Direkt zum Seiteninhalt

Daniel Falb: COVID und Lebensform

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen


Kristian Kühn

Daniel Falb: COVID und Lebensform. Leipzig (Merve Verlag) 2021. 144 Seiten. 12,00 Euro.

Die Menschheit als Messwert und Gestalt.


So wie Englisch mittlerweile die Gestalt von Sprache an sich zu sein scheint, so Gesundheit die neue Ausdrucksform von Gott oder einfacher, des Geistes. Wenn es nach diesem Buch geht. Es fängt mit dem Begriff Gestalt an. Was ist die Gestalt der Menschheit? Ganz selten zeigt sich diese, nach Ausbruch von Corona, bzw. mit der Erkenntnis einer neuen, vorher nicht ins Bewusstsein getretenen Gefahr, da schon. Da sieht der Lyriker und Philosoph Daniel Falb zunehmend im Fernsehen, auch im amerikanischen, das Sterben von Monaden, da drängen sich diese zu einer einzigen, zunächst gestaltlosen Monade, dann zur Gestalt Menschheit an sich.

Bei CNN und auch den deutschen Medien dargestellt immer drängend und zugeschnitten auf ein Ziel; auf die altgriechischen Begriffe – bei Falb – bios und zoe (lateinisch vita), also Leben, Leben als Sinn und Form der Menschheit. Aber auch als nacktes Leben, vegetatives Leben, das so dahinzirkuliert. Ausgeblendet im philosophischen Denken des modernen Falb ist dabei der Parallelbegriff zu Leben, nämlich Licht (im geistigen Sinne, der deutschen „Aufklärung“, im Englischen = „enlightment“.) Der andere fehlende Begriff der Falbschen Philosophie ist das Ziel, wobei er dies ein Affektbild nennen würde, sein telos ist die Digitalisierung des körperlichen Menschen, eine ungeheure Maschinerie von Technik. Die Menschheit wird sich in der schönen grünen Welt bewusst, vergänglich zu sein, und das will sie aufhalten, durch gesundheitliche Kontrolle, Umweltschutz und Wandel der Technik hin zu einer Nachhaltigkeit und kontrollierten Dauer. Ihr Arbeitsfeld ist deshalb die Messung. Ich würde sagen, ein bisschen provokativ, eine Entwicklung vom Wert zum Messwert hat stattgefunden.

Doch ist es schwer, über diese Fibel zu sprechen, weil sie den ganzen Daniel Falb enthält, seine Art, Gedichte zu schreiben, sich ohne Verbrämung einem Sachverhalt oder einem Gedanken auszusetzen, dabei die Autopsie nicht zu scheuen, aber die Gedanken wie ein Versuchsfeld ohne Ergebnis aneinanderzureihen. Als Beobachter. Bis dann überraschend ein Urteil abgegeben wird, das ich manchmal für Satire gehalten habe, weil Falb zum Teil eindringliche Gegenargumente von Schönheit in seinem Narrativ nicht mehr zu gewichten wusste oder wollte.

Sein Narrativ ist dabei schön geschmückt mit mythischen Assoziationen, Comicreferenzen, spekulativ im Ansatz (ein bisschen wie Jonathan Meeses Objekte in dieser Spannung zwischen Gestalt und den zersplitterten Details, dann wieder an Pamphlete erinnernd, als seien sie Reden eines Robespierre).

Das Buch hat insgesamt fünf Kapitel sowie ein einführendes Vorwort. Im ersten Komplex, namens „COVID 19 und die Gestalt der Weltbevölkerung“, geht es im Wesentlichen um eine Entkalibrierung der alten Gestalt von Menschheit als „lücken-haftes Gedankenprotokoll der 18 Monate seit dem ersten Lockdown im März 2020 in Deutschland – um die Pandemie als Ereignis, das Wirklichkeit in ihrem Normalzustand artikuliert.“

Da eine Kalibrierung die Übereinstimmung erhaltener Testergebnisse mit den bisher bekannten diesbezüglichen Messwerten anzugeben versucht und deshalb während der Kalibrierung die Software des Sensors auf den Test hin anpasst, so versucht die Entkalibrierung, diesen Zusammenhang zu entkoppeln, metaphorisch gesprochen, der Menschheit eine neue Gestalt zu geben.

