Bernd Leukert: erben des verschiedenen
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Alexandru Bulucz
Bernd
Leukerts „erben des verschiedenen“
Ein
literarisches Supplement zu Diderots und d’Alemberts Encyclopédie
Wie dem Grundgesetz ist
den acht Kapiteln von Bernd Leukerts „erben des verschiedenen“ eine Präambel
mitgegeben. Doch sie dient nicht dazu, einen „Basiskonsens“ zu besiegeln. Das
altbekannte, spätestens mit Ferdinand de Saussure zur Prominenz gelangte Missverhältnis
zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem ist auch hier Anlass dafür, die Sprache
als Mittel der Verständigung zu irritieren. So dass der Permanenz, in der Sinn
gestiftet wird, um „Welt wahrnehmen zu können“ oder „parabolische Darstellungen“
zu verstehen, zu denen auch die „erben“ gehören, eine klare Absage erteilt ist.
Denn „wir verstehen sie individuell unterschiedlich und können sie deshalb
einander nicht erklären“.
Nach der Lektüre der Präambel ist die Sprachirritation nicht gleich offenkundig, ist sie doch als eine Erzählung gekleidet, zu deren Schwester Hans Erich Nossacks „Unmögliche Beweisaufnahme“ gehören könnte. Auch sie eine kafkaeske Parabel des Aneinandervorbeiredens: Ein Versicherungs-angestellter muss sich wegen des spurlosen Verschwindens seiner Frau vor Gericht verantworten, aber der Gegenstand der Gerichtsverhandlung büßt mit jedem Redebeitrag der Beteiligten (Angeklagter, Richter, Anwälte) immer mehr an Relevanz ein. In den Mittelpunkt der Verhandlung rücken Sprache und Kommunikation selbst.
Leukerts Präambel setzt ebenfalls mit einem spurlosen Verschwinden ein: „Jetzt vertraut mir ein betagter Bekannter an, daß sein engster Freund seinen Weg aus dieser Welt durch den Spiegel genommen habe. Sogar spurlos. Der Spiegel habe danach nicht einmal poliert werden müssen.“ Was den beteiligten Erzähler auf den Gedanken bringt, er könnte den Spiegel „als sauberste, humanste, preiswerteste und umweltfreundlichste Weise des Ablebens“ zum Patent anmelden und zum „Produktionsmittel“ machen. Nur würde er damit in Marktkonkurrenz mit der „Vereinigung der Sargtischler, der Pietäten genannten Begräbnisunternehmer und der Friedhofsbetreiber“ treten und deren mörderischen Zorn auf sich ziehen. Gedankenspiel, das zu komischsten und der Absurden Literatur zu rechnenden Spekulationen über das potenzielle Vorgehen dieser Vereinigung anregt: zum Beispiel zum Herbeiphantasieren einer Krisenkonferenz auf der unrühmlichen, während des Nationalsozialismus nach Plänen des Architekten Hermann Alker erbauten Heidelberger Thingstätte. Freilich lässt sich dieser Teil der „erben“ nicht zuletzt als eine Parabel auf die mörderischste Zeit in der deutschen Geschichte lesen. Wendungen wie „freischaffende Mörder“ oder „mörderische Industrie“ gehören zu den Indizien dafür.
