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Ocean Vuong: Auf Erden sind wir kurz grandios

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Stefan Hölscher

Ein fühlendes Wesen in einer milchkalt fremden Welt  


Auf dem Cover des nun auch auf Deutsch bei Hanser erschienenen autobiographischen Romans von Ocean Vuong Auf Erden sind wir kurz grandios sieht man ein weiß gepunktetes braunes Reh, das über einen wie in einem nebligen Nichts liegenden Zebrastreifen zu der dem Betrachter entgegensetzten Seite geht, seinen Kopf dabei aber wie für einen Moment des rückschauenden Innehaltens dem Betrachter zuwendet. Ein eigenartiges Bild, das das zum Greifen lebendige Reh in einer milchweiß kalten, scheinbar funktionalen Umgebung zeigt, in die es nicht hinein zu gehören scheint. Was macht dieses zerbrechlich wirkende Wesen mitten auf der Straße? Wo will es hin? Und wenn es sich jetzt umdreht und zurückschaut, ist es dann nicht erst recht Gefahren ausgesetzt auf diesem seltsamen Weg über einen Zebrastreifen zu einem nicht erkennbaren Ziel?

Der autobiographische Roman von Ocean Vuong ist eine Geschichte über die Suche nach Halt und Identität. Er ist geschrieben als Brief an seine Mutter, die ihn nie lesen wird, weil sie Analphabetin ist, nur bruchstückhaft Englisch kann und in einem Nagelstudio in Hartford, Connecticut, ohne feste Anstellung, und ständig giftigen Dämpfen ausgesetzt, ihren kargen Lebensunterhalt verdient. Zur Familie gehört neben dem Little Dog genannten Sohn auch Lan, die schizophrene Großmutter, die als junge Frau während des Vietnamkriegs als Liebesarbeiterin ihr Geld verdienen musste, einen amerikanischen Soldaten geheiratet hat und von einem anderen geschwängert wurde. Wegen dieser sich auch in der Hautfarbe der Tochter niederschlagenden Beziehung zum Feind muss Lan nach dem Fall Südvietnams mit ihrer Familie fliehen. Die Flucht führt über die Philippinen in die USA, wo Little Dog ab seinem zweiten Lebensjahr in einem Frauenhaushalt aufwächst, von seiner von der Arbeit kaputten Mutter gleichermaßen zärtlich geliebt und brutal geschlagen, seine schizophrene Großmutter umsorgend und von dieser beschützt. Sein Vater ist da schon längst über alle Berge.

Ocean Vuong erzählt die Geschichte seiner Familie, die Geschichte seiner Kindheit und Jugend, seine heftige Liebe zu einem amerikanischen Jungen und die Suche nach Halt in einer zerrissenen Welt. „Auf Erden sind wir kurz grandios“ ist ein Familienroman, ein Entwicklungsroman und ein queerer Roman. Vor allem aber ist es ein durch und durch lyrischer Roman über die Suche nach sich selbst. Lyrisch dichter und berührender als viele Lyrikbände, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Ocean Vuongs Sprache zieht den Lesenden mit der Sensitivität ihrer Wahrnehmung, der Intensität ihrer Wortverbindungen und ihrem ganz eigenen Fließen, in dem Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Imagination auf das Engste miteinander verwoben sind, in einen Sog, der einen von der ersten bis zur letzten Seite fast atemlos dranbleiben lässt. Das Buch ist voll schillernder Passagen:  

„Es ist ein schönes Land, je nachdem, wohin du blickst. Je nachdem, wohin du blickst, suchst du vielleicht die Frau, die auf dem Randstreifen des Feldwegs wartet, im Arm hält sie ein Baby in einem himmelblauen Tuch. Sie wiegt ihre Hüften, stützt den Kopf des kleinen Mädchens mit der hohlen Hand. Du wurdest geboren, denkt die Frau, weil niemand sonst gekommen ist. Weil niemand sonst kommt, fängt sie an zu summen.

Eine Frau, noch keine dreißig, drückt ihre Tochter am Rand eines Feldwegs an sich, in einem schönen Land, in dem zwei Männer mit M-16-Gewehren auf sie zutreten. Sie befindet sich an einem Kontrollpunkt, einer Schranke aus Sperrdraht und Genehmigung, die man zur Waffe geschliffen hat. Hinter ihr haben die Felder Feuer gefangen. Rauch flicht sich durch einen papierweißen Himmel. Ein Mann hat schwarzes Haar, der andere einen gelben Schnurrbart wie eine Narbe aus Sonnenlicht. Benzingestank dringt aus ihren Uniformen. Die Gewehre schwenken, als sie auf sie zugehen, die Metallbolzen blinken in der Nachmittagssonne.

