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Douglas Stuart: Shuggie Bain

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Stefan Hölscher

Douglas Stuart: Shuggie Bain. Roman. Übersetzt von Sophie Zeitz. Berlin (Hanser Berlin) 2021. 496 Seiten. 26,00 Euro.

Das schwule Kind als hoffnungsloser Mutterretter


Ist es das jähe Wegbrechen von traditionellen sozialen Ordnungen, das Menschen haltlos und grausam werden lässt? Ist es die Sucht, vor allem die nach Alkohol und angstdämpfenden Psychopharmaka, durch die Menschen zuerst ihre Moral, dann ihren Stolz und schließlich ihre Existenz verlieren? Oder ist es die intrinsische Gier und Selbstsüchtigkeit des Menschen selbst, die nur auf geeignete Umstände wartet, um Unheil und Bösartigkeit aller Art über seinesgleichen zu bringen?

Der 2020 mit dem Booker Preis ausgezeichnete Debutroman Shuggie Bain von Douglas Stuart ist keine philosophische Abhandlung, die solche Fragen argumentativ zu klären versucht. Dafür zeigt der Roman auf seinen knapp 500 Seiten das unauflösbare Ineinandergreifen von Armut, sozialen Verwerfungen, bodenlosem Verlangen nach Anerkennung und Liebe, Sucht und persönlichem Schicksal. Die Geschichte spielt im Glasgow der achtziger Jahre, in dem der radikale Thatcherismus ganze Stadtteile mit ehemals stolzen Stahl- und Hafenarbeitern in ein aussichtsloses Prekariat getrieben hat. Wer Glück hat, kann sich noch als Taxifahrer verdingen, so wie Big Shug, der Vater von Shuggie Bain, der seine nächtlichen Fahrschichten gerne auch dazu nutzt, möglichst viele Frauen aufzureißen, zumal er sich für einen begnadeten Charmeur und Begatter hält, der es schließlich mit verschiedenen Frauen auf ungefähr 14 biologische Kinder bringt, um die er sich aber allesamt nicht kümmern mag. Wenn es schwierig zu werden droht, wird Big Shug, sofern er sich nicht einfach aus dem Staub macht, brutal, so zu Agnes, seiner zweiten Frau und Mutter von Shuggie:

Bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, war Shug über ihr. Er stieg eine Stufe höher und packte sie am Haar. Das fest gewordene Haarspray knirschte wie Hühnerknochen, als er die Finger in die Strähnen bohrte. Mit einem Ruck, der stark genug war, um Händevoll Haar an den Wurzeln auszureißen, begann er die Treppe hinaufzusteigen und zerrte sie hinter sich her. Agnes’ Beine verdrehten sich unbeholfen, und sie schlug um sich wie eine schwerfällige Spinne, als sie versuchte, Tritt zu finden. Reißender Schmerz versengte ihre Kopfhaut, und sie packte haltsuchend seine Arme. Shug spürte kaum, wie sich ihre scharfen Fingernägel in seine Haut bohrten. Er zog sie zum nächsten Treppenabsatz, und zum nächsten, und zum nächsten. Der schmutzige Teppich brannte in ihrem Rücken, schürfte ihren Nacken auf, riss die Pailletten von ihrem glänzenden Kleid. Er hakte den schweren Arm unter ihr Kinn und zerrte sie zum nächsten Absatz. In einer Bewegung ließ er sie vor der Tür fallen, holte den Schlüssel raus, knipste die nackte Birne an und zerrte sie rein.

Agnes Bain, geborene Campbell lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in der engen Wohnung von Lizzie und Wullie, ihren Eltern:

Neununddreißig und mit ihrem Mann und ihren drei Kindern, von denen zwei schon fast erwachsen waren, in Mammys Wohnung eingepfercht, es war ein Gefühl, als wäre sie gescheitert.

Shuggie, zu Beginn der Geschichte sechs Jahre alt, ist der Nachzügler, der seine Mutter und ihre in seinen Augen wundervolle Schönheit liebt. Agnes ist stolz, sie sieht begehrenswert aus (ein Vorteil, aus dem sie später das Kapital für Sucht-Nachschub zieht), sie sorgt, egal wie derangiert ihr Inneres ist, für ein äußerlich makelloses Auftreten und sie ist auch für die Außenwelt unverkennbar der Alkoholsucht verfallen. Der Verlauf der Geschichte zeigt im Kern das immer weitere Abgleiten von Agnes in die Sucht, die Zerstörung ihres alltäglichen Funktionierens, ihrer Beziehungen, auch die zu Big Shug und den beiden großen Kindern, die immer noch weitergehende Auflösung ihres Selbst, ihrer moralischen und mehr und mehr auch ihrer physischen Existenz – bis hin zu ihrem Tod im Delirium. Shuggie gibt alles, um seine Mutter zu retten. Von Kindesbeinen an ist er geübt darin, was immer geht, virtuos zu tun, um sie zumindest für ein paar Momente aus ihrer unendlichen Leere und Traurigkeit zu reißen:

