Direkt zum Seiteninhalt

Dirk von Petersdorff: Sirenenpop

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen



Wolfram Malte Fues

Dirk von Petersdorff, Sirenenpop. Gedichte, Beck-Verlag, München 2014



Sirenenpop. Was signalisiert dieser etwas gar coole Titel? Ein klangreich formuliertes Verkaufs-Argument oder die Umrisse, die Spur eines Programms, demzufolge diese Gedichte längeres Hinsehen, analytisch und kritisch differenzierendes Nachdenken verdienen? Zum voraus: Meinem Verständnis nach verdienen sie’s. Weil sie sich etwas zutrauen, was die nach innen gekrümmte, leicht biedermeierlich empfindsame oder leicht expressionistisch katastrophische Sensibilität vieler zeitgenössischer Lyrikerinnen und Lyriker sich nicht traut: den poetischen Kontakt mit den Szenen und Situationen, Schemen und Schematismen, Klischees und Mythen der heutigen immer schon mediatisierten und medialisierenden Alltags-Realität, in der das ursprünglich Reale vielleicht aufgehoben, vielleicht verschwunden ist, in der es vielleicht aber auch schon vor seiner Refiguration steht. Gedichte sind findig. Sehen wir zu, was sie hier heraus und wo sie sich hinein finden.

Petersdorff unterteilt seinen Gedichtband in fünf Abschnitte, die alle den genannten Kontakt suchen, aber auf je verschiedene Weise, aus anderer Perspektive und unter anderen formalen Bedingungen. Diese Suchbewegung ignoriert die Tradition der von ihr herangezogenen Formen nicht, sondern geht modulierend und modifizierend auf sie ein. Sehr zu Recht. Nur wer die Geschichte der von ihm gebrauchten Werkzeuge kennt, vermag ihre Fähigkeiten wie ihre Möglichkeiten zu übersehen. Machen wir einen Rundgang durch die poetischen Räume.

„wie ein Strom, wie ein Schlaf, wie ein Gras“, lautet die Devise des ersten. Wie ein Strom von Reise- und Liebes-Erlebnissen, das wird bald deutlich. Aber worauf deutet der Rest des Titels? Nehmen wir eine lyrische Minimal-Operation vor: „wie ein Schaf, wie ein Gras“. Das macht die eigentümliche Gleich-gültigkeit und Gleichmütigkeit dieser Reise- und Liebes-Erlebnisse verständlich einleuchtend und mit ihr die reziproke Lesart: „wie ein Gras, wie ein Schlaf“; wie ein Gras, das in den immer wieder berufenen WGs ja fast alle bis zur schläfrigen Trägheit geraucht haben.

Petersdorff verwendet für diese erste Abteilung das englische Sonett in fünffüssigen Jamben und hält die Form, die den vollen Gleichklang der angesprochenen Erlebnisse stützt und entfaltet, alle 13 Gedichte weit streng und genau durch. Mit einer Ausnahme allerdings. Während das original englische Sonett drei Quartette in Kreuzreim hat, die ersten beiden mit gleichem Reim und das dritte, das zur paarreimenden Schluss-Pointe hinführt, dann mit anderem, fehlt bei Petersdorff das zweite Quartett. Seine Sonette springen von Eins zu Drei und ersetzen so den `suspense` der traditionellen Form durch den `surprise` der aktuellen. Ein, wie mir scheint, zeitgemässer Weg zur Aktualisierung einer klassischen Gedicht-Form.

