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Bernd Lüttgerding: Straßenlaternen

Montags=Text
Bernd Lüttgerding
Straßenlaternen


Wenn in einer diesigen, fast regnerischen Nacht sich Straßenlaternen knirschend aus dem Grund erheben und aufsteigen wie lautlose, träge Raketen, dann braucht es keine heroische Entschlusskraft, sondern es reicht der unvermittelte, wahrscheinlich aber lange schon schwelende Wunsch, sich selbst mit einer Entscheidung zu überraschen, indem man den verzinkten Mast anspringt und sich an ihm festklammert.
    Springen darf man allerdings nicht zu früh, nicht bereits, wenn die Laterne mit leisen Vibrationen ihre Verankerung lockert. Selbst wenn sie schon erste Zentimeter gestiegen ist, kann sie noch durch plötzliches Zusatzgewicht veranlasst werden, zurückzusacken, und man gäbe ein zweifelhaftes Bild ab, im feinen Regen, auf dem nächtlichen Boulevard, mit Armen, Schenkeln und beflissen in einander verhakten Füßen, zudem mit steigenslüsternem Gesichtsausdruck einen Laternenpfahl umklammernd, der steht und leuchtet, wie sie alle immer stehen und leuchten.
      Am besten wartet man, bis der Sockel fast aus dem Grund aufgetaucht, aber nicht, bis die Stromzufuhr der Natriumdampf-Leuchte gerissen ist. Sind Bäume in der Nähe, gilt es aufzupassen, dass man nicht von den Zweigen, durch die man hinaufgleitet, abgestreift wird.
       Dann steigt man in steilem Parabelbogen und kann eventuell unter der Achselhöhle hindurch einen Blick auf kleiner werdende Andeutungen von Baumkronen, im Tropfengestöber verschmierte Lichter und in das Dunkel werfen, in dem man Dächer errät, denn wenn die Straßenlaterne erst den Scheitel ihrer Flugbahn erreicht hat, bringt man vor Kälte seine zusammengekniffenen Lider kaum noch auseinander. In der Regel sind an diesem Punkt sogar die Wimpern gefroren und man ist ganz mit Rauhreif bedeckt.
      Tritt der Fallflug ein, darf man sich von der scheinbaren Schwerelosigkeit nicht zum Lockern der Umklammerung verleiten lassen, denn der Laternenmast nähert sich der Erde wieder beinahe so behutsam, wie er ihr entstiegen ist, während ein Sturz ohne ihn alle Vorhersehbarkeiten eines Sturzes aus großer Höhe zur Folge hätte. Wenn der Mast, nahezu senkrecht, aufkommt, wobei der Leuchtkopf gewöhnlich abknickt, sollte man sich rechtzeitig seitwärts wegrollen, um nicht mit dem Gesicht voran der Erde entgegen zu schnellen.
     Manchmal kommen sie in den Hintergärten von Villen herunter, wo man durch die Fenster vielleicht ein Kaminfeuer flackern sieht, aber die Hunde nachts frei herumlaufen. Meistens landen sie an den Böschungen hinter der Ringautobahn, auf den Schienenfeldern eines stillgelegten Güterbahnhofs, oder in den Äckern hinterm Universitätsklinikum, von wo der Heimweg dann recht weit ist.


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