Als sie lachte, tanzte er schneller. Was immer sie zum Lachen brachte, tat er noch ein Dutzend Mal, bis ihr Lächeln dünn und falsch wurde und er nach dem nächsten Kunststück suchte, das sie glücklich machen würde. Er hüpfte und wedelte mit den Armen, und sie lachte und klatschte dazu. Je fröhlicher sie aussah, desto schneller zappelte er und drehte sich. Vom Geschwirr der gemusterten Tapete wurde ihm fast schlecht, aber er tanzte weiter, boxte in die Luft und schüttelte die Hüften. Mit schallendem Lachen warf Agnes den Kopf zurück, und die Traurigkeit war aus ihren Augen verschwunden. Shuggie schnippte draufgängerisch mit den Fingern und nickte mit dem Kopf, immer noch ohne den Takt zu treffen. Es war egal.

Shuggie lernt alle Zeichen seiner Mutter zu lesen, die kurzzeitig Normalität versprechenden, die unheilverkündenden und die Entwarnung gebenden. Er weiß, wann beim Trinken die Traurigkeit von Agnes in Wut umzuschlagen droht und wann die Wut in Apathie und Bewusstlosigkeit übergeht; und er weiß, was dann zu tun ist:

Irgendwann schlief sie in ihrem Sessel ein, der Kopf sank ihr auf die Brust, und ihr Atem wurde kehlig und unregelmäßig. Als Agnes schnarchte, entspannten sich Shuggies Schultern. Er nahm ihr die Tasse aus den Fingern. Dann kniete er sich vor sie, öffnete sanft die Riemchen ihrer Pumps und zog sie ihr aus, wobei er sorgfältig darauf achtete, mit den Schnallen nicht die neue Strumpfhose zu beschädigen. Mit sicheren Händen löste er die zwei nicht zueinander passenden Ohrringe von ihren Ohrläppchen. Er brachte alles ins Schlafzimmer und hoffte, wenn sie wieder aufwachte, hätte sie ihr Vorhaben vergessen.

Mehr und mehr wird Shuggie zum Retter und Versorger, während er die Schule schwänzt, das wöchentliche Sozial- und Kindergeld organisiert, wobei er einen kleinen Teil davon stets für Lebensmittel zurücklegt, damit nicht alles für Alkohol draufgeht. Er wird zum Verehrer, Partner und Liebhaber seiner Mutter, mit der er schließlich ganz allein lebt, nachdem Big Shug sich eine neue Frau gesucht hat, Shuggies Schwester Catherine schnell geheiratet hat und mit ihrem Mann ins ferne Südafrika davongezogen ist und Agnes auch Leek, Shuggies stoisch-schizoiden älteren Bruder davongejagt hat. Er übernimmt mit verzweifelt-hoffender Hingabe all diese einem Kind nicht gemäßen Rollen, solange, wie die Illusion von „Rettung“ und möglicher „Normalität“ noch irgendwie aufrecht zu erhalten ist, solange, bis Agnes sich nicht bloß in die immer wieder eintretende Bewusstlosigkeit, sondern in den finalen Punkt ihrer Existenzauslöschung hineingetrunken hat.

„Shuggie Bain“ könnte auch „Agnes Campbell Bain“ heißen; denn der Roman ist mindestens so sehr ein Roman über Agnes wie über Shuggie. Er ist eine tragische Mutter-Sohn-Liebesgeschichte. Er ist aber zugleich auch ein dramatischer Familien- und Sozialroman, und umgekehrt ist er keine Coming-Of-Age-, keine Entwicklungsgeschichte. Shuggie ist zwar, wie ihm, seinen Eltern und allen in seinem Umfeld unzweifelhaft klar ist, „anders“ als die anderen Jungs um ihn herum. Wegen seiner hohen Stimme, seiner gewählten Art zu sprechen, seinem hüftschwingenden Gang und seinen ausholenden Armbewegungen wird er von den anderen als „schwule Schwuchtel“ beschimpft und ständig drangsaliert. Er wächst in einem Umfeld auf, in dem es zwar als „normal“ gilt, wenn die ehemaligen Stahlarbeiter-Männer saufen, sich gegenseitig und natürlich erst recht ihre Frauen und Kinder verprügeln; zugleich wäre es aber gänzlich unmöglich, in dieser Welt schwul zu sein. Shuggie lernt im Laufe der Geschichte, dass er es trotzdem ist; und auch, wenn er lange Zeit vieles dafür tut und tun möchte, ein „normaler Junge“ zu werden, gelingt es ihm doch im Laufe der über gut zehn Jahre reichenden Geschichte zu akzeptieren, dass er, indem er Jungen begehrt, fundamental anders ist. Dennoch ist es nicht diese Entwicklung, sondern die durch und durch tragische Mutter-Sohn-Liebesgeschichte, die das Herz der Story bildet.