Auf der zweiten Tür, die wir jetzt öffnen, steht: „Paare.“ Diesem Titel entsprechend gehen die Gedichte dieser Abteilung in Paar-Reimen, jedoch siebenstrophig, in Primzahl, damit die Reime das Paar imaginieren und denotieren, aber Gedicht-Form und Paar-Gestalt unterschieden bleiben, das Gedicht über das Paar disponiert und nicht umgekehrt. Bleibt das Paar ein Gedicht weit ein Paar, hält das Gedicht es in einem Satz zusammen. Kommt es zu Brüchen, zu Zeit- oder Traumsprüngen, spaltet das Gedicht es in zwei Sätze. Höchstens in drei. Was treiben diese (jungen, jüngeren) Paare nun? Was treibt sie? Die Entscheidung zwischen Sesshaftigkeit und Mobilität: „hierbleiben, altes Forsthaus, als Projekt // mit ihr die immer so gelassen segelt, / die guckt, als ob der Kosmos alles regelt“ oder lieber die unverdrossene Suche nach Anderswo auf der Flucht vor Andersihr: „Aegaeisinseln, Haare wehn ums Kinn, / und Umschau hält die Felsenkönigin, // die nackt ins Meer zum Zähneputzen ging, / wenn überm Kopf nah Sternenlaken hing. // Sie mögen sie und laufen ihr davon, / sein Sohn und er erreichen Babylon“. Einer zieht aus und eine leidet darunter: „Es ist nicht nur zum Heulen, nein, sie heult, / Kartons, die sie umgeben, braun verbeult“, denn: „[…] die alten Götter, Rotweinstunden, / Plakate, Becher, Boxershorts verschwunden.“ Einer ist ausgezogen, leidet darunter und will wieder einziehen: „[…] Designerküche, festgebannt, // die grosse Tresenplatte, Einzelstück, / im Netz erjagt, sein Stolz, er will zurück.“ Zwei sind gewisser Erinnerung halber zusammengeblieben und suchen diese Erinnerung zu nähren, um zusammenzubleiben: „doch jetzt übt ihre Tochter schon Klavier, / paar nicht perfekte Lieder durch die Tür.“ Paare? Es scheint immer dasselbe Paar zu sein, das sich in den immer gleichen Wünschen und Träumen, Situationen und Positionen umhertreibt und sich andere Formen des Paar-Seins wünscht. „Nur unterm Weissdorn kein Merlin, der spricht, // der könnte ihre nicht geführten Leben, / aus Schatten auf die helle Strasse heben.“

Die nächste Abteilung „Ein Jahr im Hof“ richtet sich in einem bedeutungsschweren Traditions-Raum ein: dem Kalender, einem Ort „zur Herstellung von Zeitvergleichen und von Gleichzeitigkeit, sei es zwischen Welt- und Lokalgeschichte oder zwischen astronomischen und biologischen Rhythmen“ (Alexander Honold). Wie möblieren und modellieren nun Petersdorffs Gedichte diesen Ort? Zu einem Hof mit jahreszeitlich wiederkehrend variierter Kastanie (keiner schwarzschattenden diesmal), mit „Asphaltquadrat, Kopfsteinpflaster, / Mauer, Durchblicke, Müllcontainer, / Beet am Rand, vermooste Kellertreppe“. Vorstadtüblich. Personal: „einer durchquert auf Krücken / den Hof […] eine im Haustürrahmen / schüttelt die letzte Nacht […] ab / einer, auf dem Zweifel liegt, Schnee […] eine, die an den Satz ‚Schwarz ist keine Farbe‘ / des alten Zeichenlehrers denkt.“ Einer Eine Einer Eine. Fazit: „Zusammengeflickter Hof“. Dem entsprechen die den Hof und seine Menschen immer neu und anders aus immer ähnlichen Versatzstücken zusammenflickenden freien Verse: „Zeit ohne Innen und Aussen, Möbiusband.“ Genügt das dem Traditions-Raum der Kalender-Dichtung? Nein. Die zwölf Gedichte versuchen sich zwar nicht ohne Geschick und Erfolg an „der Verzahnung natürlicher und kultureller Zeitformen“; aber das so entstehende Gebilde bleibt leer und weit davon entfernt, „Lebens- und Erkenntnismittel gleichermassen“ (Honold) zu sein. Nun mag diese Leere für die Kalender des 21. Jahrhunderts kennzeichnend sein. Aber dann müssen die Gedichte sie ihrerseits kennzeichnen; sie darf ihnen nicht bloss schlicht widerfahren.

