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Björn Hayer: Die neuen Schöpfer

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Kristian Kühn

Björn Hayer: Die neuen Schöpfer. Texte zur zeitgenössischen Lyrik. Berlin (Gans Verlag) 2024. 220 Seiten. 28,00 Euro.

Das Denken, Träumen, Schöpfen


Björn Hayer, einer der wenigen noch verbliebenen arrivierten Literaturkritiker, hat kürzlich – neben eigenen literarischen Versuchen – einen kleinen Essayband über den Zustand unsrer Gegenwartslyrik zusammengestellt und ist damit in die Fußstapfen von Christian Metz und dessen Referenzwerk „Poetisch denken. Die Lyrik der Gegenwart“ (Fischer Verlag, 2018) gelangt. Bezog sich dieses Ziel des poetischen Denkens auf einen Ausspruch von Steffen Popp, den er in „Poesie und Begriff – Positionen zeitgenössischer Dichtung“ (Diaphanes Verlag, 2014) wie folgt formulierte, „Wo Denken etwas hervorbringt, lebt es von einer Kontaktaufnahme mit etwas, das begrifflich nicht schon bestimmt, auf der Ebene von Aussagen nicht schon ins Sprechen eingemeindet ist“, so ist die gemeinsame Quelle dieser Frage nach den Windungen bewussten oder unbewussten Denkens wohl das 1954 erschienene philosophische Traktat Martin Heideggers: Was heißt denken?“

Aber der Mensch heißt doch der, der denken kann – und das mit Recht. Denn er ist das vernünftige Lebewesen. Die Vernunft, die ratio, entfaltet sich im Denken. Als das vernünftige Lebewesen muß der Mensch denken können, wenn er nur will. Indes will der Mensch vielleicht denken und kann es doch nicht.  (S. 1)

Den Grund dafür sieht Heidegger darin, dass wir nur „vermögen“, was wir „mögen“. Er rät uns also, das Denken zu lernen, und zwar, indem wir auf das achten, „was es zu bedenken gibt“. Und das Bedenklichste sei, dass wir immer noch nicht denken, „obgleich der Weltzustand fortgesetzt bedenklicher wird.“ Hayer nun setzt seiner Textsammlung zur zeitgenössischen Lyrik gleich das Ziel „Du musst dein Leben ändern“. Es ist der Schlusssatz eines Sonetts von Rainer Maria Rilke, das „Archaischer Torso Apollos“ heißt und davon handelt, dass ein Mensch über den kopflosen Torso eines Gottes meditiert und dabei „voller Faszination“ (Hayer in seinem Vorwort) nicht erklären kann, was ihn ergreift. Wäre ich Platon, würde ich sagen, genau dies, dieses verstehen Wollen und es nicht können, ist der Anfang von Teilhabe. Dieses „Glotzen“ (Coleridge) auf das, wo vorher das göttliche Haupt war, das Erleben dieser Fülle. Kein Wunder, dass es Rilke ergriff, nun will man natürlich die Augen sehen, von Angesicht zu Angesicht – doch ist es nicht das, was Kunst verwehrt? Nur das Verlangen ist gesetzt:

Ich wurde erwachsen, stürzte mich in den Hochmut der Arbeit und des Geistes, stolperte, stand wieder auf, lernte zu lieben, zu verdrängen, zu hoffen und mitzufühlen. Zäsuren kamen unausweichlich und stets erneut das Postulat „Du musst dein Leben ändern“. Am intensivsten wirkten diese Worte, wenn ich noch nicht genau zu verbalisieren wusste, warum ich etwas ändern sollte und in welcher Hinsicht. (Vorwort, S. 12)