Douglas Stuart ist ein begnadeter Portraitzeichner: nicht nur, wenn es um seine Protagonist*innen und ihre soziale Welt geht; er schafft es auch, mit wenigen Pinselstrichen Nebenfiguren, von denen es im Buch nur so wimmelt, wie etwa die ebenfalls trinksüchtige Nachbarin Jinty McClinchy oder den ersten Mann von Agnes, Brendon McGowan, plastisch zu charakterisieren und wunderbar lebendig werden zu lassen. Stuart gelingt dies, mit der ihm eigenen Mischung aus tiefer Empathie und grotesker Überzeichnung. Die Figuren des Romans sind immer tragisch und komisch zugleich. Sie sind gierig, obsessiv, aggressiv, destruktiv, selbstdestruktiv, im günstigsten Fall hochgradig naiv und zugleich voller Bizarrheit in ihrer Erscheinung und ihrem Tun. Selbst Shuggie, der aufopfernd liebende, hoffnungslose Mutterretter bleibt nicht von dieser Komik verschont:

»Wennde willst, kannste meinen Busen anfassen«, sagte Leanne neben ihm. »Ich meine, nur wennde willst.« Er schüttelte den Kopf, ohne sie anzusehen. »Nein, danke.« Er ließ eine Handvoll kleiner grauer Steine die Böschung hinunter auf die Straße rollen. Das Mädchen pulte an einem Stück grünem Moos. »Ich hab kein Bock, hier rumzusitzen und zu erfrieren.« Shuggie zog den zerkauten Kamm aus dem Mund und wischte das nasse Ende an seiner Hose ab. Es hinterließ einen feuchten, dunklen Fleck auf seiner Hose. »Ich könnte dir die Haare kämmen, wenn du willst?«

Das hohe Niveau dieser kunstvollen Wahrnehmungs- und Beschreibungs-Balance, das Stuart bis auf kleinere Ausnahmen ganz überwiegend hält, ist einer der Gründe, warum das Buch so lesenswert ist. Ein anderer ist: es ist schlichtweg dramaturgisch gekonnt geschrieben. Jedes der zweiunddreißig Unterkapitel bringt eine gut aufgebaute Episode als erstaunlich spannenden Teil eines erstaunlich spannenden Ganzen, bei dem man, auch wenn von Anfang an das traurige Ende von Agnes klar ist, immer wissen will, wie es weitergeht.

Shuggie Bain ist ein autofiktionaler Roman. In seiner Danksagung macht Douglas Stuart deutlich, dass es ganz maßgeblich die Geschichte seiner eigenen Mutter und seiner eigenen Familie ist, die er erzählt. Shuggie Bain steht damit auch in einer Reihe von autobiographisch geprägten Werken queerer und aus sozial schwierigsten Verhältnissen stammender Romanciers wie insbesondere Ocean Vuongs „Auf Erden sind wir kurz grandios“ und Edouard Louis‘ „Das Ende von Eddy“. „Shuggie Bain“ besitzt sicher nicht die lyrische Strahlkraft von Vuongs Buch und nicht die brachiale emanzipatorische Wut der Geschichte von Louis. Stuarts Roman ist, wenn man so möchte, deutlich klassischer, gleichwohl, auch in der hervorragenden Übersetzung von Sophie Zeitz, hoch virtuos erzählt. Was diesen Roman aber auch gegenüber den anderen besonders auszeichnet, ist die phänomenale Einfühlung in das Wesen der portraitierten Menschen und ihre Lebensumstände. Eine Einfühlung, die gerade auch im Zusammengehen mit dem erbarmungslosen Blick für das Groteske eine starke literarisch-humane Kraft entfaltet.   


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