Unter der Anschrift der nächsten Tür „Lieder“ könnte zusätzlich stehen: Gebrauchslyrik. Das signalisiert keine niederwertige Gattung. Im Gegenteil. Ihre Verse „sind seelisch verwendbar. Sie wurden im Umgang mit den Freuden und Schmerzen der Gegenwart notiert und für jeden der mit der Gegenwart geschäftlich zu tun hat, sind sie bestimmt.“ (Erich Kästner) Fünfhebige Jamben, Paarreim, vierhebige Trochäen, Kreuzreim, Vier- und Dreihebigkeit im Wechsel, wiederkehrend Spondeen, oder – wie überwiegend bei Petersdorff – vierhebige Jamben, Kreuzreim. Lieder verlangen eine Prosodie, die man leicht und flüssig rezitieren, beinahe singen kann, und damit sie nicht langfädig langweilig werden, kurzweilige Reime. Damit kann Sirenenpop dienen: Handy – Dandy, Rillen – Pupillen, Fussballspiel – Jugendstil (das hätte Heine gefallen) usf. Nicht zu vergessen ein „Sanssouci“ überschriebenes Gedicht – Reimschema a – b – x – b -, das mit sich wettet, es gelinge ihm, in jeder Strophe einen anderen Reim auf seinen Titel zu finden. Es gewinnt die Wette. Welche Freuden und Schmerzen welcher Gegenwart swingen diese Gedichte nun an? Die der 20- bis 35jährigen, noch studierend oder schon im Beruf, zwischen Moskau und Hongkong, Heidelberg und Hannover, Schmerzen und Freuden, die in Schärfe und Gegensatz von den Gedichten nicht erst musikalisiert werden, die es, aufgehoben in eine klickend und surfend durchquerbare Gegenwart, immer schon sind. Das Reale ist unmittelbar virtualisiert und das Virtuelle ebenso realisiert. Dem tragen diese Lieder mit Geschick und Verve Rechnung und Melodie. Hier zeichnen sich die Umrisse einer freundlich kritisch gesellschafts- oder eher: geselligkeitsbezogenen Gegenwartslyrik ab, die um ihre Tradition weiss und mit ihr umzugehen versteht.

Letzte Abteilung: „Er, sie, 10 Schritte.“ Wo liegt der Unterschied zu der ebenfalls 10 Gedichte umfassenden Abteilung „Paare“? Paare sind eine Zahl, ein Zahlen-Verhältnis gegenüber anderen Zahlen-Verhältnissen. Paare kommen und gehen als Passanten einer begrenzten Auswahl sozialer Konstellationen. So erscheinen sie auch in der ihnen gewidmeten Abteilung von Sirenenpop. ErSie folgt einer anderen Logik. Es meint jene gegengeschlechtliche Beziehung, in der Er sich durch Sie und Sie sich durch Er mit sich identifiziert, in Nähe und Distanz, in Trennung und Vereinigung, im Ballett jener möglicherweise 10 lebensbestimmenden Schritte, in denen diese Beziehung sich auslegt. Eben dieses ErSie jedoch bildet wesentlich Grundmuster und Material der sich ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts modernisierenden westeuropäischen Lyrik (auch und gerade im deutschen Sprachraum). Jeder lyrische Text, der heute das ErSie zu  seinem Thema macht, findet sich demnach auf Intertextualität bezogen und ihr verpflichtet. Petersdorff weicht dieser Verpflichtung nicht aus. Im Gegenteil. Sehen wir zu, in welcher Weise und mit welchem Erfolg.

Im letzten Gedicht der Abteilung „Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum?“ mit gutem. Die ersten drei Verse „WER am hellen Morgen, Berlin, flache Strasse, herumirrt, / Netzstrumpf, Fishnet, als dunkel im Sinn, / Struktur: Stern und Blume, Schlange, Kreis“ ziehen gekonnt beiläufig das berühmte Gedicht Clemens Brentanos „Was reif in diesen Zeilen steht“ aus der 1837 erschienenen Letzt-Fassung des Gockel-Märchens mit seinem noch berühmteren Refrain heran: „O Stern und Blume, Geist und Kleid, / Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit!“ Worauf der Verweis zielt, zeigt das erste Wort des dritten Verses bei Petersdorff an: Brentanos Gedicht besteht aus sechs jambischen Dreizeilern, die nach dem Schema a-a-b alle miteinander reimen, sowie einem Zweizeiler in nun anders reimendem Paarreim. In der Tat eine sehr eigenartige, sehr nachdenklich stimmende Struktur für ErSie. Das intertextuelle Fenster schwingt nur für einen Augenblick und schliesst sich wieder, sobald die aufmerksam gewordene Reflexion hinein und hindurch sehen will. Was bleibt: ein plötzlicher Eindruck, eine flüchtige Erinnerung, ein noch dunkler Morgen auf einer beliebigen Berliner Strasse mit Aussicht auf Hellsicht. „Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei.“ (Walter Benjamin) Auch das der literaturgeschichtlichen, wie uns Petersdorffs Gedicht hier in unmittelbar berührender Weise erleben lässt.