Eine Frau, ein Mädchen, ein Gewehr. Es ist eine alte Geschichte, eine, die jeder erzählen kann …“
(S. 82)          

Viele der Stilelemente, die Vuongs Buch durchziehen, finden sich schon in diesen wenigen Zeilen: Die fast beschwörenden Wiederholungen („Es ist ein schönes Land“), das Aufleuchten von zitierten Wendungen, Liedzeilen, Formeln („Du wurdest geboren, denkt die Frau, weil niemand sonst gekommen ist.“), das Nebeneinander von gemeißelt klarer Sprache und kühnen Bildern („Sie befindet sich an einem Kontrollpunkt, einer Schranke aus Sperrdraht und Genehmigung, die man zur Waffe geschliffen hat.“), die immer wieder hinzutretende Ebene der Metareflexion („Eine Frau, ein Mädchen, ein Gewehr. Es ist eine alte Geschichte, eine, die jeder erzählen kann …“).

Vuongs Sprache, die von Anne-Kristin Mittag kongenial ins Deutsche übertragen wurde, ist strömende Sinnlichkeit. Dafür könnte man fast beliebige Stellen aus dem Buch zitieren. Erst recht auch die, in denen es um Liebe geht:  

„Das war es, was ich wollte – nicht nur den Körper, so anziehend er war, sondern seinen Willen, in dieselbe Welt hineinzuwachsen, die seinen Hunger zurückwies. Dann wollte ich mehr – seinen Duft, sein Aroma, den Geschmack nach Pommes frites und Erdnussbutter unterhalb des Balsams seiner Zunge, das Salz in seinem Nacken von der zweistündigen Fahrt nach Nirgendwo und zu einem Burger King am Bezirksrand, einem Tag angespannter Wortwechsel mit seinem Alten, den Rost von dem elektrischen Rasierer, den er mit diesem Mann teilte, wie der Rasierer immer in seinem traurigen Plastikgehäuse auf der Spüle lag, Tabak, Gras und Kokain, vermischt mit Motoröl, an seinen Fingern. All das setzte sich als Nachduft von Holzrauch ab, der sich in seinem Haar verfing, es durchtränkte, als käme er, wenn er mit nassem und hungrigem Mund zu mir kam, von einem Ort, der in Flammen stand und an den er niemals zurückkehren konnte.“
(S. 111)

Diese Sprache hat rohe Wucht und zerbrechliche Zartheit zugleich. Sie greift vehement zu, ohne an irgendeiner Stelle grob oder kitschig zu werden. Der Lesende fragt sich: Wie kann es möglich sein, dass der seinen kulturellen Wurzeln entrissene Sohn einer Analphabetin aus einer Schicht, die als durch und durch „bildungsfern“ bezeichnet werden könnte, eine so feinsinnig-virtuose Sprachkraft entfaltet?  

Vuong erzählt im ersten Kapitel des Buches, dass seine Mutter eines Abends in einem Supermarkt Ochsenschwanz kaufen wollte. Da sie nicht wusste, wie das Wort auf Englisch heißt, sagte sie es zuerst auf Vietnamesisch, was der Mann hinter der Theke natürlich nicht verstand. Dann begann sie eine gestische Darstellung:

„Ungelenk hast du dir den Zeigefinger ins Kreuz gehalten, dich leicht zur Seite gedreht, damit der Mann deinen Rücken sehen konnte, dann hast du mit dem Finger gewackelt und muhende Laute von dir gegeben. Mit deiner anderen Hand deutetest du ein Paar Hörner über deinem Kopf an.
    Du drehtest und wendetest dich hierhin und dorthin, behutsam, damit er jeden Teil dieser Vorstellung sehen konnte: Hörner, Schwanz, Ochse.“
(S. 37)

Die Vorstellung, in die auch Little Dog’s Großmutter Lan mit einstimmt, endet in einem „brüllenden Lachen“ der hinter der Theke stehenden Männer und ohne jede Verständigung über das gewünschte Fleisch.

