flimmern“, den „Schatten der Erübrigung und Erlösung“ wirklich entziehen? Wer möchte das tun? Der Text 6.10.79 steht pars pro toto genau für das, was der Titel des Einzelbandes, aus dem er stammt, besagt: „Gedichtverdacht.“ Stark begründeten Verdachtsfällen sollte man auf jeden Fall nachgehen. Und die Anthologie ist voll davon. So viel steht fest.