Ähnlich beschreibt es dieser andere Referenzband über das Verfassen von Poesie, Ben Lerners „Warum hassen wir die Lyrik?“ (Suhrkamp, 2021.) Er führt als Begründung ein Beispiel an, warum man das Echte trotz der Teilhabe oder des Versuchs poetischen Denkens nicht wirklich gewinnen kann: es ist diese Diskrepanz zwischen dem geplanten Gedicht hin zur Gestaltung, Beda spricht in seiner Historia, führt Lerner an, von Caedmon, dem ersten englisch-sprachigen Dichter, einem unwissenden Schafhirten, der aufgefordert wird, Gott zu besingen, bzw. den Anfang der Schöpfung, und siehe, Caedmon öffnet den Mund und zur eigenen „Verblüffung strömen herrliche Verse zum Lobe Gottes hervor.“ Doch es war nur ein Traum, Caedmon erwacht, und das Gedicht, das er nach dem Erwachen dann der Gemeinschaft vorträgt, ist laut Beda nicht so gut gewesen wie das Gedicht, das er im Traum erlebt und verkündet habe.
Rilkes Gedicht entstand 1908, zwei Jahre nach seiner Zeit bei August Rodin als Privatsekretär. Auf einer Vortragsreihe über Rodin 1907 zitiert er den Meister im Kapitel „Dinge“:

Und das kommt, weil ich mich um eine Sache ernstlich bemüht habe; wer Eines versteht, der versteht überhaupt; denn in allem sind dieselben Gesetze. Ich habe die Skulptur gelernt, und ich wußte wohl, daß das etwas Großes ist. Ich erinnere mich jetzt, daß ich einmal in der ›Nachfolge Christi‹, im dritten Buch besonders, überall statt Gott Skulptur gesetzt hatte, und es war richtig und stimmte –.

Hayer, in seiner inkludierenden und ausgleichenden Art, sucht auch in diesem Fall das Verbindliche:

„Wer Lyrik jedoch allein auf einer intuitiven Ebene rezipiert, trägt ihrer wahren Ausdrucksfähigkeit nicht Rechnung. Ich begegnete ihr als junger Mensch naiv, sentimental, als geschulter Leser erfreute ich mich hingegen an ihrem arkanen Wesen. Beide Seiten lassen sich nicht per se gut miteinander verbinden.“ (S. 15)

Deshalb sieht er dieses Buch als „Thesenband“, als „Aufriss, mal eines Begeisterten, mal eines Kritikers“. (S. 16) Der Grund dafür, dieses Verfahren für richtig zu halten, liegt für Hayer, wie es Rilke auch an Rodin schätzt, in der Resonanz der Körper und in den Dingen selber, die die Größe aus einem Ding heraus, hier beispielsweise einem Gedicht, hallen lassen können, auch ohne Definition oder Festlegung.

„Der Befehl aus dem Stein“ heißt das Kapitel, mit dem Peter Sloterdijk seine umfangreichen philosophischen Ausführungen zu „Du mußt dein Leben ändern“ (Suhrkamp, 2011) beginnt, denen er den Untertitel „Über Anthropotechnik“ gegeben hat. Rilke wende sich 1908 von rein gefühlsorientierter Lyrik ab und damit Gedichten zu, die Dinge quasi selbst sprechen lassen. Mit ähnlichen Argumenten ordnet Hayer auf seine Weise die neuen Schöpfungen der zeitgenössischen Lyrik, wobei das Über-sich-hinauswachsen einer Art Selbstbehandlung, einer Achtsamkeit entspricht, die zur Umwelt- und Selbstverbesserung führen kann:

Solange es der gemäßigten Tendenz gelingt, sich als das Vernünftige darzustellen, das im Begriff ist, das Wirkliche zu werden, und daher universelle Geltung beansprucht, kann man den Fortschritt der Technik einigermaßen sorglos mit dem moralischen und sozialen parallelisieren, vielleicht sogar gleichsetzen. Die Bewegung nach vorwärts und aufwärts ist für den üblichen Progressismus eine Wanderung, die man nicht aus eigener Kraft in voller Länge zurückzulegen braucht; sie gleicht einem Strom, von dem man sich tragen lassen darf. An fernen Quellen entsprungen, hat er ganze Weltalter durchmessen; unser Fortschrittsschiff wäre nicht schon so weit gekommen, triebe es nicht seit langem auf der Strömung – doch erst seit kurzem segelt es unter bewußter Steuerung auf den Hafen zu.“ (Sloterdijk, Kapitel Exerzitien der Modernen 588)

Für Hayer ist dieser Anspruch, das eigene Leben zu ändern, auch wenn es beim Denken oder Schreiben unklar bleibt, in welcher Form, worin das eigene telos liegt, am intensivsten: Denn „gerade diese Leerstelle ist das magische Epizentrum der Dichtung.“ (S. 13). Bei Hayer, der sich wie Sloterdijk auf das Anthropozän beruft, ist der Resonanzkörper unsere leidende Erde, die Natur, sei sie durch Erlebnis und Mitempfinden des Leidens oder durch Ideen und Politik hervorgerufen. Sie ersetzt für ihn teils die zweite Ebene der Literatur, teils beruft er sich dabei auf traditionelle Dichtung, etwa von Hölderlin oder Andreas Gryphius, mit all deren spirituellen Zwischentönen.