„In jener Nacht schwor ich mir, dass ich nie wieder stumm sein würde, wenn es nötig wäre, dass ich für dich spreche. So begann meine Laufbahn als offizieller Familiendolmetscher. Von da an füllte ich unsere Lücken, unser Schweigen, Stottern, wann immer ich konnte …“
(S. 39)

Es ist eine Entscheidung zu sprechen: Für Mutter und Großmutter zu dolmetschen und der Welt mit einer Sprache zu begegnen, die das Geschehen ebenso präzise wie sensitiv erfassen kann. Es ist die Entscheidung, einen Weg zu gehen in ein anderes, nicht mehr sprachloses, eigenes Leben hinein. Little Dog muss nicht nur für Mutter und Großmutter, sondern vor allem auch für sich selbst eine Sprache finden. Der kleine, schmächtige Junge wird von den anderen Jungen in seinem Umfeld als gelber und androgyn (=schwul) wirkender Außenseiter oft drangsaliert. Einmal zeigt er sich, als er heftig geschlagen wird, so wehrlos, dass er von den Frauen zu Hause jeden Tag eine große Portion kalter Milch verordnet bekommt, damit aus ihm doch noch ein richtiger amerikanischer Junge werde. Der gequälte Junge beschließt, die Welt mit Sprache zu ergreifen.

Vuongs Roman befindet sich mit dieser Thematik in einer Reihe mit zwei anderen, jüngst erschienenen queeren autobiographischen Romanen: Hör auf zu lügen von Philippe Besson und Das Ende von Eddy von Edouard Louis.

In Hör auf zu lügen verliebt sich Philippe, der hochbegabte Sohn eines Schuldirektors in der französischen Provinz, in seinen Mitschüler Thomas, den Sohn eines Winzers, der seine Gefühle erwidert. Die Beziehung der beiden ist eine leidenschaftliche, aber nur im Geheimen stattfindende Liebe, da die rigiden Konventionen der ländlichen Welt, in der Thomas lebt, es ihm unmöglich machen, über seine Liebe und seine Homosexualität zu sprechen. Philippe und Thomas nehmen nach der Schulzeit, die zugleich das Ende ihrer Begegnungen markiert, gänzlich unterschiedliche Lebenswege. So sehr Philippe sich der Welt und seiner Sexualität öffnet, so sehr schließt Thomas sich in sich ein. Besson erzählt die packende Geschichte einer kurzen und gleichwohl das ganze Leben verändernden tragischen Liebe.

Stärker noch sind die Parallelen zu Edouard Louis‘ autobiographischem Roman Das Ende von Eddy. Mit einer an Brutalität grenzenden Heftigkeit erzählt Louis die Geschichte seiner Flucht aus einer schier unerträglichen, von toxischer Männlichkeit, Armut und Gewalt geprägten Kindheit in einfachsten Verhältnissen in einem Dorf in Nordfrankreich. Das Ende von Eddy beschreibt den fast unmöglich erscheinenden Weg aus dieser für Eddy zerstörerischen Welt heraus in ein selbst gestaltetes Leben hinein.

Während aber der Roman von Edouard Louis seine beeindruckende Kraft aus der wütenden Entschlossenheit, das Alte für immer hinter sich zu lassen, zieht, bleibt Vuongs Geschichte immer in einem Raum zwischen subtiler Zärtlichkeit und tödlicher Zerstörung. Für Little Dog ist seine ihn brutal schlagende Mutter ein „Monster“, aber zugleich auch seine zärtlich geliebte „Ma“ an die er seinen Brief, das Buch, richtet. Diese unaufhebbare und auf jeder Seite bei Vuong spürbare lyrische Gleichzeitigkeit ist die große Stärke von Vuongs Roman, die ihn aus meiner Sicht noch deutlich mehr zu einem literarischen Ereignis macht als die beiden anderen.

An vielen Stellen liest sich Vuongs Buch wie ein wunderbar verwobenes Prosagedicht:

„Trevor Rostiger Pick-Up und kein Führerschein.

Trevor sechzehn; Bluejeans voll mit Rehblut.

Trevor zu schnell und nicht genug.

     

Der Junge. Das Motoröl. Der Körper, er füllt sich. Und dein Durst überflutet, was ihn trägt. Und dein Untergang, du dachtest, es würde ihn nähren. Dass er davon schlemmen und ein Tier werden würde, in dem du dich verstecken könntest.“
(S. 150 und 154)    

„Überfluten, nähren, sich verstecken“ und sich entscheiden, an all das, was geschehen ist, sich zu erinnern.

Es ist nicht klar, wo das zarte Wesen, dieses fast melancholisch zum Betrachter schauende Reh, auf dem Cover der deutschen Ausgabe von Vuongs Roman herkommt, wo es hingeht oder was es überhaupt in einer Welt mit Zebrastreifen will. Es schaut so, als wolle es sich besinnen oder in eine Beziehung treten – zu dem Betrachter, zu sich selbst. Ein fühlendes Wesen in einer milchkalt fremden Welt.  


Ocean Vuong: Auf Erden sind wir kurz grandios. Roman. Übersetzt von Anne-Kristin Mittag. München (Carl Hanser Verlag) 2019. 240 Seiten. 22,00 Euro.
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