Und wie bei Nossack nimmt das Imaginierte die Form eines Falles an: „Vielleicht rührt ja der juristische ‚Fall‘ auch vom Fallen her, der Aufsteiger ist möglicherweise nicht justiziabel. Denn der Aufsteiger erklimmt mühsam die Stufen seiner Mißerfolge, die insgesamt eine Himmelsleiter ergeben. Wer es geschafft hat, hat nur Katastrophen hinter, beziehungsweise unter sich. Das ist nicht nur ein erhabenes, sondern ein erhebendes Gefühl.“
Erst nach der Präambel lässt Leukert so richtig die kommunikativen Hüllen fallen. Der außerliterarischen Permanenz, in der Sinn – auch literaturkritischer Sinn – gestiftet wird, setzt er die Permanenz des auf die Spitze getriebenen Sprachwitzes entgegen. Platz findet dabei so ziemlich jede (klangliche) Wiederholungsfigur, und von einer Scheu vor Wortspielen und Kalauern ist wahrlich nicht zu sprechen. Ganz im Gegenteil: Leukert gehört zu einigen wenigen, die in ihrem Werk in voller Absicht einer konzisen Poetik des Wortspiels und des Kalauers schreiben. Doch der Wortwitz dient nicht selten als mnemotechnische Merkhilfe von Definitionen, Einsichten, Erkenntnissen: „Daß dem Wasser eine konvertierende Kraft innewohnt und dem Öl eine konservierende, markiert das A und O eines Christenmenschen.“
Und wenn Leukert gegen die „zeitgenössischen Kritiker“ austeilt, weiß er, was er tut, ist er doch selbst ein seit Jahrzehnten erfolgreich agierender, ausgezeichneter Musik- und Literaturkritiker: „Und selbstverständlich sind die zeitgenössischen Kritiker, deren starrer Blick auf die Bestenlisten kein Derivat duldet, so beherzt, wie sie nur sein können. Selbstverständlich schreiben sie, schon seit seiner Geburt sei der Autor anachronistisch; so etwas könne man heute nicht mehr machen. Selbstverständlich schreiben sie, das sei Kitsch, ein Kalauer, nicht relevant, verquast, unverständlich und gegen die Leserschaft geschrieben, hoffnungslos konservativ, wechselweise debilromantisch oder gar avantgardistischblutleer.“
Nun hat sich der Rezensent schon verraten: „Kalauer“ musste er sagen, denn er fand kein passenderes Wort, um Leukerts Poetik zu beschreiben. Aber „Kitsch“, „nicht relevant“, „unverständlich“, „gegen die Leserschaft geschrieben“, „hoffnungsvoll konservativ“, „debilromantisch“, „avantgardistischblutleer“ – dies zu behaupten, würde er nicht wagen. Ganz im Gegenteil. Er darf allerdings „verquast“ sagen, aber auch nur, weil er es in einem positiven Sinn der Literaturproduktion meint: Leukerts „ich“, Leukerts „wir“ – es durchläuft nämlich unzählige Etappen der okzidentalen Geistesgeschichte und setzt sie in überraschenden Konstellationen miteinander ins Verhältnis. Es sind geographische, philosophische, theologische, musikologische und kinematographische „Kreuzundquergeschichten“, wiedergegeben in Kreuzundquerverweisen, die sich zu einer Art literarischem Supplement zu Diderots und d’Alemberts „Encyclopédie“ kompilieren: „Denn wir haben das Dauerlos gezogen und werden vom entsetzten Engel der Geschichte hin und her und kreuz und quer durch dieselbe getragen.“
Verquast sind die „erben“ also nur in dem Maße, in dem sie in ihrer exzessiven „Selbstbespiegelung“, in der sie sich auf Schritt und Tritt und Wort selbstbeobachtend folgen, dem Gossip der okzidentalen Geistesgeschichte ein „infernalisches Klangwerk“ abgewinnen. Und hier und da nimmt es sogar von ausdrücklichen Gossip-Markierungen seinen Anfang, wie: „ich schweife ab“ oder „wir sprengen wieder einmal den verborgenen Erzählfluß und springen hier, ohne der Gegenwart zu entkommen, kapriziös durch die Jahrhunderte“. Und wer mehr über die poetischen Energien und die feministischen Dimensionen, die Gossip freizusetzen vermag, erfahren möchte, der lese den kürzlich erschienenen Aufsatz „Etymologischer Gossip im Gedicht“* von Uljana Wolf.
Solche Gossip-Markierungen sind ein weiteres Indiz dafür, dass Leukerts poetische und poetologische Prosa es nicht primär auf Sinnstiftung abgesehen hat. Also lässt sich die Kategorie der (Un-)Verständlichkeit nur unter großen Vorbehalten darauf applizieren. Mehr als alles andere findet hier das Literatur-„Machen“, das Literatur-„Konstruieren“ selbst Eingang in die Literatur: „Sultan kommt mit Sultanine, Mandarin mit Mandarine, Mandel mit der Mandoline, Kanonikus mit der Haubitze, ein Berber mit der Berberitze, ein sanfter Sarde mit Sardelle, Salomon mit Salmonelle, der Patron mit der Patrone, und die Biene mit der Drohne, der Marquis mit der Markise, ein Abszeß mit der Abszisse, Otto mit der Ottomane, Kurti mit der Kurtisane, eine Motte mit Motette, Marion mit Marionette, und vor Beau und der Rivage kommt der Korse mit Korsage.“ Diese Passage ist ein schlagendes Beispiel für die potenziellen Arten und Weisen der Literaturgenese. Literatur – das kann ein Alphabet jener Assoziationen sein, die sich auf den Wortklang und die morphologische Wortstruktur zurückführen lassen.