Was an den Grenzen der Realität zu scheitern droht, erscheint in den aktuellen Poesien realisierbar.“ (S. 20) Silke Scheuermann etwa beschwört in einem ihrer Gedichte eine „zweite Schöpfung“, (Skizzen vom Gras, 2014) (S. 20)

Hayer hebt die „Lust an der Metamorphose“ im Kapitel „Die neuen Schöpfer“ hervor. Werde das „verborgene Wissen“ ausgelotet, dann könne von einem Augenblick auf den anderen alles zum Kippen gebracht werden. (S. 21) Die in der Schwermut wurzelnde Kraft wertet Hayer für Wortschöpfungen sehr hoch, weil sie von der Poesie „zu einer epochalen Grundstimmung erhoben“ worden sei, denn die „Melancholie schließt Utopie nicht aus, sondern trägt deren Keim in sich.“ (S. 23)*

Typisch für Hayers konstruktive positive Art zu denken ist, dass er der kreativen Melancholie ein wirksames Eindringen in die Tiefe zuschreibt (S. 112), um das Vertikale ringend, um Mehrschichtigkeit, statt einfach horizontal Wortfelder und Motive aneinanderzureihen (S. 112). Deshalb verweise sie auch auf „eine zentrale Wesensfunktion der Gegenwartslyrik, nämlich Trost zu spenden und das Leben mit all seinen Rissen leichter erträglich werden zu lassen.“ (S. 25).

Zur Affirmation werden Zeilen aus diversen Gedichten angefügt und mit politischen Entwicklungen in Zusammenhang gebracht, zum Teil ein bisschen feuilletonistisch:

Ob es einen Gott gibt oder anderes Leben im All. Das vermag selbst die zeitgenössische Dichtung nicht zu klären. Allerdings kann sie uns ein Gefühl für jenseitige Räume geben, die wir uns selbst ausmalen können. (S. 26)

Mut machen will das Buch. Ziel sei es, dass man „ein Netz schafft, das auffängt statt aufzulösen, das zusammenhält statt zu trennen.“ (S. 43).

Begeisterung fördern will Hayer, als „Metablick“ propagierend, wobei es der Kritik obliege, unterhaltsam zu bleiben, um diesen Brückenschlag zu forcieren. Als Romantiker, Stürmer & Drängler will er aufrichten, an das Positive binden. Dabei der Diversität zuliebe die Öffnung der Felder vorantreiben, allerdings das Maß der Dinge im Auge behaltend:

Vielleicht würde neben der Ausweitung ihrer Grenzen daher auch eine Besinnung auf das Innerste der Lyrik guttun. Zum Beispiel auf Konzentration und Emotion. Gedichte leben von ihrer Wirkung, ja, vom Funkenschlag. (S. 63)

Den Sinn der Poesie, ihren telos, sieht Hayer jedoch in dieser Teilhabe an Rilkes Apollon, in dem ethischen Imperativ, das Leben durch Tun zu ändern. (S. 97) Zum Schluss geht es deshalb um das Anthropozän und das Anschreiben gegen den Klimawandel und Untergang. Besonders hervorgehoben wird dabei schon früh die „wegweisende“, von Anja Bayer sowie Daniela Seel herausgegebene Anthologie „all dies hier, Majestät, ist deins: Lyrik im Anthropozän“ (kookbooks, 2016) (S. 149).


Vgl. Jan Kuhlbrodts Rezension zu Björn Hayer: Utopielyrik. Möglichkeitsdimensionen im poetischen Werk. Friedrich Hölderlin – Rainer Maria Rilke – Paul Celan. Bielefeld ([transcript] Verlag) 2021. 288 Seiten. 60,00 Euro.


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