Direkt zum Seiteninhalt

Dolors Miquel: 2 x 6 Gedichte - Teil 1

Werkstatt/Reihen > Werkstatt
Dolors Miquel
2 x 6 Gedichte
aus dem Katalanischen von Matthias Friedrich


Dolors Miquel (geb. 1960) – „eine punkige trobairitz
 
 
Im Zentrum von Dolors Miquels Lyrik steht neben der Auseinandersetzung mit den Werken anderer die Subversion. Miquel spielt auf viele verschiedene Texte an (etwa von Quevedo, Rimbaud oder Bucay, aber auch auf die unüberschaubare katalanische Literatur: Marçal, Foix, Roig u. a.), schöpft aus den Tiefen des Wörterbuchs, stellt Vokabeln aus verschiedenen Fachbereichen neben dialektale Ausdrücke und arbeitet an vielfältigen, stark rhythmisierten poetischen Formen. Das Ergebnis ist ein Klangteppich, der dem Reichtum der katalanischen Sprache zur Geltung verhilft: Wie die trobairitz des Mittelalters (er)findet die Dichterin ein Lied – und zwar als Nonkonformistin, die ungleiche Machtverhältnisse als solche herausstellt.
 
Die vorliegende Auswahl versucht, einige der wichtigsten Etappen in Miquels Schaffen verständlich zu machen. Da sind zum einen die immer wiederkehrenden Themen, etwa die Kritik an (nicht nur) philosophischen Lehrkonzepten, die verkehrte Welt, wie sie in der barocken Schelmenliteratur vorkommt, die Unterdrückung durch Kirche und Familie und die Gewalt durch das Patriarchat.
 
Da die Literaturgeschichte nicht frei von männlichen Machtgesten ist und die écriture féminine gerne auf eine Bemerkung am Rand eines großen Textes reduziert, der von Männern geschrieben (und in den Fußnoten wohlwollend gedeutet) wird, schreibt sich Miquel in diesen Text hinein und kehrt die Rollen, die er ihr vorgibt, um. Sie kultiviert den weiblichen Blick, und wo die berühmten Sonettdichter die Schönheit des Frauenkörpers besingen, lobt sie die des männlichen – oder seine Hässlichkeit. Genau wie in ihrem Werk die jeweilige Sprechinstanz der stetigen Veränderung unterworfen bleibt, suchen auch Miquels Gedichte stets nach einer neuen Form. Mal sind das freie (aber durchaus rhythmisierte) Verse, mal Sonette oder Paratexte wie Vorwörter und alternative Titel (Der Muserich); und seit etwa sieben Jahren Prosapoeme.
 
Matthias Friedrich


Teil 1

PLATON IN MEXIKO-STADT (2002)

Aber die Natur hatte nicht an die Liebe gedacht
Marie de France

Als Platon aus der Höhle meines Schädels fiel,
Fleisch, Gestichel, eitles Spiel! Die Spötterin bespötteln.
Er, der nichts mehr sieht, verwahrt in einer Stadt
mit 25.000.000 Einwohnern. Die Liebe.
Der Alte, blöd und blind, und ich, wir trotzen uns wie zwei Hunde.
Die stumme Ampel und diese Maske vor dem Schnabel aller Dinge.
Die Seele, die sich in die Hose scheißt.
Der Tod, der unter jeder Vorahnung des Lebens hervorlächelt.
Das Fleisch, das von den Knochen fällt
wie der Blütenstaub aus der Korolle einer Fruchtbaren.
Das Gehirn in den Ketten der Unwissenheit.
Die NICHT FESTGESTELLTE Identität
in der Allee der Sicherheitskräfte, die Illegale jagen.
Die Identität ohne Papiere oder Sprache.
Die Identität, die am Diktat der Menschen versagt.
Und meine tote Mutter spielt mit den Maden sette e mezzo,
ohne für mich ein Wort (ein)legen zu können,*
denn ihre Eingeweide lösen sich auf.
Zählen bis eins.
Die Ideenlehre, zu Stein erstarrt. Bloß noch Natur.
Ein Taxi stahl mir mein Gepäck und einen Fetzen Leben.
Ich hatte nicht mal mehr ein verschissenes IDEAL in der Tasche,
auch kein einziges gutes Gramm Rolltabak oder verschissene Kippe.
Die Sonne bahnte sich unter meinen Lidern stoßweise den Weg.
Das sollte REAL sein? Nicht zu fassen.
Und das alte Dreckschwein, das zwischen den Autos das verschreckte Hündchen gab.
Platon hatte mich ganz schön veräppelt.
Hätte er sich doch auf einem Landstrich in die Welt gesetzt,
mit dem meine eingebildete Brailleschrift etwas hätte anfangen können.
Aber er ließ mich dort stehen.
Ohne Knochen.
Ohne Fass.
Ohne Ohne.


