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Christoph Wenzel: landläufiges lexikon

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Beate Tröger

Christoph Wenzel: »landläufiges lexikon«. Gedichte. Wien (Edition Korrespondenzen) 2022. 120 S. 20,00 Euro. ISBN 978-3-902951-72-4


Das Wort „landläufig“ verwendet man üblicherweise synonym für die Worte „allgemein“, „gängig“, „herkömmlich“, „normal“, „üblich“, „verbreitet“. Im Gedichtband „landläufiges lexi-kon“ des 1979 geborenen, heute in Aachen lebenden Lyrikers Christoph Wenzel, der zuletzt als Co-Herausgeber des Bandes „Brotjobs&Literatur“ einigen Diskussionsstoff in den ja oft eher etwas verschnarchten Literaturbetrieb einspeiste, findet sich das Wort aber auch unmetaphorisch gebraucht. Viele der Gedichte, die in insgesamt elf Abteilungen gegliedert sind, „erlaufen“ sich Landschaften in einem erkundenden, archivierenden Sinn. Am plakativsten zeigt sich das in dem Gedicht „aus dem inhaltsverzeichnis“:

idylle mit bundesautobahn
idylle mit bombentrichter
idylle mit langzeitzünder
idylle mit schwermetallen
idylle mit autohaus
idylle mit beleuchtung
idylle mit kläranlage
idylle mit kernkraftmeiler, kühne, kühlturm
idylle mit monokultur, mais
idylle mit carport
idylle mit fernverkehr
idylle mit flughafen
idylle mit bushaltestelle (eine kapelle: warten und beten, dass der bus kommt)
idylle mit adorno
idylle mit jesus am kreuz
idylle mit truppenübungsplatz
idylle mit eichenprozessionsspinner
idylle mit waldbrand
idylle am rende der datenrate
idylle mit „gleichwertigen lebensverhältnissen“
idylle mit rasensprenger
idylle mit deutschlandfahne im garten
idylle mit wühlmäusen im grünkohl
idylle mit wachhund
idylle mit fallwind auf den bundesstraßen
idylle mit wanderparkplatz und münzfernrohr

Die Anordnung des Inventars der Peripherien in Form einer Liste bildet mimetisch die Monotonie des Lebens in den Räumen der Zersiedlung, der Flurbereinigung, der Unifor-mierung ab, und jeder wird rasch seine eigene innere Peripherie vor Augen haben, die sich hierzulande allenfalls und auf den ersten Blick durch das Relief der geographischen Landschaft (flach oder gebirgig) von anderen Peripherien hierzulande unter-scheidet. Zwar bezieht sich das „landläufige lexikon“ vornehm-lich auf Nordrhein-Westfalen, auf die Landschaft am Nieder-rhein, das Ruhrgebiet mit seinen Kohlezechen und auf das großbäuerliche, ostwestfälische Land, in dem Annette von Droste-Hülshoff zeitweilig lebte.

