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Björn Hayer: Utopielyrik. Möglichkeitsdimensionen im poetischen Werk

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Jan Kuhlbrodt

Björn Hayer: Utopielyrik. Möglichkeitsdimensionen im poetischen Werk. Friedrich Hölderlin – Rainer Maria Rilke – Paul Celan. Bielefeld ([transcript] Verlag) 2021. 288 Seiten. 60,00 Euro.

Zur Rekonstruktion der Möglichkeit einer Utopie
Björn Hayers „Utopie-Lyrik“


1993 konstatierte Joachim Fest in einem Buch, das „Der zerstörte Traum“ hieß, ein Ende des Utopischen Zeitalters. In diesem Buch stellte er die kommunistischen Utopien an die Seite der faschistischen und stellte den Emigranten Ernst Bloch letztlich neben Hitler. Nicht Thomas Mann, der seine kulturelle Verankerung kritisch zur Disposition gestellt habe, sondern Bloch hätte ein Buch mit dem Titel „Mein Bruder Hitler“ schreiben können. Unmittelbar davor ereignete sich der Zusammenbruch der totalitären Regimes in Osteuropa.
      Was Fest formulierte, war letztlich der damals herrschende Zeitgeist, der utopisches Denken für die Verhärtung politischer Machtstrukturen verantwortlich machte. Effekt war eine Art lang anhaltendes Utopieverbot, das mit der neoliberalen Umgestaltung der Gesellschaften des Westens korrespondierte. Und natürlich sollte man über den Zusammenhang von Utopie und Totalitarismus nachdenken, aber die Gleichsetzung beider, wie Fest sie vollzog, verstellt zugleich jeder emanzipatorischen Bewegung den Weg. Ein Reflex auf diesen neoliberalen Akt ist meines Erachtens eine Dogmatisierung in den Positionen eigentlich progressiver Bewegungen. Das Fluide ist ihnen abhandengekommen. Vielleicht sollten wir noch einmal an die Wurzeln zurückkehren um eine Reformulierung der/unserer Positionen zu wagen.

Björn Hayer hat in diesem Sommer bei [transkript] eine umfangreiche Studie zum Verhältnis von Lyrik und Utopie vorgelegt. Er entwickelt seine Gedanken exemplarisch anhand ausgewählter Texte von Hölderlin, Rilke und Celan. Eingangs aber versucht er, einen Utopiebegriff zu bestimmen, in dem er sich einer Reformulierung Blochscher Gedanken annimmt. Es geht um den Vorschein des Möglichen im Wirklichen, also keineswegs um die haltlose Konstruktion eines Anderssein jenseits allem Gegebenen. Der Blochsche Möglichkeitsbegriff korrespondiert mit dem Gegebenen, die von Bloch konstatierte Utopie ist utopisches Moment im Wirklichen. Bloch sehe als Gemeinsamkeit von Lyrik und Utopie, das Ausreizen von Grenzen, dass also beide an den Rand des Möglichen gehen, und somit Perspektiven zu dessen Überschreitung sichtbar machen.

Friedrich Hölderlin ist vielleicht der Dichter, an dem sich ein solches Verhalten am einfachsten darstellen lässt, denn einerseits nimmt er formal am längsten Anlauf, indem er über die klassischen Formen geht, um in einer Gegenwart sich zu entfalten, andererseits aber arbeitete er an einer gewissen Hypostasierung der Dichtung, die sie der Gegenwärtigkeit tendenziell zu entziehen scheint. Explizit entwickelt Hayer eine Betrachtung der Gegenläufigkeit in der Interpretation des hymnischen Textes „Brot und Wein“:

„Was im Werden befindlich ist, fordert aktive Gestaltung, beflügelt durch den hymnischen Ton. Nur so wird der Kern der utopischen Methode überhaupt abgrenzbar gegenüber dem bloßen Verlauf der Zeit.“

Wenn ich meine Lektüren an Rilke, und vor allem die Duineser Elegien erinnere, dann werden mir Momente des Verstellten sichtbar. Ein uneingelöstes utopisches Vermögen.
      Hayer hingegen findet das utopische Moment Rilkes im Dialogischen, was, wenn man in dieser Hinsicht die Lektüren erneuert, unmittelbar einleuchtet.

„Daraus ergibt sich insbesondere in Rilkes Spätwerk die spezifische Form des Poetischen in der Moderne, welche die Brüche und die Suche nach der Heilung derselben miteinander verbindet.“

Fraglich bleibt, ob nach dem deutschen Faschismus und dem Holocaust eine Heilung überhaupt möglich ist. Entsprechend formuliert sich auch die Frage nach einem utopischen Moment bei Celan.

„Die Geschichte verliert aufgrund der historischen Kontamination ihre Reinheit, weswegen die Gedichte Celans so beharrlich um das unmögliche Auffinden eines Ursprungs ringen.“

Wir befinden uns am Anfang der Reformulierung einer Utopie, deren Gelingen nicht feststeht. Und dennoch ist das Festhalten am Unmöglichen vielleicht unsere Überlebenschance.


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