„Insofern ist die Weltbevölkerung auch ein Wesen, das kein Bewusstsein hat. Das ist mir unheimlich: Dass wir in einem präzisen Sinne ein Teil von ihm sind und dass wir selbst so verdrahtet sind, dass wir Bewusstsein haben (mit Kants Begriff: über transzendentale Subjektivität verfügen), während dieses Wesen das nicht hat – und doch zugleich uns Subjekte überhaupt erst hervorbringt.“ (S. 14)

Falb schließt daraus, dass Wahrnehmung und Bewusstsein aus dem Unbelebten erwächst, und zwar als ein riesiger „ERSCHEINUNGSRAUM (EINE WOLKE AUS ERSCHEINUNG) im Inneren des erdgroßen schwarzen Objekts Weltbevölkerung“. Ein Konzept, über das er schon in seiner „Genealogy of the Halcyon“ (nach eigenen Angaben) geschrieben hat.

Die Weltbevölkerung ist sich also ihrer selbst nicht als Gestalt bewusst. Denn sie kann nicht als solche angesprochen werden. „Ich spreche dich, eine lebende Person, mit diesem Text an, aber die Weltbevölkerung kann nicht auf diese Weise und auf keinem anderen Wege angesprochen werden. Leibniz sagte von den Monaden, sie hätten „keine Fenster“ – keine Haustür, keine bevorzugte Eingabemethode , und das gilt auch für die Weltbevölkerung. Dennoch kann die Weltbevölkerungsmonade (wie von einem ewigen Außen her) in ihrem globalen Maßstab durch Kausalitäten, die auch den ganzen Planeten umhüllen, deformiert werden.“

Ja, Covid, die Ukraine, die neue Welt gegen die alte. Kam die spanische Grippe nach dem Ersten Weltkrieg, kommt Covid wohl vor dem Dritten, ziemlich genau 100 Jahre später. Neue Gesichter, Gesichter des Todes. Die alten verschwunden.

„Die Gestalt der Weltbevölkerung wird statistisch aufgezeichnet. Sie entsteht erst mit dem Aufkommen statistischer Methoden und Institutionen, zunächst innerhalb der europäischen Nationalstaaten; heute wird sie typischerweise von transnationalen Datenerfassungs-einrichtungen erzeugt, steigt aus deren Grafiken und Websites auf.“

Im Zusammenhang mit der Forderung nach globaler Gesundheit kommt dann auch die Frage nach der simulativen Sterblichkeitsrate auf.

„Existenziell aber bleiben sie [die Statistiken] unlesbar. Das hat mit der Todesrate der Gestalt bzw. damit zu tun, dass wir immer Schwierigkeiten hatten, unsere Endlichkeit zu begreifen.“

Wobei Falb die Frage stellt, wie lange die COVID-19-Opfer noch weitergelebt hätten, hätten sie sich nicht mit dem Virus infiziert; man will also wissen, wie viele verlorene Lebensjahre (years of live lost, kurz YLL) die Pandemie bei ihren Opfern verursacht.“

Nun werden Rechnungen aufgestellt, Hochrechnungen und Prognosen von zu erwartenden Messungen: „Anders ausgedrückt, das gute Leben (im ethischen Sinne) ist das lange Leben (im Durchschnitt) – wenn nicht auf existenzieller oder philosophischer, dann sicherlich auf politischer und institutioneller Ebene: im Hinblick darauf, was Politik und Institutionen zu einem guten Leben beitragen können.“ Damit ist Falb beim Agamben-Diskurs angelangt, den er mehrfach dann aufgreift, und bei dessen Begriff des homo sacer, des heiligen Menschen (von Alters her) – dem er Lebenserwartung, „Health-Care als Lebens-Form“ der neuen entkalibrierten Menschheit entgegensetzt. Falb wehrt sich gegen Agambens Abwertung des „nackten Lebens“ als Gewusel und stellt die Gestalt eines kontrollierten Erscheinungsraums dagegen:

„Deshalb bin ich überhaupt nicht kritisch gegenüber der oben beschriebenen Entkalibrierung. Im Gegenteil, ich denke, wir sollten EIN WEITERES MAL AUF DIE GESTALT DER WELTBEVÖLKERUNG STARREN und uns NOCHMAL entkalibrieren, und NOCHMAL ganz aus der Fassung bringen und unsere so schädlichen Kalibrierungen zugunsten eines erneuten Aufstands aufheben, um EINMAL UND FÜR ALLE die Ungerechtigkeit in den Lebenserwartungen zu beenden, alle YLL gnadenlos zur Strecke zu bringen und ALLE DELLEN AUF DER OBERFLÄCHE DER HEILIGEN FIGURINE, ALLE DEFORMATIONEN DES ERSCHEINUNGSRAUMS IN IHREM INNEREN AUSZUKLÖPPELN.“

Entkalibrierung auch als Abschottung – die gesamte Weltbevölkerung müsste eigentlich in Quarantäne. Alle müssten sich zueinander in physischer Distanz halten, Masken tragen, volle Schutzausrüstung anlegen. Das Intensivbett als Modell und Metapher.