*(ein)legen ist ein Wortspiel: „sense res pondre per mi“ heißt sowohl „respondre“ (antworten) als auch „pondre“ (ein Ei legen) (A. d. Ü.)



SÄUGERINNEN MIT FLOH (2006)

Ich, Gott, die Säugerin,
betrachte verzückt das Universum und die unsichtbaren Dinge,
den Floh auf dem Bauch meiner Hündin.
Betrachtet er im Gegenzug auch mich
mit diesem seinem geistreichen Wohlwollen?
Will der Floh die Hypothese über
die Universen des Trismegistos in Angriff nehmen?
Verspürt der Floh ein jähes, unendliches Verlangen nach Liebe
und nennt es Gott? Gott, Gott.
Nennt er es Gott in einem Loblied,
das von unbewegten Mikroben auf seinem Bauch
und nach unten wie nach oben steigt, bis in meine Hand, vielleicht auch weiter?
Kommt sich der Floh unendlich mächtig vor,
wie er da auf dem Bauch meiner Hündin sitzt?
Spielt er mit dem Gedanken, den Wald aus sanften, langen Haaren zu zerstören,
die der Herbst ausrupft und die meine Wohnung mit Knäueln füllen?
Spielt er mit dem Gedanken an einen Atomkrieg?
Spürt der Floh die Abendländigkeit der leeren Jahrhunderte?
Springt der Floh zum Psychotherapeuten oder zum Psychiater,
wenn er meint, jemand, der beobachtet, beobachtete ihn?
Hält er diese Neurose seinem Vater und seiner Mutter vor?
Oder nennt er mich Gott? Oder, noch schlimmer:
Nennt er eine Göttin meinen Hund, denkt er,
er wäre meiner Hündin entsprungen?
Stellt er sich auch so bekloppte Fragen wie ich?
Kreuzigt er andere Flöhe?



DRITTE PREDIGT:
WIESO DIE GUTMÜTIGEN IN DER TOMBOLA
DEN SCHINKEN ABRÄUMEN WERDEN (2006)

Gott sagt, von euch
unermüdlichen Rabauken, versteckt hinter euren
tadellosen und synchronen Masken, der der Moderne,
der Normalität, der Sitte, der Unsitte,
des Aufruhrs, der des der
wird,
auch wenn ihr
Egoisten
des Ichs
ihr Kastrierer
des Ichs
ihr Pfennigfuchser
eures eigenen Ichs
jedes einzelne Los
der Tombola
beschlagnahmt,
keiner,
nicht ein Einziger,
ja keiner, nicht ein Einziger
in der Tombola den Schinken abräumen.
Der wird dem Gutmütigen geschenkt,
schließlich kann der sich noch erfreuen
an dem Fett, das die Klinge besudelt,
wenn das Messer ihn kleinschneidet.
Geschwür
auf der Scheibe Schinken,
die der Mund
hinunterschlingt.