Doch ein solches literarisches (und besser) spekulatives Alphabet kennt weder eine Reihenfolge noch eine Gesamtheit. Es steht der Normativität, sagen wir, des lateinischen Alphabets und der Geschichtsfinalisierungstendenzen, sagen wir, von Enzyklopädien diametral entgegen. In der Kreativität und der literarischen Freiheit, auf denen es fußt, ist es unendlich. In seiner unendlichen Flexibilität ist es der natürliche Feind jener, die auch die Literatur in dem Sinn eines Endes der Geschichte erschöpft sehen. Und auch das ist in den „erben“ selbstreflexiv bedacht. So zum Beispiel, wenn Wendungen wie „bewegliches Ziel“ oder „unbekanntes Ziel“ eingestreut werden. Und wenn ein „wir“ am Ende des Bandes über den Sinn, über das Ziel hinausschießt („Das Ziel unserer Bewegung liegt hinter uns.“), dann weiß es, dann wissen wir, dass Literatur in der Pflicht steht, zu weit zu gehen, dass sie Übertreibung zu sein hat, Überschuss, das gewisse Extra …
Ein einziges Mal kommen die „erben“ vor, im letzten Kapitel: „Alles, was wir wissen, ist, daß wir die Erben des Verschiedenen sind. Niemand weiß, was auf uns zukommt. Vielleicht sind es nur Schulden – oder wenigstens Schuld.“ Aber sie tauchen ja unzählige Male in den Variationen eines anderen Wortes auf: in „sterben“. Weil man das weiß, wird man den Titel immer auch als ein „sterben/ aussterben des verschiedenen“ lesen. Weil auch Leukerts Band in der Zeit und somit im Zeitgeschehen steht, ist er in seiner Erinnerung daran, dass Vielfältigkeit und Diversität zu respektieren und zu bewahren sind, ein höchst politischer: „So wandern wir zu Fuß über elysische Felder, in denen surreal das Zusammengehören des Fremden zusammengeträumt ist.“ Und: „Die Innigkeit meint kein Verschmelzen und Verlöschen der Unterscheidungen. Innigkeit nennt das Zusammengehören des Fremden.“
Natürlich, als Erben des Verschiedenen können wir als Eklektizisten aus dem Vollen, aus der reichen Tradition der Geistesgeschichte schöpfen. Doch das führt nicht automatisch dazu, dass wir in dieser Erkenntnismethodik auf der Stelle treten. Das eklektizistische, das surreale Zusammenträumen des Fremden ist jedes Mal einzigartig und bietet durch ungeahnte Aspektverknüpfungen jedes Mal neue Perspektive auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Leukerts Toten-, Geistergespräche mit ihren „verborgenen Erzählfüssen“, die zum Teufel („Und wir sind jetzt endlich beim Teufel“) und anderswohin führen, sind nicht nur klug, gelehrt und urkomisch, sondern in ihrer Substanz vor allem einem aktualisierten humanistischen Gedanken verpflichtet, in dem Menschlichkeit an oberster Stelle steht. Und das Besondere an der Erscheinung der „erben“: Es ist das literarische Debüt des Bernd Leukert, Jahrgang 1947. Es ist ein glänzendes Debüt. Wir – wir also sind die glücklichen Erben seiner eigenen Geduld.
* In (Michael Braun, Hans Thill:) Aus Mangel an
Beweisen“. Deutschsprachige Lyrik des 21. Jahrhunderts. Das Wunderhorn, 2018. S. 266 – 282.
Bernd
Leukert: erben des verschiedenen. Frankfurt am Main (gutleut Verlag – reihe licht
[band 3]). 2018. 60 Seiten. 20,00 Euro.