Solchen Erfolg zeitigt das Verfahren der Intertextualität in „Er, sie“ nicht überall. In einem besonders aufschlussreichen Fall scheitert es geradezu beispielhaft an sich selbst, an seinem Gelingen. Deshalb wollen wir diesen Fall jetzt eingehend verfolgen.

Ich denk an dich, wenn am zerdröhnten Highway
mein Laufschuh bebt,
wenn abends plötzlich Trauer hinterm Gaumen
wie Chutney klebt,

ich höre dich, wenn hoch-tief-hoch die Aircon
den Tag zermahlt,
in Kaldi’s Coffee stockend – deine Stimme
die leise zahlt,

ich sehe dich, auf dem Display erscheinst
du anders, fahl,
die Lippen, Stirn, Kreolen, deine Fragen
nur digital,

und will dich nah, die weissen Locken fassen,
was sich entzieht,
Geruch des Nackens, Zungenspitze, Salz,
auf dein Gebiet.


So lautet unter dem Titel „Er weit weg“ der siebte der zehn Schritte, eine Kontrafaktur von Goethes Gedicht „Nähe des Geliebten“:

Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer
Vom Meere strahlt;
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
In Quellen malt.

Ich sehe, dich, wenn auf dem fernen Wege
Der Staub sich hebt;
In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege
Der Wandrer bebt.

Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen
Die Welle steigt;
Im stillen Haine geh ich oft zu lauschen,
Wenn alles schweigt.

Ich bin bei dir, du seist auch noch so ferne
Du bist mir nah!
Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne
O wärst du da!


Goethes Gedicht ist seinerseits eine Kontrafaktur des Gedichts „Ich denke dein“ von Friederike Brun, das dem Andenken ihres Freundes und Förderers Matthisson gewidmet und 1795 im Vossischen Musenalmanach erschienen ist.

Ich denke dein, wenn sich im Blütenregen
Der Frühling malt;
Und wenn des Sommers mild gereifter Seegen
In Aehren strahlt.

Ich denke dein, wenn sich das Weltmeer tönend
Gen Himmel hebt,
Und vor der Wogen Wuth das Ufer stöhnend
Zurücke bebt.

Ich denke dein, wenn sich der Abend röthend
Im Hain verliert,
Und Philomelens Klage leise flötend
Die Seele rührt.

Beim trüben Lampenschein, in bittern Leiden,
Gedacht ich dein!
Die bange Seele flehte nah am Scheiden:
„Gedenke mein!“

Ich denke dein, bis wehende Zypressen
Mein Grab unmziehn;
Und selbst in Lethe’s Strom soll unvergessen
Dein Name blühn!


Goethe lernt Friederike Bruns Gedicht in der Vertonung von Zelter kennen. Von der Musik ist er angetan, nicht aber von den Versen, denen sie gilt, weshalb er ihr nun seine eigenen unterlegt.

Was treibt einen Dichter an, sich auf das Werk eines anderen einzulassen, als wäre es an sich schon sein eigenes und damit die Aufforderung, es sich zu eigen zu machen? Ein Zugleich von Anziehung und Abwehr, von Attraktions- und Repulsionskraft, deren Verhältnis davon abhängt, welche Kraft stärker und welche schwächer wirkt. Wie bestimmt sich nun dieses Verhältnis zwischen den Texten von Friederike Brun und von Goethe? Und wie daraufhin dasjenige zwischen den Texten von Petersdorffs und Goethes?