MUTTER UNSER (2006)
Meine Mutter, ich weiß nicht, wo du bist,
nur dein Name bleibt mir noch

Mutter unser im Gewimmel,
deine Möse werde geheiligt,
die Epiduralanästhesie, die Hebamme,
dein Schrei, deine Liebe, deine Kraft
komme zu uns.
Dein Wille geschehe unserem Uterus
auf Erden.
Unseren täglichen Werktag gib uns heute.
Und gib den Hurensöhnen nicht die Freiheit,
die Liebe zu zerstören, Kriege anzuzetteln,
sondern erlöse uns von ihnen
bis in alle Ewigkeit.
Vagina.

Gehen wir hin.



HYMNE FÜR DEN SIESTA-RAMBO
(UNIVERSELLES GEBET)
(2006)

Sursum corda … empor die Herzen! … empor die Ärsche!

Erhebet die Ärsche von den Stühlen, ihr Söhne der großen Sau!
Erhebet die Körper von den Sofas, ihr tranfunzeligen Kackbratzen!
Und falls ihr nicht könnt, weil ihr euch überfressen habt an Vitaminen,
wandelt, ihr Siesta-Rambos, mit dem Sofa am Arsch klebend, umher,
wie eine Schnecke, ihr feinen Pinkel, schleppt euer Haus überallhin.
Stehet auf aus eurem Grab, ihr multimedialen Hornochsen,
ihr geschlagenen Konsumenten des nordamericrapanischen Traums.
Gehet hinaus aus diesem Kloster, dieser riesigen Kathedrale,
ihr Klosterbrüder des 21. Jahrhunderts. Ihr Eingeschlossenen.
Esset das Mysterium des Kots.
seid ausgeschissen aus dem materialistischen Gedärm,
aus dem Bauche des Dollarochsen.
Erhebet die Ärsche von den puscheligen Lügen, ihr Söhne der großen Sau!
Riechet die Luft, vergiftet von eurer Scheiße.
Wälzet euch wie Schweine in der Dunggrube des Lebens.
Wälzet euch darin.

Gehen wir hin …



TRANSSUBSTANTION DES KANINCHENS
UND GLÜCKSELIGKEIT DER GREISIN (2006)

Die Knöchelchen, die Fleischfetzchen, die Augen aus ihrer Orbita geflutscht.
Die Vierteilung, die Sektion des Einen war noch nicht vollbracht.
Die Greisin sammelte die Überreste in einem Kübel auf,
ging zum nächstgelegenen Acker und schleuderte sie von sich wie Saatkörner.
Auch entsorgte sie ein paar Olivenknöchelchen, die Leichname des Öls.
Und hernach stellte sich das große Mysterium ein.
Es erhob sich wie ein Engel,
es war weiß, unbefleckt, leicht, ätherisch.
Es durchmaß die Stratosphäre. Es näherte sich den Ringen des Saturn.
Es durchschritt den seligen Traum der Menschen. Es erschien
in der Stille der Traumwogen.
Es knutschte einen Asteroiden ab, der von seinem Orbit abgekommen war.
Es zog zu einer kugelförmigen Kumuluswolke, ging auf in einem weißen Flauschfluff
und versteckte sich in einer nebelwabernden Düsternis.
Zur Feier des Ereignisses ging ein Meteoritenschauer nieder.
Die Greisin war glücklich, mit sich im Reinen.
Sie wandte den Blick vom Universum ab.
Schaute auf das Ackerstück.
Darauf wuchsen viele Olivenbäume.
Die hatten schon seit Ewigkeiten dort gestanden.
Aber jetzt erschien ihr das wie ein Wunder.



Die Gedichte stammen aus:
Platon in Mexiko-Stadt: Mos de gat (2002)
Säugerinnen mit Floh, Dritte Predigt, Hymne für den Siesta-Rambo, Mutter unser, Transsubstantiation des Kaninchens: Missa pagesa (2006)
Zum Muserich, An ein unauflösbares Ego, Adonis aus der Badewanne, Eine alte, kranke Witwe: El Musot (2009)
Ich las Wittgenstein: Ictiosaure (2019)


Zurück zum Seiteninhalt