Dagmara Kraus: liedvoll, deutschyzno
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Stefan Hölscher
Dagmara Kraus: liedvoll, deutschyzno. Gedichte. Berlin (kookbooks) 2020. 80 Seiten. 19,90 Euro.
Wechselbälger, Kuckuckskinder, Bülbülschinder
Wie müssten die idealen Leser*innen der Gedichte von Dagmara Kraus aussehen? Sie müssten über mindestens diese drei Muttersprachen verfügen: Deutsch, Polnisch, Französisch. Sie müssten stark bewandert sein in Literatur- und Kunstgeschichte. Sie müssten gute Kenner*innen von moderner Lyrik und speziell auch von lautmalerischer, konkreter und humoresker Poesie sein. Sie müssten sprachsensitiv und sprachschöpfungsoffen sein. Und natürlich müssten sie sich Zeit nehmen. Dies alles, um eine Chance zu haben, die Gedichte dieser Autorin in ihrer multilingualen Verwobenheit, ihren vielfältigen literarisch-historisch-kulturellen Bezügen und ihrem sprachschöpferischen Erfindungsreichtum umfassend zu erfassen.
Ich gebe zu, dass ich von diesem idealen Leser*innen-Anforderungsprofil ein größeres Stück entfernt bin, schon dadurch, dass mein Polnisch nicht so gut ist – leider. Bleiben zwei Wege, zumindest näherungsweise doch eine möglichst gute Beziehung zu den Gedichten von Dagmara Kraus herzustellen. Der eine führt über viel Nachschlagen und Nachdenken in Bezug auf Worte, Verbindungen und Anspielungen. Der andere ist unkomplizierter und heißt: ‚einfach‘ auf sich wirken lassen – am besten aber laut lesend. Ich habe abwechselnd beide Wege eingeschlagen und fand beide lohnend, was bereits einiges über diese Gedichte sagt, die sowohl dem intuitiv-spontanen wie auch dem nachforschend-hinterfragenden Blick viel gutes Futter zu geben vermögen.
Ich habe direkt auf
meinem Schreibtisch immer nur gut eine Handvoll Bücher liegen, nämlich diejenigen,
die mich ganz aktuell beschäftigen und begleiten. Manche Bücher verlieren ihr Schreibtisch-Aufenthaltsrecht
dabei schon nach deutlich weniger als 24 Stunden. Sie müssen dann da weg.
Dagmara Kraus‘ neuer, wieder bei kookbooks erschienener Gedichtband „liedvoll,
deutschyzno“ wird auch über das Schreiben dieser Rezension hinaus
voraussichtlich eine Weile auf meinem Schreibtisch liegen bleiben - und immer
mal wieder angeschaut werden. Der von Andreas Töpfer grafisch gestaltete Band ist
ein sprachlich-visuelles Gesamtkunstwerk. Er kann mit dem ganz besonderen Rot
seines Umschlags und seiner Zwischenseiten, mit den Zeichnungen, den Collagen,
den kunstvollen „Ikonenklonen“ und der graphisch extraordinären Anordnung
vieler Gedichte als echter Hirn- und Augenschmaus bezeichnet werden. Und schon
durch diese besondere und ästhetisch hoch ausgefeilte Erscheinung macht er Lust
reinzuschauen, in Kontakt zu gehen und zu bleiben.
Die Texte in „liedvoll,
deutschyzno“ erweisen sich dabei als sehr unterschiedlich, was ihre
Zugänglichkeit betrifft. Da gibt es Gedichte, die dem Lesenden den Zutritt sehr
leicht machen, wie zum Beispiel das fast wie ein Christian Morgenstern Poem
startende Gedicht:
dagmärchen vom aal(größenwahnfabel)es kam ein aal zu einem maler:bitte male ein portrait von mir.ein memento wünsch‘ ich, zier-arm, kerze, schädel, bloß nicht kahler
das den Aal bis hin zu
solcherlei Rede treibt:
ich bin der überaalealleskann!Ich bin der kahle aalestrahlemann!
Da gibt es Gedichte,
die sich ironisch-spielerisch an uns allgemein vertraute Fabelwesen
anschmiegen:
hornrärchen und das scheinenblemimmer noch glauben kleine mädchen an einhörner, sie glaubenan schöne, wohlproportionierte schimmel, an stolze tieredie einen spitzen hornzahn vor ihrer stirn hertragenniemand wagt es, ihnen die wahrheit überdie bleichen pferdebrüder zu sagendass derart ragen ihnen nämlich arge nackenschmerzen bereitetdass derart ragen den phantasietierischen horizont nichtgerade erweitert, dagegen dämlicherweise schmälertda man mit dem gewicht vor dem hirn auf keinemvon ihnen je irgendwo fernhin verreitet
Es gibt Gedichte, die
zumindest im ersten Schritt ganz ohne das Spiel zwischen und mit den
verschiedenen Sprachen auskommen, wie etwa der erste Teil von „terz“:
1man hat mich aufgemachtdurchsucht den bauchund fand dich nichtfand nirgends dein gesichtnirgends dein verstecksohn tötentöten wollt ich dichdu warst aber schon weg
Es gibt zahlreiche Gedichte,
die das Leben in den verschiedenen Sprachwelten selbst zum Thema machen und
sich dabei auch immer wieder neuschöpfend des Materials aus diesen Welten
bedienen, wie etwa „catodas“, was das schon vom Titel her tut, der auf
Französisch, Polnisch und Deutsch das Wörtchen „das“ bezeichnet:
drei sprachen sind zu groß für deinen mund, mein kindkau die an der kruste hier muskeln an, nimm
wobei, wie es später
darin heißt, „wechselbälger, kuckuckskinder, bülbülschinder“ aus diesem fast
babylonischen Sprachvielerlei entstehen.
Und es gibt Gedichte,
die sowohl durch ihre Länge wie auch ihre sprach-literarisch-kulturelle
Vielbezüglichkeit eine so hohe Komplexität und Verdichtung bergen, dass für
einen guten Zugang wiederholtes Lesen fast unumgänglich ist, so besonders die
aus 11 Teilen bestehende Gedichtfolge „das pulmal in vatis klematis“, ein ganz besonderer
Laut- und Deutungs-zusammenhang über das biblische Ereignis, bei dem Pontius Pilatus,
bevor er Jesus zum Tode verurteilt, nach Johannes 18.33 noch einmal kurz ins Prätorium
tritt („spielatus mir das lied vom kot“). Hier wimmelt es nur so von Dingen,
die man entdecken oder über die man einfach auch nur schmunzeln kann:
balz) komm aus dem haus, komm aus dem hausich brauch meinen inri, i brauch dein hinrich-tungsurteil, brauche dein beil, ich brauche den heilsbotenders meer teilt und wein macht und auferstehen
Weil er in seinen fünf
Kapiteln insgesamt so vieles lautlich zu erleben, sprachlich zu entdecken und
semantisch neu zu sehen ermöglicht, wird der neue Gedichtband von Dagmara Kraus
sicher noch eine ganze Weile auf meinem Schreibtisch liegen und immer mal
wieder darin stöbernd aufgeschlagen werden. Und auf vielen anderen
Schreibtischen, auch von Leuten, die nicht mindestens drei Muttersprachen
haben, hoffentlich ebenso!