Christian Schloyer: Jump 'n' Run
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Michael Braun
Nur der Umweg führt zur Vollkommenheit
Beobachtungen
an Christian Schloyers Gedichtband „Jump ´n` Run“
Ist hier ein
sprachspielbesessener Barockautor des 17. Jahrhunderts am Werk? Oder ein Nostalgiker
der Videospiel-Kultur, der Jumpman-
und Super Mario-Helden? Wer ein artistisches
Unternehmen wie Christian Schloyers Gedichtband „Jump ´n` Run“ angemessen bewerten
will, der muss literaturhistorisch weit ausholen. Im 17. Jahrhundert traten
erstmals grandiose Text-Bild-Virtuosen auf, die ihre poetische Passion in Form
von zum Teil bizarren visuellen Poemen ausagierten. Georg Philipp Harsdörffer
erfand 1651 etwa den „Fünffachen Denckring der Teutschen Sprache“, der sich zum
Ziel gesetzt hatte, alle Wortbildungs- und Denkmöglichkeiten, die in der
deutschen Sprache enthalten sind, mechanisch reproduzierbar zu machen. Ein
ähnliches Projekt verfolgte der spanische Gelehrte Juan Caramuel y Lobkowitz,
als er 1616 seine Vers-Permutationsscheibe „Maria Stella“ erfand, ebenfalls
eine kreisförmige Wortmaschine, die darauf angelegt war, unterschiedlichste
Möglichkeiten und Richtungen des Sagens und Schreibens durchzuprobieren. Genialische
Barock-Autoren wie Quirinus Kuhlmann, Sigmund von Birken oder Johann Klaj
erfanden „Letterhäufelungen“, „Denck-Täfelchen“ und Gedichte in Vasen- oder
Trichterform, die die herkömmliche Leserichtung außer Kraft setzten. All diesen
visuell-poetischen Unternehmungen ist ein Gedanke eigen, den Gustav René Hocke
in seiner Analyse des Labyrinth-Motivs im Manierismus trefflich so formulierte:
„Nur der Umweg führt zur Vollkommenheit.“
Genau diese poetische Apologie des Umwegs soll wohl auch mobilisiert werden, wenn man sich in die Level-Struktur der „Jump ´n` Run“-Poeme Christian Schloyers hineinbegibt. Denn dieser Gedichtband präsentiert uns nicht eine wohlgeordnete Folge von Texten, die in traditioneller Versstruktur linear fortschreiten, und zwar mit Hilfe eines reichhaltigen Metaphern- und Motiv-Repertoires. Christian Schloyer geht stattdessen das Risiko ein, die Ursprungsgestalt seiner Gedichte aufzulösen und die Abfolge der einzelnen Verse und Strophen der Entscheidung des Lesers zu überlassen. Ausgangspunkt für dieses Experiment ist ein Videospiel-Klassiker aus der Steinzeit der Computerspiel-Kultur, das Game „Donkey Kong“.
Die einzelnen Wörter, Verse und Bildkombinationen in „Jump ´n` Run“ sind hierbei über grafische Treppen, Leitern, Wegzeichen und Richtungspfeile verbunden. Der aktive Leser/Spieler hat damit die Möglichkeit, von Ebene zu Ebene zu springen, bis er in seinem individuellen Prozess des Lesens, Auslegens und Interpretierens das nächste Level erreicht. Hinzu kommt noch eine akustische Ebene des Buches. Denn die Gedichte in jedem der insgesamt acht Kapitel werden von Klangkunst begleitet. Jeweils am Ende der einzelnen Kapitel erwartet uns ein QR-Code, den wir mit Hilfe des Smartphones einscannen können – und dann erwarten uns techno- und trance-hafte Klangkonfigurationen.
Aber
wie geht das letztlich zusammen – ein Gedicht und ein Computerspiel? Sind das
wesensverwandte Genres oder im Gegenteil grundverschiedene Kunst- und
Spielformen, die sich gegenseitig ausschließen? Ein offenes, sich in viele Richtungen
verzweigendes Gedicht: Das hat es ja nicht nur in der Barockdichtung gegeben,
sondern auch in späteren Epochen, etwa bei Arno Holz und seinem Agieren mit der
Mittelachsen-Struktur oder noch später bei Rolf Dieter Brinkmanns Flächengedichten.
In „Jump ´n` Run“, so erläutert Schloyer sein Projekt, seien keine „seriellen“
Gedichte zu erwarten, sondern „poetische Algorithmen“ oder „lyrische
Computerspiel-Level“: „und anstelle von Zyklen werden wir in acht
unterschiedlichen Spielwelten herausgefordert.“ Das ist zumindest
missverständlich, denn die Selbstzuschreibung des Autors, er produziere
„poetische Algorithmen“, lässt vermuten, dass hier gemäß der phantasiefernen
Taubheit digitaler Literatur vorgefundene Textmengen nur neuen
Systematisierungsprinzipien unterworfen werden. Aber Schloyer hat enorm
welthaltige wie auch bildersüchtige Gedichte geschaffen, er ist ein Dichter von
eminenter Einbildungskraft, der uns freilich die Aufgabe auferlegt, selbst über
den Gedankenweg der einzelnen Gedichte zu entscheiden. Im sechsten und im
achten Zyklus des Bandes erreichen seine Gedichte eine große Intensität, hier
vermischen sich Schöpfungsphantasien mit apokalyptischen Bildern. Der sechste
Zyklus mit seinem schönen Titel „taufbecken mit marianengraben“ führt uns nicht
nur zur tiefsten Stelle der Weltmeere, sondern auch zu einem Punkt, da die
Position des Subjekts im Universum existenziellen Erschütterungen ausgesetzt
ist: „ICH höre fremdartigen gesang seid das/ ihr? habe meine ausrüstung
verloren bin/ also nackt & weiß / nichts mehr (ob ich atme +/ wovon ich
lebe) & wer bin ich? weiß/ nur ich sink herab was peitscht da?/ auf mich ein! hätt schwören können / ich hab vögel gesehn! dolche/ aus fasrigem licht/
was der andere/ gedacht haben wird man
darf hier/ keine seepferdchen erwarten/ das macht mich zur beute?/ aber irgend jemand muss das alles doch/
eingefädelt haben denk ich/ jämmerlich &
warum?“
Es
bleibt aber letztlich fraglich, ob der Versuch, mit einem Flechtwerk von
Pfeilen und Leitern und dadurch entstehender Unübersichtlichkeit den Leser auf
unterschiedlichste Sinn-Wege und Bild-Pfade zu locken, wirklich der Königsweg
zur poetischen Vollkommenheit ist. Die Zweifel an der poetischen Notwendigkeit
der Level-Struktur werden verstärkt, wenn man im „Jahrbuch der Lyrik 2017“
Schloyers Gedicht „im trailer die chemtrails der apokalpytischen reiter“ sieht,
das dort in konventioneller Form präsentiert wird, während der Text in „Jump
´n` Run“ aufgefächert wird in die Level-Struktur. Würde das System der Piktogramme,
visuellen Zeichen und Level-Strukturen in „Jump ´n` Run“ ersatzlos entfallen und
die Versfügungen und Strophen Schloyers würden sich frei von Richtungsanzeigern
auf der Seite verteilen – nichts würde diesem Buch der bildstarken
Phantasmagorien und der fantastischen Imaginationen fehlen.
Christian Schloyer:
Jump´ n´ Run. Gedichte. Leipzig (Poetenladen) 2017. 160 Seiten. 21,80 Euro.