Beginnen wir mit dem Formalen. Alle drei Gedichte sind vierstrophig. (Die vierte Strophe im Gedicht Friederike Bruns, die den Bezug zwischen Adressierender und Adressiertem umzukehren versucht, stört den Gang des Textes so rasch und so heftig, dass sie sich von selbst aus ihm tilgt.) Alle drei rechnen also mit einer symmetrischen Mittelachse, wenn auch jedes sie anders verrechnet. Durchgängig Kreuzreim; bei Brun überdies Assonanz zwischen dem ersten und dritten Vers der zweiten und der dritten Strophe, bei Petersdorff erster und dritter Vers Waise, Schema: x-a-x-a  (wir werden darauf zurückkommen). Versmass: fünfhebige Jamben alternierend mit zweihebigen, eine Radikalisierung  der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beliebten Chevy-Chase-Strophe, den Balladen-Charakter, das Beschwörende, Suggestive dieser Strophenform verstärkend und vertiefend. Allen drei Gedichten gemeinsam ist die Appell-Struktur, die mit dem „Ich denke dein“ ein Du im Text so anspricht, dass sie die LeserIn einbezieht und sich so unisono mit ihr an das textinterne Du richtet. (Jedes der drei Gedichte verwirklicht diese Struktur ein wenig anders.) Last but not least wendet sich in jedem ein weibliches Ich an ein männliches Du.

Nun zum Inhaltlichen. Über welchem Grundriss, auf welche Szenerie hin sind die Texte entworfen? Worin liegt ihre poetische Attraktivität? Ein im Gedicht, das Gedicht sprechendes Ich richtet sich an ein Du, ein Pro-Nomen, das ein als reine Variable fungierendes Nomen vertritt, wofür sich jeder denkbare Name einsetzen lässt. Der vom Ich ausgehende Appell fordert von jedem solchen Namen die Gesamtheit der Individualität, die er repräsentiert. Aber: „Individuum est ineffabile.“ (Goethe) Also kann nur ein Bild sie vergegenwärtigen, dem sein Ungenügen eingezeichnet ist und das sich folglich durch sich selbst ständig verändert und erweitert. Die Gegenwart, die das appellierende Ich beschwört, entfernt das beschworene Du Bild um Bild weiter von ihm. Zugleich jedoch integriert der Appell die Beziehung zwischen einem weiblichen Ich und einem männlichen Du, die von jedem Bild, jedem Vers einfaches Hier und Jetzt. Dieser Gedicht-Typ stellt seinen Realisationen demnach die Aufgabe exponierender Vermittlung zwischen Ferne und Nähe, sich entziehender und sich gebender Gegenwart, Erhabenheit und Erotik. Darin liegen seine Möglichkeiten und seine Schwierigkeiten.

Friederike Bruns Text vermag diese Aufgabe nicht zu lösen. In seinem Vokabular aus Beständen des Göttinger Hainbunds und der Anakreontik stören und behindern Erhabenheit und Erotik einander gegenseitig, so dass die Schärfe des Gegensatzes zwischen dem Modell und seiner Realisierung letztere zur Karikatur des Modells werden zu lassen droht.

Goethes Text sieht die Aufgabe sich durch ihre Bedrohung klar  abzeichnen und geht an die Lösung. Zunächst, indem er der wachsenden Monotonie des „Ich denke dein“ durch die doppelte Variation „Ich denke dein – Ich sehe dich – Ich höre dich“ begegnet. Vom Denken zum Sehen zum Hören. Von der abstrakten Vorstellung zur konkreten Wahrnehmung in den beiden reflexionsfähigen Sinnen. Dem ‚individuum ineffabile‘ entsprechend vergegenwärtigt sich das Du in Bildern, die innerhalb ihrer Auffassung deren Grenzen überschreiten: Sonne/Meer, Mond/Quellen, ferner Weg/Staub, tiefe Nacht/schmaler Steg. Während also, um mit Kant zu sprechen, die ersten drei Strophen das mathematisch Erhabene heranziehen, spricht die letzte in ihren ersten beiden Versen das moralisch Erhabene an, jenes ideale Beziehungs-Gesetz, das aus einem wirren Konglomerat von Einzelwesen erst eine Gemeinschaft formt, deren Mitglieder sagen können: "Du bist mir nah!" So weit so erhebend wie berührend, Nähe und Ferne des unaussprechlich unerschöpflichen Du in sich ruhig entfaltenden Bildern ineinander verschränkend. Aber: Wo bleibt das Erotische? In den letzten beiden Versen: „Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne / O wärst du da!“ Die Einfachheit des Sonnenlichts teilt sich in eine Vielzahl von einzelnen Lichtern, deren jedes seinen besonders unterscheidenden Namen hat. „O wärst du da!“ Du – mit einem ebenso besonders unterscheidenden Namen wie jeder Stern. – Das Bedenkliche, das Bedenkenswerte dieser Lösung der vom Gedicht-Typ gestellten Aufgabe liegt in dem Ungleichgewicht zwischen dem Erhabenen und dem Erotischen, das sich an den Rand gedrängt und nur mit einem zugegebenermassen ingeniösen Kunstgriff vor dem Verschwinden bewahrt findet.