Vieles, was dort zu beobachten ist, lässt sich jedoch übertragen. Doch das Gedicht erschöpft sich nicht in dieser Monotonie. Nach dreizehn Versen liest und stolpert man: „idylle mit adorno“, heißt es da und erschüttert den Lesefluss, in den man sich mit willigem Grausen ob der Requisiten dieses monotonen und durchrationalisierten Szenarios schon begeben hatte.
       Nun war Theodor W. Adorno kein Geograph oder Biologe, dem vornehmlich an einer Neuordnung der bundesrepublikanischen Flächen oder dem Schutz der Umwelt gelegen gewesen wäre. Was also, kann man fragen, hat er an dieser Stelle im Gedicht verloren?
          Der Geograph Werner Bätzing schreibt in seiner Studie „Das Landleben“ (2020), dass die große säkulare Zäsur beim Landleben erst sehr spät, mit dem Beginn der 1960er-Jahre einsetzt. Noch in den 1950er-Jahren steht das Landleben dem mittelalterlichen Leben sehr viel näher als den heutigen Lebensverhältnissen. Das bedeute, so Bätzing, dass der ländliche Raum erst in der letzten Phase der Industriegesellschaft, durchgreifend modernisiert wird. In dieser raschen Rationalisierung des ländlichen Raums manifestiert sich, was auch in der Arbeitswelt und in der Kunst zu beobachten war: eine rasche und rücksichtlose Ausbeutung und Instrumentalisierung von Ressourcen, deren Manifestationen auch im Werk von Adorno vielfältig und differenziert untersucht werden.
      Von hier aus gesehen, kann man sich nun die Beobachtungs- und Sprecherinstanz der Gedichte von Christoph Wenzel präziser vergegenwärtigen. Auch hier hat man es mit einem Beobachter zu tun, der seinen Blick auf die unterschiedlichsten Elemente der Peripherien scharf stellt, die im zitierten Inhaltsverzeichnis schon teilweise aufgefächert worden sind. Die Gedichte verfahren dabei aber nicht synchron, verweilen nicht nur in einem Jetzt, sie interessieren auch für die Vergangenheit, die „altlastenkataster“ nicht nur der Nachkriegszeit, sondern des gesamten 20. Jahrhunderts, am augenscheinlichsten vielleicht in „das wetter in ypern“, wo im Ersten Weltkrieg eine halbe Million Soldaten ihr Leben ließen, wo der Name des Ortes zur Chiffre für ein Massensterben geworden ist: „ypern aber ist viel größer als ypern selbst“, wo vom „bodengedächtnis“ die rede ist, eine Metapher, die sich auch auf die Sprache in Wenzels Gedichtband übertragen ließe, eine Sprache, die bei aller Verstörung dennoch immer wieder auch nach dem Binnen- oder Endreim, in Konsonanzen und mittels Alliterationen nach dem Klang- und Rhythmusschönen tastet, dann aber wiederum in Gegenbewegungen ausschwingt, indem Redensarten transformiert und entmetaphorisiert beim Wort genommen werden, wie zum Beispiel in dem Vers des gleichnamigen Gedichts, das mit dem Vers beginnt: „dieser ort war schon von beginn an NAH AM WASSER gebaut“, oder modifiziert werden: „umherirren ist menschlich“.
    Indem diese spielerischen Momente in die Texte kommen, wird das bleischwere Kirschlorbeergrauen immer wieder fein abgemildert und die Kritik selbst fein ironisiert. Letztlich hält man sich gerne in diesen Peripherien auf, die, entzieht man sie der Konkretion, in seelische und menschliche Zentren und Peripherien führen, in denen wiederum selbst so vieles begradigt, bereinigt, optimiert werden muss, wenn es ums Überleben geht, und sich der Wildwuchs und das gefürchtete Scheitern dennoch und zum Glück immer wieder Bahn brechen:

vater, mutter, wald, DAS LANDSCHAFTSREPERTOIRE,
die ebene, der fluss, ein wasserschloss, die siedlung,
kreisstraße, siedlung, bach, der garten, die unzerschnittenen
räume, parzellen, das obst an den bäumen, das ehebett,
das kinder-, jugend-, gästezimmer, nach der eiszeit
BAUEN WIR DAS LANDSCHAFTSBILD NEU ZUSAMMEN: mutter, das bett,
das jugendzimmer, die siedlung, kreisstraßem der bach,
die siedlung, vater, das bett, der wald, die balkone, die zer-
schnittenen räume, die dreifachturnhalle, alle tischtücher, bettlaken,
nachmittage, feiertage, schuldfragen, die blühenden bäume, die zweige
               
Das Kernstück des Bandes ist womöglich der Zyklus „ortskerntangente“, der ausgehend von einer realisierten Straße, die ein Dorf durchtrennt und die Arbeitersiedlung in einen Bereich jenseits des alten Ortskerns verbannt, die Folgen willkürlicher Planungsreformen (nicht nur) auf ein erinnertes jugendliches Sprecher-Ich, weniger in psychologischem als in strukturellem Sinne, durchdekli-niert:

mach die tür auf, das blatt, die karte im maßstab
eins zu eins. Setzt du deinen fuß darauf,
ist das urkundenfälschung, aber: all maps are wrong,
so setzen wir auf die autovervollständigung
der umgebung, ihre verballhornung, die verklärung
      
„autovervollständigung“, präziser kann man den gebietsreformerischen Irrwitz vielleicht kaum auf den Begriff bringen, der -- anders als wissenschaftliche Termini -- eben gerade dadurch so wirkungsvoll gerät, weil er seine Wirkkraft nicht behauptet, sondern sie der Sprache direkt entnimmt. Christoph Wenzels „landläufiges lexikon“ steckt voller solch feinsinniger semantischer Zaubereien.


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