„Die Weltbevölkerung kann so lernen, wie sie sich ZURÜCKZIEHEN kann in ein paar Dutzend hochverdichteter urbaner Gewächshäuser/Megastädte als Bioreaktoren für die menschliche Spezies – all inclusive mit ihren Fusionsreaktortechnologien und ihren aus Bakterienkulturen gewonnenen (agrikulturfreien) Nahrungsmitteln, abgeschottet von der anderen Hälfte der Erde, die als planetarisches Naturschutzgebiet alleingelassen wird: als Tresor für Artenvielfalt und Holozän-Museum.“

Es ist schon spannend, wie Falb sich selbst als Prototyp einer neuen Umweltschutz-Menschheit sieht und sich – aufschwingend – als prophetischer Chronist eines verdoppelten Aldous Huxley hochschreibt.

Teil zwei des Bandes ist ein Gedicht, das mit assoziativen Fetzen, „Guernica“ genannt, Falbs Eindrücke vom März 2021 wiedergibt. Als Echoraum dieser Sprachmuster dienen ihm dabei Verschwörungstheorien.

        Hase.
        Eingetretene Bienenwaben.
        Honig-Piss.

Ich muss zugeben, dass ich Falbs Gedichte sehr mag und in ihrer spielerischen Geballtheit für sehr unterschätzt halte. Sie sind so direkt, in ihrer Gegensätzlichkeit von obsoleter Fetzenwelt und tiefgreifender Assoziation.

Das dritte Kapitel heißt „Drei Spaziergänge“ (im März 2021) und nimmt sich der Idee von Health-Care als Lebensform an und führt diese – wieder in Gedichtform – spielerisch und mit Humor über das Gesundheitswesen in Berlin-Kreuzberg weiter.

        Wie reiht man sich
        in eine Reihe
        von 80+jährigen,
        wenn die globale Lebens-
        Erwartung
        72,6
        ist?

Der vierte Komplex, „Kranke Körper, außer sich gespeichert“, steuert auf ein neues atheistisches Bild zu, die Patientenakte als geistige Idee, als verdinglichtes telos des Menschen. Abzüglich religiöser Motive, die möglicherweise bei einer Chronik mitschwingen, auch „im hartnäckigen Atheisten“. Das Kapitel soll ein Nachhall sein und „Affektbilder“ des alten Menschlichen entpacken. Entsakralisieren auch mögliche Metonymien und Metaphern in den eigenen Gedichten, die auf eine zweite Prinzipienwelt verweisen könnten.

„Diese Präsenz des Heiligen – der Heiligkeit eines weit entfernten und längst verstorbenen Menschen – ist in geringer Dosis auch in der Patientenakte spürbar: Sie umgibt derselbe spirituelle Schein.“

Vom Wert zum Messwert also auch hier. Der Wert („Vorstellung von der Zweitrangigkeit der physischen Welt der Körper“) wird zum Messwert von Krankheit und Health-Care. Er ist nur noch ein Affektbild, das sich medizinisch nicht halten lässt – wenn man auf das Sichtbare der Skala achtet und sonst auf nichts. Der Rest – außerhalb der Begriffe von bios und zoe - sei „kognitiv unhaltbar“ und basiere obendrein auf „falschen Annahmen der Realität und unsere Position darin“.

Im Grunde, habe ich den Eindruck, soll der Mensch als Einzel wie auch als Ganzes in der Gestalt der Weltmonade vereinheitlicht und digitalisiert werden.

„Der Apparat sorgt für dich.
(It cares.)
Auf der Rückseite dieses Affektbildes siehst du, wie der Apparat deinen Körper in einen posthumanen Datenkörper verwandelt, indem er deine Patient/innenakte erstellt und dazu verwendet, für dich zu sorgen.“

Diese Akte, erst in die Menschen digital eingeschrieben, wird nach Falb einmal „DIE UNSTERBLICHE SEELE“ im Zeitalter posthumaner (maschineller) Care“ sein.

Im letzten Kapitel (vom Sommer 2021) bestätigt Falb noch einmal sein Bestreben nach „Health Care als Lebens-Form“ und schreibt gegen Agamben und dessen alter Gestaltidee eines homo sacer und gegen dessen Medizinkritik an. Viren werden hier als Bedrohung des ganzen Apparates (wie Computerviren) angesehen und sind dementsprechend als solche auszumerzen.

Fazit ist nach Falb eine Art Gesundheitskommunismus, der begonnen hat, um die Welt zu ziehen, wie er sagt. Und was wohl auch so ist.


Zurück zum Seiteninhalt