Petersdorff schliesst sich der Problem-Lösung des Goethe-Gedichts an, variiert sie aber dort, wo sie wie eben gezeigt selber problematisch wird, in beeindruckendem Vorgehen. Der Weg von der Vorstellung zur Wahrnehmung bleibt leicht modernisiert und in einer der Bildfolge geschuldeten Umstellung erhalten: „Ich denk an dich – ich höre dich – ich sehe dich.“ Auf diesem Weg scheint das ‚individuum ineffabile‘ für ein Du aufgegeben, das in Alltags-Bildern und –Situationen erscheint und deshalb stets einen dem Ich vertrauten Namen führt. Sieht man genau hin, entdeckt man, dass in jedes Bild ein aufschliessendes Element eingefügt ist, das die Alltags-Situation an ihre Grenze bringt und über sie hinaus weist. Ergebnis: „ich sehe dich, auf dem Display erscheinst / du anders, fahl, /…/ nur digital“. Nur virtuell, nicht real; genauer: in jener virtuellen Realität, die diejenige reflektierbarer Wahrnehmung an Präzision und Tiefenschärfe überbietet und eben dadurch in jedem Augenblick von ihr abrückt. Diese Erfahrung erzeugt Trennungs-Schmerz und darin unbedingten Willen zur Nähe: „und will dich nah“, beginnt nun die letzte Strophe. „Du bist mir nah!“ ist unwahr geworden; Du, „nur digital“, bist mir zwar gegenwärtig, näher als nah, aber darin zugleich fern. – Das Bedenkliche, das Bedenkenswerte dieser Lösung der vom Gedicht-Typ gestellten Aufgabe liegt nicht im Ungleichgewicht zwischen dem Erhabenen und dem Erotischen, sondern in dessen Verschwinden. Es wird hier nicht an den Rand gedrängt, von woher es noch ins Erhabene hinüberspielen mag, sondern getilgt und in seinem multiplen Begehren durch einen einfachen Machtanspruch ersetzt. Dieser unmittelbaren Konfrontation zwischen dem Erhabenen und dem Sexuellen verdankt das Gedicht seine einprägsame, klare, harte Kontur, deren Profil durch die Brechung des Kreuzreims noch verstärkt wird – um den Preis, dass es die ihm gestellte und seine Realisation eigentlich bestimmende Aufgabe exponierender Vermittlung zwischen Erhabenheit und Erotik fallen lässt.

Diese Aufgabe, die sich aus dem von Friederike Brun geschaffenen poetischen Modell herleitet, ist sowohl in den Gedichten Goethes wie Petersdorffs erkannt, aber nicht gelöst. Das Spiel zwischen Anreiz und Abwehr, zwischen Attraktions-und Repulsions-Kraft, kurz: das Spiel des Intertexts bleibt in Gang.

Alles in allem? Kein „Höhepunkt moderner Lyrik“, wozu sich Thorsten Schulte auf www.literaturkritik.de versteigt. Aber eine inspirierende Exposition von Versuchen der verschiedensten Art, die Eremitage zu verlassen, in der sich die deutschsprachige Gegenwarts-Lyrik so oft und so gern und so betulich einrichtet. Inspirierend auch und vielleicht eben dort, wo die Versuche in Schwierigkeiten und an Probleme geraten. Das ist viel. Das ist dankenswert.


Januar/Februar 2015


Dirk von Petersdorff: Sirenenpop. Gedichte. München (C.H. Beck) 2014. 89 Seiten. 16,95 Euro.

Zurück zum Seiteninhalt